Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Neue Entdeckungen aus Norwegen

Lawo, LWC1097; EAN: 7 090020 181097

Neue Lieder aus Norwegen tragen Marianne Beate Kielland (Mezzosopran) und Nils Anders Mortensen (Klavier) auf ihrer CD „The New Song“ für Lawo vor. Zu hören sind LiebesKleineLieder von Helge Iberg, …As the Last Blow Falls… von Henrik Hellstenius, Brahmanische Erzählungen von Håvard Lund und Gruk pour soprane et piano Op. 53B von Edvard Hagerup Bull.

Formale Grenzen scheint es in unserer Zeit in der Musik kaum noch zu geben, frei nach dem Motto: Alles ist erlaubt. Doch dessen ungeachtet existieren gerade auf dem europäischen Kontinent eine Vielzahl von Schulen und Traditionslinien, die erschreckend oft noch immer in der Avantgarde der 1960er-Jahre stecken geblieben und nicht über die Zeit der hochkomplexen Diskontinuität hinweggekommen sind, diese auch nach knapp sechzig Jahren noch als modern vergöttern. In den skandinavischen Ländern ist man hiervon oft erfrischend unbeeindruckt, hier steht der Individualstil über normativen Gesetzen, wie denn Musik heute zu sein habe (denn auch die Maxime, Musik müsse „modern“ sein, ist eine Begrenzung). Die nordischen Länder verfügen heute über eine Vielzahl herausragender Individualisten, die ihre eigenen Ideale verfolgen, die sich nicht selten in jedem Stück neu erfinden und die doch auch freundschaftlich nebeneinander stehen, ohne die Hörer oder Studenten in ihr Lager zu treiben zu versuchen. Vier beeindruckende Beispiele von „neuen“ Liedern bietet vorliegende CD, drei davon Kompositionsaufträge für diese Einspielung.

Staunen lässt der Text-Musik-Bezug in LiebesKleineLieder von Helge Iberg nach Texten von Erich Fried. Durch Wiederholungen schafft Iberg einen eigenständigen Ausdruck, antwortet zum Teil auf unklar gelassene Aussagen im Text (wie in „Was es ist“: Es bleibt offen, was „es“ nun ist, ob Unsinn, Unglück oder Schmerz etc. – die von Iberg eingefügte Textwiederholung am Ende antwortet ausdrücklich: Liebe) oder schafft einen neuen Sinn (so in „Aber wieder“). Die Klavierbegleitung bewegt sich oft in sparsamen Patterns, die allerdings immer wieder durch textausdeutende Momente durchbrochen werden, ebenso die weit ausgenutzte Singstimme, welche gerne auch einmal in eine Sprechstimme übergleitet. „…As the Last Blow Falls…“ von Henrik Hellstenius nach einem Text von Theodor Storm ist eine groß angelegte Phantasie zwischen englischer und deutscher Sprache. Die zusätzlich agierende Rezitation, die der Komponist selbst gesprochen hat, schafft eine dritte Ebene in diesem Werk. Dies ist das wohl experimentellste Werk der CD, immer unerhörtere Klang- und Geräuschsphären erreicht Kielland mit ihrer Stimme. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen den Extremen, dem auf einer subtiler wahrzunehmenden Ebene eine langsame Metamorphose übergeordnet ist. Balladeske Liedkompositionen sind die „Brahmanischen Erzählungen“ nach Friedrich Rückert von Håvard Lund. Die Musik folgt dem großartigen Text und gibt diesem Bedeutung, unterbrochen nur durch kurze melismatische Kontrastpassagen (in „Ein Bettler in Schiraz“ eingeschoben, in „Der abgebrannte Bart“ ganz am Ende, wo sich mir der Sinn allerdings noch nicht erschlossen hat). Edvard Hagerup Bull ist der einzige Komponist auf dieser CD, der nicht mehr lebt und dessen Musik hier nicht auf deutsch gesungen wird, sondern auf dänisch, wie dies die Textvorlage Piet Heins vorgab. Vielleicht ist es aber gerade dieser Komponist, der die größte Entdeckung dieser Einspielung ist. Obgleich er sowohl mit Edvard Grieg als auch mit Ole Bull verwandt war, hat seine Musik eigentlich nichts mit den beiden Meistern zu tun, viel eher ging es Hagerup Bull um eine enorme Verdichtung und Ver-Wesentlichung der Musik auf das Nötigste, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der kargen Tonsprache von Anton Webern (wobei sich Hagerup Bull trotz aller harmonischen Komplexität nicht der Dodekaphonie oder anderen beschneidenden Regelwerken unterordnete), und natürlich ursprünglich auch einmal geprägt von der raffinierten Bitonalität seines Lehrers Darius Milhaud. Die fünf Gruk sind kleine Perlen faszinierendster Tonsprache, die sich einer Beschreibung effektiv entziehen.

Marianne Beate Kielland besticht mit einer markanten, angenehm rauen, düster-„nordischen“ Stimme mit enormer klangfarblicher Variabilität. Bis in die äußersten Lagen ihrer Stimme bleibt sie klar und präzise intoniert, verliert auch in Extremsituationen nie die Kontrolle. Nils Anders Mortensen begleitet zurückhaltend und lebendig, beinahe improvisatorisch spontan. Die beiden Musiker sind blendend aufeinander angestimmt.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Ebenso solide wie unspektakulär

Leoš Janáček: Orchestersuiten aus Jenůfa, Kátia Kabanová und Osud („Schicksal“)
Prague Radio Symphony Orchestra – Tomáš Netopil

Label: Supraphon (Vertrieb: note1); Art.-Nr.: SU4194-2 / EAN: 099925419424

Eine neue CD des wunderbaren Labels Supraphon aus Prag stellt drei Orchestersuiten aus Opern Leoš Janáčeks vor. „Moment mal!“, denkt sich da der geneigte Janáček-Fan: Janáček hat ja aus seinen drei Opern Jenůfa, Kátia Kabanová und Osud („Schicksal“) gar keine Suiten ausgekoppelt. Kein Problem, denn das haben andere erledigt: Osud hat František Jílek zusammengestellt, Kátia Kabanová Jaroslav Smolka und als jüngstes Beispiel für diese Art der Janáček-Opernmusik-Zweitverwertung hat sich der Dirigent Manfred Honeck der Oper Jenůfa angenommen, deren Orchestersuite er zusammen mit Arrangeur Tomáš Ille verwirklicht hat.

Man mag zu dieser Herangehensweise stehen, wie man will. Fakt ist: Sie macht auf kompakte und recht unterhaltsame Art Musik Janáčeks zugänglich, die sich sonst als Intermezzo oder kurzes Verbindungsglied in den Weiten großer Opernpartituren verbirgt und im großen Werkzusammenhang eines Bühnenstücks manchmal ein Schattendasein fristet.

Die noch stark spätromantisch angehauchte Jenůfa bietet – sicherlich auch dank ihres dörflichen Sujets, in dem es vor Anklängen an die tschechische Folklore nur so wimmelt – reichlich musikalisches Material, das sich gut für eine Suite eignet. Die von Honeck und Ille unterbrechungsfrei angelegte musikalische Sause vollzieht allerdings manch ungelenke Wendung, die wohl daher rührt, dass man sich bemühte, möglichst wenig Musik hinzu zu komponieren, um die einzelnen Teile miteinander verbinden zu können. Ille hat die Suite zwar nicht chronologisch angelegt, sondern in Art einer musikalischen Collage, trotzdem gelang es nicht vollauf überzeugend, ein musikalisches Konstrukt, ein großes Ganzes, zu bilden, das man als eigenständiges Werk schätzen kann.

Die Oper Kátia Kabanová wurde erst spät durch Charles Mackerras in ihrer originalen Form samt den verschollen geglaubten Orchester-Intermezzi auf die Bühne gebracht. Suiten-Arrangeur Jaroslav Smolka hat diese Intermezzi offenbar noch nicht gekannt und konzentrierte sich auch auf solche Teile der Oper, bei denen in der Suite die Trompete den Gesang substituiert. Das Ergebnis wirkt sehr atmosphärisch und durchaus überzeugend. Nach heutigem musikwissenschaftlichen Standard verzichtet die Suite aber auf reizvolles Material. Und so müsste man im Prinzip eine Suite zu dieser Oper heute ganz neu zusammenstellen.

Osud („Schicksal“) wurde zu Janáčeks Lebzeiten als zu komplex für die Bühnenaufführung empfunden (einmal ganz abgesehen davon, dass auch das Libretto seinerzeit verstörte, das sich unter anderem mit den Themen Prostitution und Selbstmord beschäftigt). Die Oper kam erst 30 Jahre nach dem Tod des Komponisten durch den Dirigenten František Jílek zur Aufführung. Jener bearbeitete das Werk wohl ziemlich freimütig und schichtete ganze Etappen des Handlungsverlaufs um. Dies bot ihm quasi „nebenbei“ eine ideale Grundlage für die Zusammenstellung der hier zu hörenden Suite, die – das hört man ziemlich schnell – der überzeugendste Beitrag auf der vorliegenden CD ist, wenn man einmal von dem ziemlich überraschenden, völlig abrupt einsetzenden Schluss absieht, bei dem man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass da etwas „fehlt“.

Die Leistung des Prager Radio-Sinfonieorchesters ist auf diesem Album im Prinzip solide und ohne Tadel, lässt es aber – womöglich auch aufgrund der etwas holzschnittartigen Einstudierung durch Tomáš Netopil – zuweilen an emotionalem Zugriff vermissen. Die deftigen Sachen wünschte man sich deftiger, die zarten Sachen zarter, die heiteren Sachen heiterer, das Gewitter aus Osud bedrohlicher, usw. Der etwas weitschweifige Booklet-Text erzählt viel über die Opern, aber frappierend wenig über die Entstehung der hier zu hörenden Suiten, die ja doch im Zentrum dieses Albums stehen. Wenn es ein Schulaufsatz wäre, würde mal wohl sagen: „Am Thema vorbei“. Die Klangqualität der Aufnahme von den Tonmeistern des tschechischen Rundfunks ist ebenso solide (aber zugleich auch ebenso unspektakulär) wie die gesamte Produktion. Fazit: Ein Album, das wohl vor allem die ganz eingefleischten Janáček-Jünger brauchen, die alles andere schon haben.

[Grete Catus, Dezember 2016]

Konzerte und Quartette

Naxos, 8.573666; EAN: 7 47313 36667 5

Die beiden Klavierkonzerte in c-Moll op. 35 und in F-Dur Op. 102 von Schostakowitsch spielt Boris Giltburg gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko, die Solo-Trompete im ersten Konzert übernimmt Rhys Owens. Des weiteren sind von Giltburg Arrangements des achten Streichquartetts c-Moll Op. 110 und des Walzers aus dem zweiten Quartett Op. 68 für Klavier solo zu hören.

Nach drei recht erfolgreichen Solo-Aufnahmen spielt Boris Giltburg nun mit einem Orchester. Da es erst vor kurzem eine Gesamtaufnahme aller Schostakowitsch-Symphonien abgeschlossen hat, ist das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko geradezu prädestiniert, mit dem zum Star aufsteigenden Solisten die beiden Klavierkonzerte des russischen Meisters einzuspielen.

Im Vergleich zu der vorausgegangenen Rachmaninoff-Einspielung hat Boris Giltburg an Weichheit und Flexibilität gewonnen, das Forte ist wesentlich voluminöser. Und gerade die zarten und lyrischen Passagen konnte der in Moskau geborene Pianist nun für sich erschließen, tragfähige und zeitgleich zerbrechliche Kantilenen sind der Beweis. Trotz dessen erscheinen die Tempi gerade im ersten Konzert etwas sehr rasch. Jedoch verliert Giltburg durch extreme Willkür in oftmals unstimmigen Rubati den Fluss (plötzlich eilt die Musik davon, dann bleibt sie wieder stecken) und somit das kontinuierliche Precipitato-Feeling, das die Musik Schostakowitschs so mitreißend macht – wobei dieses in Ansätzen durchaus vorhanden wäre, aber eben nicht mit der charakteristischen Konstanz.

Das Orchester blüht vor allem im zweiten Klavierkonzert auf, das allgemein plastischer entsteht als das erste. Vasily Petrenko gibt seinem Klangkörper einen markanten, rhythmisch prägnanten Charakter, der ihm nicht aus dem Ruder läuft. Im zweiten Konzert gelingt Petrenko eine herrlich polyphone Gestaltung des Orchesterapparats, die Unterstimmen erhalten volles Mitspracherecht, ergeben somit eine vielschichtigere Färbung. Auch im ersten Konzert fasziniert allgemein eine plausible Linienführung, lediglich der langsame Satz verliert bei allen Beteiligten an Fokus und Richtung, verläuft sich in Richtungslosigkeit. Rhys Owens brilliert in der hohen Lage seines eigenwilligen Trompeten-Soloparts (welch eine Besetzung!), in der Tiefe sticht er durch einen rauh-blechernen Ton hervor, der einen ganz eigenen Charme besitzt.

In den Arrangements des achten Quartetts sowie des Walzers aus dem zweiten Quartett bleibt Giltburg dem Original verpflichtet, sowohl als Arrangeur wie auch als Pianist. Es klingt alles sehr nach der Streicherbesetzung, die er in einer Person zu ersetzen versucht. Auch wenn einige Passagen deutlich nach echtem Streicherklang verlangen, funktionieren die Arrangements erstaunlich gut und lassen die herrliche Kammermusik nun auch als Solomusik entstehen. Auch das Spiel Giltburgs wird hier auf einmal kammermusikalischer, das Tempo erhält Kontur und die Stimmen spielen polyphoner mit- und gegeneinander, das Gesamte erhält einen deutlicheren einheitlichen Bogen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Music for Yodit

Music For My Love – Celebrating the Life of a Special Woman
100+ New Works for String Orchestra, Volume One

Johannes Brahms / arr. Ragnar Söderlind: ‚Von ewiger Liebe’; Robin Holloway: Music for Yodit; Poul Ruders: Lullaby for Yodit; Mihkel Kerem: A Farewell for Yodit; Andrew Ford: Sleep; Steve Elcock: Song for Yodit, Op. 23; Brett Dean: Angels’ Wings (Music for Yodit); Jon Lord / arr. Paul Mann: Zarabanda Solitaria; John Pickard: –forbidding mourning…; Ragnar Söderlind: ‚Å, den svalande wind…’: 15 Variations on a Norwegian Folk Tune, Op. 120; Maddalena Casulana / arr. Colin Matthews: Il vostro dipartir

Kodály Philharmonic Orchestra (Debrecen), Paul Mann

Toccata Classics, TOCC CD 0333 (EAN: 9060113443335)

Eigentlich hätte die Albumserie ‚Music for Yodit’ heißen sollen, doch davon ausgehend, dass dies stets erklärungsbedürftig geblieben wäre, entschied sich Martin Anderson, Labeleigner und künstlerischer Leiter von Toccata Classics, für den Titel ‚Music For My Love’. 2008 hatte er die im eritreischen Asmara geborene Yodit Tekle kennengelernt, und als der gemeinsame Sohn Alex vier Jahre alt war, erfuhren sie, dass Yodit Magenkrebs hatte. Martin bat einige Komponistenfreunde um Stücke zu ihrem Trost, die dann – nach ihrem Tod am 24. April 2015 – zu Gedenkstücken wurden. Vor allem aber war die Reaktion so überwältigend, dass die Zahl der Stücke mittlerweile auf über 100 angewachsen ist, allesamt für Streichorchester – und diese Werke sollen nun also nach und nach alle auf CD erscheinen, in der Serie ‚Music For My Love’, deren erste Folge jetzt vorliegt. Es handelt sich also zugleich um einen einmaligen Akt der Repertoireschöpfung. Das erste Album wird von einem Streicherarrangement des Brahms-Lieds ‚Von ewiger Liebe’ (ohne Gesang) durch den großen norwegischen Symphoniker Ragnar Söderlind eröffnet, der mit 15 Variationen über eine norwegische Volksweise auch das hochdramatisch romantische, so mannigfaltige wie einheitliche Hauptwerk beigesteuert hat. Und Söderlind ist nicht der einzige bedeutende Meister, der hier vertreten ist. Robin Holloway hat ein herrlich herb einprägsames und in der Substanz verdichtetes, sehr poetisches Stück geschrieben, und John Pickard, der große britische Tondichter unserer Zeit, verfasste mit ‚…forbidding mourning…’ ein Meisterwerk  ornamentischer Kontrapunktik, das auch durch seine Geschlossenheit überzeugt. Kleinigkeiten trugen der Däne Poul Ruders und der Australier Brett Dean (sehr apart!) sowie Andrew Ford bei. Der in Tallinn gebürtige Mihkel Kerem hat ein introvertiertes Stimmungsgemälde geschaffen, wie auch Steve Elcock, dessen ‚Song for Yodit’ als erste Gabe entstanden ist. Der Dirigent der Aufnahme, die in Debrecen mit dem Kodály Philharmonic Orchestra gemacht wurde, hat die feierliche ‚Zarabanda Solitaria’ des einstigen Deep Purple-Keyboarders Jon Lord arrangiert, und zum Abschluss erklingt das ergreifende Madrigal ‚Il vostro dipartir’ von Maddalena Casulana (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, gedruckt 1568 in Venedig), der ersten Europäerin, deren Musik einen Verleger fand, in einer schönen Einrichtung von Colin Matthews. Die Zusammenstellung ist sehr gelungen, einige der Werke sind eine echte Bereicherung für die reiche Literatur für Streichorchester. Die Aufnahmen und die Klangqualität sind ordentlich, das Booklet ist sehr informativ. Ein wirklich gelungener, berührender Beginn einer Serie, die nicht nur aufgrund ihrer Entstehungsumstände weithin Beachtung verdient – und Martin Anderson beweist auch hier einmal mehr, dass er es versteht, das unmöglich Scheinende möglich zu machen, dank der Wertschätzung, die die Komponisten ihm persönlich und seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Entdecker, Produzent, Enthusiast, Kritiker und Verleger entgegenbringen.

[Christoph Schlüren, Dezember 2016]

Gelungene Zusammenstellung gewichtiger Werke

Colin Matthews: Violinkonzert, Cellokonzert Nr. 2, Cortège
BBC Symphony Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra, Riccardo Chailly, Oliver Knussen, Rumon Gamba, Anssi Kartunen (Violoncello), Leila Josefowicz (Violine)

Label: NMC Recordings (Vertrieb: note1), 2016; Art.-Nr.: NMC D227 / EAN: 5023363022729

Colin Matthews ist in Großbritannien schon seit den 1980er-Jahren eine zentrale Gestalt des Musiklebens. In Deutschland ist er vor allem durch seine „Fortsetzung“ von Gustav Holsts „Die Planeten“ bekannt, die er musikalisch um „Pluto“ bereicherte – …dessen astronomische Degradierung zum Zwergplaneten seit den 2000er-Jahren allerdings auch dazu führte, dass Matthews‘ Musik-Pluto heute wieder seltener im Zusammenhang mit Holsts berühmter Planeten-Suite zu finden ist, als noch in den 1990ern, als fast jede damalige Neueinspielung auch Matthews‘ „Pluto“ als Bonustrack anbot.

In Großbritannien ist Matthews nicht nur als Komponist sehr bekannt (er studierte u.a. bei Nicholas Maw und Benjamin Britten), sondern auch als Produzent von Tonaufnahmen. Neben seiner Tätigkeit für namhafte Labels wie Deutsche Grammophon, Warner, BMG, Metronome, Elektra und einige andere hat er auch sein eigenes Label NMC Recordings gegründet, das vor allem britische Komponisten der jüngsten Moderne vorstellt. Dabei folgt das Label einem interessanten Geschäftsmodell, denn neben dem üblichen freien Verkauf über den stationären und den Online-Handel kann man die CDs von NMC auch preisreduziert abonnieren. Dass es sich beim Booklet stets um Digitaldruck handelt und bei der CD meist um eine in Manufacturing on Demand-Technik hergestellte Kleinstauflage verwundert nicht weiter, denn immerhin geht es hier um Musik, die oft erst wenige Jahre auf dem Buckel hat und um Komponisten, die selbst im Heimatland noch nicht viele Hörer kennen.

Nun hat sich Colin Matthews bei seinem eigenen Label einmal selbst etwas gegönnt: Sein Violinkonzert (entstanden 2007-2009), seine häufig aufgeführte Komposition „Cortège“ (1989) und sein zweites Cellokonzert (1994-1996) sind Thema des neuen Albums, das mit hervorragenden Interpreten aufwarten kann.

Das Violinkonzert etwa wird von der Widmungsträgerin Leila Josefowicz mit dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung Oliver Knussens gespielt. „Cortège“ erklingt gar durch das Royal Concertgebouw Orkest unter Riccardo Chailly. Und das Mstislaw Rostropowitsch gewidmete Cellokonzert gibt Anssi Karttunen zusammen mit dem BBC Symphony Orchestra unter Rumon Gamba. Die allesamt in vorzüglicher Klangqualität aufgezeichneten Einspielungen wurden teils live, teils als Studioproduktionen eingefangen. Wie üblich bei solchen Konstellationen hört man Unterschiede zwischen den einzelnen Aufnahmesessions, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt. Insgesamt ist der klangliche Eindruck den jeweiligen Umständen entsprechend erfreulich gut.

Colin Matthews pflegt einen freitonalen Stil mit manchen grundtonbezogenen Elementen und Einflüssen aus der Dodekaphonie. Seine Art der Komposition kann man einerseits durchaus konservativ nennen, sprüht andererseits aber auch vor unkonventionellen Ideen. Auch ungeübte Hörer der Neuen Musik finden sich mit dem Gedanken wieder: „Damit kann ich etwas anfangen“, und damit hat Colin Matthews sich und seiner Musik über die Jahre ein breites Publikum erobern können. Matthews‘ Musik erinnert nicht selten an die seines verstorbenen Kollegen Peter Maxwell-Davies, ist aber (nach meinem Empfinden) meistens besser komponiert, vor allem auch in Anbetracht der Orchestrierung. Auch Thomas Adès könnte man als Vergleich heranziehen, doch Matthews hat im Vergleich zu Adès keine Minimal Music-Einflüsse, sondern erinnert eher an den Expressionismus der 1920er-Jahre, vor allem an Paul Hindemith oder in seinen Flächen auch an das Werk György Ligetis.

Kurz gesagt: Das ist Musik, die man sich gut und mit Vergnügen anhören kann. Matthews ist keiner der ganz Großen unserer Zeit, aber er ist eine wertvolle Stimme der Neuen Musik auf der britischen Insel mit eigenem Ansatz und einer Gabe, auch solche Publikumsschichten für sich einzunehmen, die sonst nicht viel mit der aktuellsten Musikmoderne am Hut haben. Immerhin: Das ist mehr, als man von den meisten deutschen Komponisten unserer Zeit behaupten kann.

Das Violinkonzert ist ein leidenschaftliches Werk, in dem Solistin Leila Josefowicz fast durchgängig im Einsatz ist. Sie liefert eine Glanzleistung ab und beeindruckt durch ihre Energie und ihren schönen Ton, den sie niemals den großen technischen Herausforderungen, die das Konzert an sie stellt, opfern muss. Das BBC Symphony Orchestra ist ein guter Partner, wirkt aber hier und da leicht „unterprobt“, was sich insbesondere in fransigen Streichern äußert.

Der Klangbolide „Cortège“ ist hier durch Riccardo Chaillys Dirigat zu hören, der damals Chefdirigent des Concertgebouw Orkest Amsterdam war. Entgegen einiger Informationen, die man im Internet findet, handelt es sich bei dieser Aufnahme aus dem Jahr 1998 nicht um die Uraufführung, die bereits zehn Jahre früher durch Bernard Haitink erledigt worden war. Mit seinen wuchtigen Klangclustern und Blechbläser-Crescendi erinnert „Cortège“ an Matthews‘ „Pluto“ und zeigt einen Komponisten, der sich 1988 in einer Art Post-Serialismus-Phase befand. Das Stück ist in jeder Hinsicht beeindruckend und wirkt durch seine gewaltigen Klangmassen fast körperlich spürbar, vor allem dann, wenn man es mit einem der Orchesterperformance entsprechenden Lautstärkepegel hört. Das muss ein Erlebnis gewesen sein, damals im akustisch bekannt grandiosen Concertgebouw mit diesem Top-Orchester (hörbar ein Qualitätssprung zum Sinfonieorchester der BBC!).

Das Cellokonzert beginnt direkt mit dem Auftritt des Solisten und entfaltet gleich einen ganz hinreißenden Charme, der mich wirklich begeistert. Die für Matthews typischen Flächen irisieren in faszinierenden, geradezu Villa-Lobos‘schen Klangfarben und steigern sich immer wieder zu dramatischen, packenden Höhepunkten. Die ebenfalls für Matthews typischen tiefen Blechbläser pusten bemerkenswerte Attacken in den Konzertsaal. Solist Anssi Kartunen geht in dieser Musik voll auf, obwohl dieses schwierige Konzert dem Solisten keine dankbare Bühne zum vordergründigen Brillieren bietet. Immer wieder wird die Solostimme in den Gesamtklang integriert, aus/in dem sie wellenartig auf- und wieder absteigt. Knifflige Doppelgriffe klingen fahl und schmucklos, sind aber höchstwahrscheinlich enorm komplexe Aufgaben für den ausführenden Interpreten. Dieses Stück ist das am meisten beeindruckende auf dieser insgesamt sehr hörenswerten CD, und ich halte es auch für eines der besonders schönen Beispiele dafür, wie ein modernes Cellokonzert heute klingen und aufgebaut sein kann, ohne abgeschmackte Muster zu bedienen und dabei trotzdem vertraut zu wirken.

[Grete Catus, Dezember 2016]

 

Zwischen Kirche und Club

GP ARTS 201; EAN: 4 260213 912019

Arrangements von Dietrich Buxtehudes Präludium in g BuxWV 149, Georg Friedrich Händels Oboensonate c-Moll HWV 366 und Franz Tunders „An Wasserflüssen Babylon“ für Sopransaxophon, Orgel und Live Electronics finden sich neben vier eigenen Werken (teils ebenfalls mit entliehenem Material der Barockzeit) auf der CD buxtehude_21 On The Bridge von Bernd Ruf und Franz Danksagmüller.

Die Faszination der Barockmusik mit neuen Mitteln zu aktualisieren und in der Jetztzeit wirksam zu machen ist das Ziel des Projekts danksagmüller_ruf. Durch vielseitige Arrangements von Buxtehude, Händel und Tunder realisierte das Duo seinen Plan auf der CD buxtehude_21 On The Bridge.

Und tatsächlich schlagen die beiden Musiker eine Brücke zwischen alt und neu, quasi zwischen Kirche und Club – denn es passt in beides, oder doch in keines der beiden? Alleine die Besetzung verwundert: Eines der altehrwürdigsten Instrumente, die Orgel, neben ein Instrument des zwanzigsten Jahrhunderts, das (Sopran-)Saxophon, zu stellen und darüber hinaus mit Live Electronics anzureichern, ist ein recht gewagtes Unterfangen. Dabei reichen die Arrangements von exakt notengetreuer Wiedergabe bis hin zur relativen Unkenntlichkeit der originalen Sätze oder Passagen. Manches wirkt improvisiert, anderes aufwändig „rekomponiert“, die Übergänge zwischen dem einen und dem anderen sind fließend. Das Sopransaxophon übernimmt meist die Solostimme oder eine zentrale Stimme im polyphonen Satz, umspielt aber auch gerne frei die Orgelpartie.

Das klangliche Resultat besitzt eine große Eigenständigkeit, mag sich in keine Schublade so wirklich einordnen lassen. Die barockzeitliche Grundlage bleibt stets erhalten und doch gibt es sogar in den tongetreu gespielten Passagen durch die Besetzung und leichtes Hineinschleifen in die Töne durch das Sopransaxophon eine etwas jazzähnliche Atmosphäre. Manches mutet gar an, als könnte es auf einem „Rave“ mit experimenteller elektronischer Musik erklingen. Die Kirchenakustik von St. Jakobi Lübeck sorgt dabei für eine hallige und großräumige Atmosphäre, die auch auf mittelmäßigen Anlagen durchhörbar bleibt und Platz schafft, der mit dimensionsöffnenden Klängen gefüllt wird.

Bernd Ruf und Franz Danksagmüller offerieren musikalisch feinsinnigen Umgang auf ihren Instrumenten, reflektierte Phrasierung und eine außergewöhnliche Kreativität als Arrangeure und Komponisten. Lediglich die Eigenkomposition „Dow Jones – Danza Infernale“ mit der aufdringlichen Sprecherstimme mag nicht so recht zum Rest passen, sehr beschaulich hingegen „Lullaby for Anna Margaretha“. „BTB – BuxToccataBach“ ist eine herrliche Gegenüberstellung beziehungsweise Vermengung und bietet den strahlenden Abschluss eines spannenden Experiments, das uneingeschränkt empfohlen sei.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Verschlungene Tonalität

Audiomax 707 1979-2; EAN: 7 60623 19792 0

Variationen für Violine, Violoncello und Klavier über Motive aus dem Buch Hiob und eine Auswahl an Liedern von Alexander Asteriades wurden für Audiomax, Musikproduktion Dabringhaus und Grimm von Jörg Gottschick (Bariton), Nicola Birkhan (Violine), Verena Obermayer (Violoncello) und Paul Rivinius (Klavier) eingespielt.

Sich vom Serialismus abwendend, machten es sich einige Komponisten zur Aufgabe, aus der harmonischen Orientierungslosigkeit auszubrechen und zur Tonalität zurückzukehren, dieser allerdings ein neues Gesicht zu verleihen zu versuchen und einen eigenen Zugang zu ihr zu finden. Der kürzlich verstorbene Einojuhani Rautavaara gilt mit seinem ersten Klavierkonzert als Vater des so genannten Postserialismus, zu dem auch der viel unternommene Versuch gehört, eine individualisierte Tonalität zu kreieren. Zu den bedeutendsten Namen dieser postmodernen Tradition zählt hierzulande neben Willhelm Killmayer auch der 1941 geborene Alexander Asteriades, von dem hier eine Auswahl von Werken in der Besetzung für Klaviertrio sowie für Bariton und Klavier vorliegt.

Asteriades schafft eine bei aller Schlichtheit recht verschlungene Harmonik, die keine eindeutig-klaren Pfade verfolgt. Es schlängelt sich ein ständiger Fluss durch die Werke, der klare Konturen nicht entstehen lässt. Oft entstehen somit zwiegespaltene Klangkonstellationen, die etwas Unruhiges und Unstetes haben, sich nicht festlegen wollen. Konsonanz und Dissonanz stehen gleichwertig nebeneinander, harte Dissonanzen werden vollständig in die Musik integriert und verlieren durch die dadurch entstehende Gewöhnung an sie ihre grelle Wirkung, wirken als vollkommen natürlicher Bestandteil. Gewissermaßen entzieht sich die Musik den allgemeinen Beschreibungen für Musik, sie entleiht sich Grundlagen aus verschiedensten Traditionen und schafft etwas Eigenes, das in keine bisher musikwissenschaftlich erforschte Schublade so recht passen mag, viel eher zwischen diesen steht.

In dieser verschlungenen Tonalität geht aber auch der Hörer recht schnell verloren, die Musik fließt eher am Hörer vorüber als dass er ihr folgen könnte. Gerade die Variationen für Klaviertrio laufen so schnell Gefahr, in ihrer Form nicht verstanden zu werden, da sich eine Gleichgültigkeit beim Hörer einstellen kann, der der „simplen Komplexität“ nur schwerlich zu folgen vermag. In den Liedern wird durch den Text ein klarere Orientierung geboten, wodurch auch die harmonischen Verästelungen leichter nachvollziehbar werden.

Doch nicht nur für die Hörer scheint die Musik undurchsichtig, auch die Musiker sind vor allem im Trio etwas im Nebel gefangen. So stellt sich bald eine gewisse Gleichförmigkeit ein, die dynamische Ausgestaltung der Melodik ist recht flach, die harmonische Spannung bleibt teils in Gänze außen vor, zu sehr vermischt sich Spannung mit Entspannung. Es entstehen traumhafte und atemberaubende Momente, doch der Kontext lässt diese Augenblicke unorganisch im Raum stehen, und die hinreißende Wirkung ist ebenso schnell wieder verflogen. Am überzeugendsten gelungen ist „Ein Winterabend“ aus den drei Liedern nach Gedichten von Georg Trakl, hier findet Asteriades ein angenehmes Gleichgewicht in seiner Tonalität, und auch die Musiker glänzen mit einer freien Natürlichkeit.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Bachs meisterliche Übungen

Sono Luminus, DSL-92209; EAN: 0 53479 22092 9

Die sechs Partiten Johann Sebastian Bachs BWV 825-830 erschienen in einer neuen Einspielung mit Jory Vinikour am Cembalo auf drei CDs bei Sono Luminus.

Sie stellen den ersten Teil der Clavierübungen von Johann Sebastian Bach dar, setzen gleichsam die Zyklen der Französischen und der Englischen Suiten als dritte Sechsergruppierung fort: Die Partiten BWV 825-830. Es handelt sich jeweils um große  sechs- bis achtsätzige Tanzsuiten für ein solistisches Tasteninstrument, denen im Gegensatz zu den Französischen Suiten allesamt ein Einleitungsstück vorangestellt ist. Die Sätze sind ausnahmslos in vollster Reife und Meisterschaft gesetzt, von gebündelter Kompaktheit, unausweichlicher Folgerichtigkeit und absoluter Klarheit, vollendeter Ausgeglichenheit und Perfektion. Die dabei an den Ausführenden gestellten Anforderungen sind enorm, übertreffen insgesamt sogar noch diejenigen der Englischen Suiten. Dabei ist Bach nicht einmal auf einen drei- oder mehrstimmigen Satz angewiesen, sogar die zweistimmigen Tänze gehen an die Grenzen des musikalisch Korrelierbaren.

Auf einem zweimanualigen Cembalo spielt Jory Vinikour den gesamten gut zweieinhalbstündigen Zyklus. Es gibt nur sehr wenige Gestaltungsmöglichkeiten auf diesem gezupften Saiteninstrument, und es fehlt dennoch nichts, den großformatigen Werken zu vollem Glanz zu verhelfen. Vinikour spielt klar und verständlich, lässt die Hörer durch seine Tempowahl die Tanzsätze gut mitverfolgen. Durch strahlende Schlichtheit und Ungekünsteltheit brilliert dieser Cembalist! Lediglich manche kurzen Tempoverzögerungen geraten etwas unorganisch und vorhersehbar gleichförmig, was den ansonsten kontinuierlichen Fluss kurzzeitig stocken lässt. Die spärlichen dynamischen Möglichkeiten nutzt Jory Vinikour bis an die Grenzen aus und kann so durchaus Kontraste schaffen und sogar innerhalb der Tänze Auflösungen ans Licht holen, die auf Cembali üblicherweise in Gleichförmigkeit untergehen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

 

Rundum gelungen

Sigmund Romberg: „The Student Prince“

Dominik Wortig  Tenor; Anja Petersen  Sopran; Frank Blees  Bass-Bariton; Arantza Ezenarro  Sopran; Vincent Schirrmacher  Tenor; Wieland Satter  Bass-Bariton; Joan Ribalta  Tenor; Theresa Nelles  Sopran; Christian Sturm  Tenor

WDR Rundfunkchor Köln; WDR Funkhausorchester Köln; Leitung: John Mauceri

Aufnahme: 18.-22.07. 2012, Köln, Klaus-von-Bismarck-Saal

cpo 555 058-2; EAN: 761203505821

Wem in Deutschland sagt der Name „Sigmund Romberg“ oder dessen Werkes Name: „The Student Prince“ etwas?

Vielen vermutlich: nichts!

Es handelt sich um eine Broadway-Operette, die in einem vergangenen Deutschland spielt. Der Kronanwärter eines fiktiven Königreiches beschließt, wohlberaten, seine Jugend im studentischen Milieu auszukosten – vulgo: sich die Hörner abzustoßen.

In Heidelberg!

„Lange lieb‘ ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust,
Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied,
Du, der Vaterlandsschönste
Ländlichschönste, soviel ich sah“

Sträuche blühten herab, bis wo im heitren Thal,
An den Hügel gelehnt, oder dem Ufer hold,
Deine fröhlichen Gassen
Unter duftenden Gärten ruhn.“

 

… schrieb Hölderlin, der, wie wohl jeder, der einmal dort war, dem Charme dieses Städtchens erlag. Der Ort, so lieblich am Neckar gelegen, umsäumt von Wald und Berg, gekrönt von einer Ruine aus alter Zeit – wie kann der nicht verzaubern?

Heidelberg! Ein Topos heiterer Heimatlichkeit. Samt jokoser Studentenschaft, Frühlingsstimmung pubertärer Gelauntheit und dem tief schwelenden Gefühl der Zuversicht: hier ist es gut und so wird es bleiben!

Nun bequemt sich also der Thronanwärter in diese magische Stadt und verliebt sich in eine fesche Gastwirtin, die seine Gefühle erwidert. Es kommt, wie es kommen muss: des Prinzen Opa scheidet dahin, der Prinz wird König mit allen Verpflichtungen – samt standesgemäßer Ehe -, wie es das Amt gebeut. Aber er schwelgt in Sehnsucht nach der unbeschwerten Heiterkeit und Jugend in Heidelberg mit saufseligen Kumpanen und: seiner immer noch geliebten Cathy.

Es gibt ein Rendezvous. Prinz Karl-Franz und seine Cathy begegnen sich erneut, beide aber in der Einsicht, dass die Tage der unbeschwerten Jugend vorbei sind und jeder der beiden, einen eignen Weg – vielleicht nicht des Glückes, aber der Bequemlichkeit – beschreiten werden.

Kitschig? Klingt nach einer Schlicht-Version von Fontanes „Irrungen, Wirrungen“.

Tatsächlich fußt das Werk auf dem tränenseligen Theaterstück von Herren Meyer-Förster, das 1901 seine Premiere erlebte und bis in die 1920er ein großer Erfolg war. Nötig zu sagen, was Brecht darüber dachte?

Romberg, entgegen der Vorlage, verfällt nicht dem Naheliegenden: aus dem Stoff eine sentimentale Geschichte zu zimmern mit Schmacht, Tränen und Sehnsucht nach verflossenem Glück.

Frisch, heiter und mit Zunder geht es da zu! Gefühlvolles kommt nicht zu kurz, wird aber keineswegs über Gebühr breitgetreten. Studentischer Marsch wechselt sich ab mit Dreiviertelseligkeit. Immer klar im Klang, bewusst der zu erzeugenden Stimmung. Hörbar einem „deutschen“ Klangideal verpflichtet. Da ist noch gar nichts von schmalzübergossenem Broadway zu hören. Schlank und sinnlich breitet sich alles dem Hörer dar.

Romberg: er schüttet kein Füllhorn an musikalischen Ideen aus, vielmehr vertraut er auf einige Linien, die er variierend präsentiert, dass diese sich, wie der bekannte Wurm, in‘s Ohr bohren.

Was bleibt außer: ein ganz großes Lob, als den Pour-le-Mérite- an das ganze Ensemble zu vergeben für ein rundum-gelungenes Vergnügen?

Das kleine Nichts, was dieses Stück nun mal ist: es wird mit Freude und Können dargeboten. Keinen Moment fällt man in die so wohlfeile Gefühl-Falle. Im Gegenteil: diese „Sachlichkeit“ wertet auf.

Rhythmisch sicher – das Orchester, seiner Farben bewusst.

Der Chor: Glanzleistung!

Das Funkhausorchester Köln, nun auch weit über Nordrhein-Westfalen hinaus bekannt unter der Ägide von Wayne Marshall, versiert im Gerne der vermeintlich leichten Muse, vollbringt hier Großes.

Herrn John Mauceri als Leiter unterläuft kein Fehler.

Vokal: Frau Petersen, deren schlanke Stimme so sehr passt und den warmen Tenor von Herrn Wortig im Duo hell und klar umrankt!

Romberg schreib keine Musikgeschichte. Aber ein kleines, sympathisches Stück, das – wenn es wie hier so anrührend in leidenschaftlicher Perfektion gegeben – mehr als lässliche Nichtigkeit daherkommt.

Das Ganze: kein Eskapismus – nur Gedenken an das Vergangene. Erinnerung, die im Leben jeden Tag mehr und mehr die Zukunft frisst und das Gewesene über Maß vergoldet.

Beckmesser: Libretto im Booklet…Essig! Nun aber ist das Ganze auf Englisch gesungen! Da bedarf es doch eines nachvollziehbaren Textes! Mutmaßlich dürften die Rechteinhaber auf zu viel Entgelt bestanden haben. Diese „geldige“ Zielsetzung wird der weiteren Verbreitung des Stückes indes wenig helfen – und damit den potentiell Begünstigten selbst.

Volle Punktzahl! Für das ganze Ensemble. Eine seltene Freude!

[Stefan Reik, November 2016]

P.S. Es existiert eine Filmversion des Stoffes von Ernst Lubitsch. Verfügbar im Netz – und sehr sehenswert.

Bezaubernde Vielfalt

Lebanese Piano Music; Tatjana Primak-Khoury, Piano
Anis Fuleihan: Klaviersonate Nr. 9 (1970);Houtaf Khoury: Piano Sonata No. 3 «Pour un instant perdu…» (2013); Boghos Gelalian: Tre cicli (1969); Boghos Gelalian: Canzone e toccata (1981); George Baz: Esquisses (1959); Toufic Succar: Varations sur un Thème oriental (1947)

GP 715; EAN: 7 47313 97152 7

Libanon? Und Musik? Ja, Palmen, Zedern, Meer, Gebirge, Beirut, Krieg und alle möglichen politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, aber komponierte Musik?

Doch, es gibt Komponisten im Libanon, und die schreiben wunderschöne und sehr vielfältige Musik, wie diese CD beweist. Vier Ersteinspielungen und Klaviermusik vom feinsten, gespielt von einer hervorragenden urmusikalischen Pianistin, die – in der Ukraine geboren und aufgewachsen – mit dem libanesischen Komponisten Houtaf Khoury (*1967) verheiratet ist. Sie ist eine exzellente Sachwalterin nicht nur der Klaviermusik ihres Mannes, nein, all der Stücke, die auf dieser faszinierenden Scheibe erklingen. Das reicht von einem Variationszyklus vom ältesten Komponisten Toufic Succar (*1922) von 1947, einem herrlich verspielten Stück bis hin zu Khourys Sonate Nr. 3 von 2013, einem dreisätzigen Werk, das einen pessimistischen, aber ungeschminkten Blick auf das derzeitige Leben in diesem so zerrissenen Land freigibt, einem Land, von dem Houtaf Khoury sagt:

„ Die Libanesen glauben mehr an ihre Künstler als an ihre Politiker. Und ich glaube, wir als Künstler können viel verändern.“ (In welchem Land der derzeitigen Welt wäre es anders?) Das dreisprachige Booklet gibt umfassend Auskunft über die einzelnen Komponisten und ihre Situation. Einige, wie der 1900 geborene und 1970 verstorbene Anis Fuleihan (die hier vorliegende 9. Klaviersonate schrieb er kurz vor seinem Tod), wurden auch im Ausland populär, andere wie George Baz (1926-2012) spiegeln den französischen Einfluss wider, unter dem der Libanon ja bis 1943 stand. Baz beschreibt seine Musik als „Erinnerung an den Impressionismus, angereichert durch kleine persönliche Entdeckungen.“ Was in seiner Klaviermusik auch deutlich zu hören ist, aber das ist ja nicht die schlechteste Voraussetzung für klanglich überzeugende und bewegende Kompositionen.

Auch Boghos Gelalian (1927-2011) hatte unter widrigen Umständen zu leiden, zuerst als Armenier, dann im Libanon als Klavier- und Kontrapunktlehrer, der seinen Unterricht stoisch und unter erschwertesten Bedingungen fortsetzte.

Seine Musik, von der mir besonders die klagende „Canzone“ zusagt, ist meisterlich. Aber allen Stücken gemeinsam ist, dass sie von einer Pianistin ins Leben gerufen werden, deren Spiel bei aller manchmal erforderlichen Lautstärke nie hart wird, immer äußerst melodisch und durchhörbar bleibt und einen ganz speziellen Klang produziert, der immer daran erinnert, das die „Dinger“ T A S T E N heißen.

Wie schon Heinrich Jacoby 1945 in seinem überaus wichtigen Buch „Jenseits von Begabt und Unbegabt“ auf Seite 329 schreibt: Der Name „Tasten“ sagt im Grunde alles aus, was zu geschehen hätte, wenn jemand mit dem Klavierspielen anfangen will!“ (Wie viele Pianisten vergessen das immer wieder?) Nicht aber Tatjana Primak-Khoury, die mit dieser Einspielung der libanesischen Klaviermusik den denkbar besten Dienst erweist und uns mit einer wunderbaren, bisher unbekannten Kunst bekannt macht.

[Ulrich Hermann, November 2016]

Eine junge Gewinnerin mit Aussichten

Naxos 8.573725; EAN: 7 47313 37257 7

Als Gewinnerin der Jaén International Piano Competition 2015 spielt die 1998 geborene Pianistin Anastasia Rizikov eine CD der Laureate Series von Naxos ein. Auf dem Programm steht die Sturm-Sonate d-Moll op. 31/2 von Ludwig van Beethoven, Triana aus dem zweiten Buch von Albéniz‘ Iberia, Soñando María Magdalena von Juan Cruz-Guevara sowie die Klaviersonate e-Moll op. 7 von Edvard Grieg.

Ich glaube nicht an Wunderkinder. Ich weiß um fingertechnische Begabung, den Nutzen von langem wie intensiv-konzentriertem Üben (und dies begleitend besserer oder schlechterer Unterweisung), und in manchen Fällen ist da ein musikalisches Gespür, welches mit der Zeit immer weiter ausreifen kann. Die meisten jungen Talente verfügen über die beiden zuerst genannten Aspekte, der dritte – und die Arbeit am dritten – bleibt hingegen oft außen vor. Zweifelsohne lässt sich von Anastasia Rizikov behaupten, dass sie alle drei Punkte vereint und schon jetzt zu einer Symbiose verschmelzen lässt.

Noch nicht einmal die Volljährigkeit hatte die kanadische Pianistin erreicht, als sie vorliegende CD einspielte – nach dem Gewinn der Jaén International Piano Competition.

Nur wenige Jahre älter war Edvard Grieg, als er seine einzige Solo-Klaviersonate schrieb, die in gewisser Weise bereits das Klavierkonzert antizipiert, eine volkstümliche Natürlichkeit und Einheit zeigt, als wäre sie aus einem Guss geschaffen (tatsächlich dauerte es nur elf Tage, sie niederzuschreiben). Beethovens Sturm-Sonate entstand parallel zu den Schlusszügen seiner zweiten Symphonie, wobei er auf eine große Anzahl bereits komponierter bedeutsamer Werke zurückblicken konnte. Ein absolutes Reifewerk ist Iberia von Isaac Albéniz, diese zwölf Stücke sind die letzten fertiggestellten Kompositionen des Spaniers, tragen das gesamte Geschick, die ausgeklügelte Tonalität in all ihrer Organik, die spanische Würze und die suggestiv schillernde Farbigkeit seines Stils auf vollendete Weise in sich. Diesen drei Stücken ist hier Soñando María Magdalena von Juan Cruz-Guevara gegenüber gestellt, welches für den Wettbewerb geschrieben wurde, eine sonore Reihe von Variationen über ein Thema, das in vier Stücke unterteilt ist.

Es kann von einer zur Zeit der Aufnahme sechzehnjährigen Pianistin nicht erwartet werden, dass sie die umfassende Form solcher großen Werke in ihrer Gänze einheitlich erfassen kann – selbst den größten Meistern gelang dies noch in späteren Jahren nicht (und man nehme Heinz  Tiessens Bericht über den jungen Eduard Erdmann zu Kenntnis – Erdmann ist zweifelsohne einer der größten Pianisten, von dem es Plattenaufnahmen gibt -, in dem er der bereits volljährigen Begabung noch erhebliche Mängel als ausführender wie schaffender Künstler attestierte – nachzulesen in „Begegnungen mit Eduard Erdmann“). Doch dessen ungeachtet gehen Anastasia Rizikovs Fähigkeiten weit über die einwandfreie technisch-mechanische Beherrschung der Werke hinaus. Sie hat eine ausgesprochen lyrische Ader und ein feines Gefühl für melodische Gestaltung.

Gerade bei Beethoven geht ihr Temperament noch manchmal etwas durch mit Rizikov, und das Forte verleitet sie zu aufbrausendem Donnern, welches doch manchmal recht harsch lärmend klirrt. Jedoch vermag sie, die Melodielinien singen zu lassen, und weist ein außergewöhnliches Talent für Phrasierung auf – gerade im dritten Satz kann sie damit begeistern. Ihre vielseitige Anschlagskultur demonstriert Anastasia Rizikov in Albéniz’ Werk, dem sie eine zurückhaltende Farbenpracht verleiht und subtile rhythmische Tanzgebärde. Auch in komplexen, kaum zusammenhängenden Formen wie Cruz-Guevaras Soñando María Magdalena findet sich die Pianistin akkurat zurecht und versucht spürbar, Strukturen zu erspüren. In aller romantischer Pracht entsteht Griegs Solosonate, in die Rizikov sich trotz manch übermäßiger Rubati (im Übrigen ein schwieriger Streitpunkt, da Grieg selbst seine Tempi extrem frei gestaltete, wie in Aufnahmen von 1903 auf Grammophon und 1906 auf Welte-Mignon nachweisbar) wahrhaftig hineinversetzen kann – dieses Werk ist am ehesten „ihre Welt“.

Was Anastasia Rizikovs Spiel einen eigenständigen Status gibt, ist ihr einzigartiger Anschlag, der sofort aufhorchen lässt. Es liegt ein gewisses Gewicht auf jeder Note, und doch ist alles so frei und unbekümmert, also würde ein Schmetterling über die Tasten gleiten. Mittels dieses scheinbaren Paradoxons entsteht eine ganz eigene Magie, ein Wiedererkennungswert im positiven Sinne – wenn Rizikova beginnt, mit ihren Melodien zu singen, verzaubert sie, dann bleibt für Augenblicke die Welt stehen.

[Oliver Fraenzke, November-Dezember 2016]

Persischer Zauberer

Persian Fantasy: Nima Farahmand Bafi , Klavier

Nima Farahmand Bafi: Persian Fantasy; Fantasy On Torkaman By Hossein Alkizadeh; Persian Poem Nr. 1 & 2
Frédéric Chopin: Polonaise Op.53
André Aminollah Hossein: Hommange à Kayam
Franz Liszt: Hungarian Rhapsody No. 12
Aram Khachaturian / Nima Farahmand Bafi: Prelude and Lezginka from „Gayneh Ballet“

ACD 6154 ANIMATO; EAN: 4 012116 615432

„Alle Stücke in diesem Projekt ergänzen sich in ihrer emotionalen Stimmung und zusammen bilden sie eine musikalische Reise. Sie reflektieren, wie traditionelle persische und westliche klassische Musik mich inspiriert haben….“  So schreibt der inzwischen in Stuttgart lebende Pianist Nima Farahmand Bafi im Booklet über seine CD und die Hintergründe für diese spannende und  hörenswerte „Cross-Over“–Reise. Schon das erste Stück, die Persische Fantasie, nimmt den Hörer in eine völlig andere Klangwelt als die gewohnte klassische eines Klavierabends. Die modale Melodik der iranischen Musik – wovon der Pianist sicher auch nur einen Ausschnitt wiedergeben kann, denn die persische Kultur gehört ja zu den ältesten der Zivilisation – ist sehr fasslich und nachvollziehbar. Noch dazu, wenn sie von einen solchen Meister ins Spiel gebracht wird mit der intensiven Delikatesse, was Ton und „Anschlag“ angeht.  (Welch ein grausiges Wort für die Berührung der weißen und schwarzen „Tasten“, wie sie doch ganz richtig im Deutschen heißen!)

Nein, die Musik seiner iranischen Heimat lässt der 1984 geborenen Musiker – der auch ein promovierter Physiker ist(!) – zu einem wundervollen (= voller Wunder) Hörerlebnis werden. Dass er aber auch anders kann, zeigen die drei gleichfalls aus folkloristischem Fundus schöpfenden „westlichen“ Stücke, wobei mich die Übertragung des armenischen Stücks von Aram Khachaturian am meisten fasziniert. Es ist eben einer der Vorzüge des Mediums, immer neue Hörwelten nachvollziehbar werden zu lassen. Bei Chopins Polonaise op. 53 – die ja zu seinen bekannteren Stücken zählt – kann Nima Farahmand Bafi seine andere , die klassisch- pianistische Seite ausspielen, da klingt der Steinway eben nicht mehr so melodiös singend, da kommen die dynamischen Möglichkeiten des Instruments und seines Spielers zum Zuge, ebenso in der 12. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt. Aber das für mich wichtigere Erlebnis besteht eben im Kennenlernen einer völlig anderen, eigenständigen Musiksprache eines Landes, dessen Kultur derzeit in den Medien leider fast nur noch unter merkwürdigen politischen Gesichtspunkten gesehen und beschrieben wird.

Dafür bildet die CD mit und von Nima Farahmand Bafi ein höchst willkommenes und verzauberndes Gegengewicht.

[Ulrich Hermann, November 2016]

Geigensport

Dynamic, CDS7774; EAN: 8 007144 077747

Maristella und Mario Patuzzi spielten für Dynamic die vierundzwanzig Capricci für Violine solo von Niccolò Paganinis mit der Klavierbegleitung von Robert Schumann ein.

Es ist einer der wichtigsten Etüdenzyklen für das Instrument Violine überhaupt: Die vierundzwanzig Capricci Op. 1 des „Teufelsgeigers“ Niccolò Paganini – vielleicht vergleichbar mit Chopins Etüden Op. 10 und 25 für Klavier. Mit halsbrecherischer Virtuosität werden in Miniaturformen die wichtigsten und schwierigsten sportlichen Höchstleistungen verlangt, die sich ein Streicher nur vorstellen kann – dabei kann teils ein wahrer Mikrokosmos entstehen und Fragmente (damals) neuer Welten tun sich auf. Es ist ein bunter Farbkasten der Zurschaustellung, die dem Virtuosen vieles abverlangt.

Maristella Patuzzi wagt sich für Dynamic an den gesamten knapp achtzigminütigen Zyklus. Doch bleibt beim Hören nicht wirklich viel hängen, es plätschert einfach so vor sich hin. Es gibt keine große phrasenformende Ausgestaltung, die Dynamik bleibt recht eintönig und der Ausdruck oberflächlich. Hin und wieder darf es gerne auch einmal kratzen und quietschen, aber das sind wir ja von Dynamic – gerade in Kombination mit Paganini – schon gewöhnt. Allgemein herrscht kein wirklicher Schönklang der Violine vor, nie darf sie wirklich „singen“, sondern muss sich in angestrengt-anstrengender Manier dem Extremsport hingeben.

Robert Schumann schrieb eine recht harmlose Klavierbegleitung zu dem Zyklus, die sich hauptsächlich auf simple Akkordbegleitung beschränkt, und nur an zwei oder drei Stellen kurzzeitig an Eigenständigkeit gewinnt. Inhaltlich avancieren können die Capricci dadurch nicht, die Begleitung erspart eher im Konzert dem Pianisten eine Pause, wenn der Violinsolist alleine mit Paganini prahlen will. Hier spielt Mario Patuzzi den Klavierpart, bleibt dabei bewusst ständig zwei Stufen hinter Maristella Patuzzi und versucht, weitestgehend unauffällig zu bleiben – was auch gelingt. Sein Spiel ist schlicht, ohne übermäßige Ausgestaltung, konzentriert sich ausschließlich auf die Ausführung der simplen Akkordgrundlage.

Wer dabei ist, wenn eine Geigerin möglichst schnell über ihr Instrument huscht, der kann vielleicht seine Freude aus dieser Aufnahme ziehen. Wer aber diese Stücke mit Schumanns Begleitung wirklich lebendig, sensibel, tonschön und fesselnd erleben möchte, dem empfehle ich nachdrücklich die Aufnahme mit Ingolf Turban und Giovanni Bria bei Claves.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Unwiderstehlicher Bach

Der in New York geborene Pianist Murray Perahia spielt für die Deutsche Grammophon auf zwei CDs alle sechs Französischen Suiten BWV 812-817 von Johann Sebastian Bach ein.

Alle Englischen Suiten, alle Partiten, die Goldberg-Variationen und die Clavier-Konzerte nahm Murray Perahia bereits auf, nun folgt ein weiterer Zyklus, der aufgrund der vergleichsweise geringeren technischen Anforderungen bedauernswerterweise nicht den Stellenwert der anderen genannten Werke hat – was sich mit dieser Aufnahme wie mit keiner zuvor ändern könnte! Frisch von Sony zur Deutschen Grammophon gewechselt, macht sich Perahia an die sechs Französischen Suiten BWV 812-817 von Johann Sebastian Bach.

Die Werke setzten sich deutlich ab von den Englischen Suiten, welche wahrscheinlich etwas früher entstanden sind: Nicht nur, dass die virtuosen Präludien wegfallen und dafür alle Suiten direkt mit der Allemande beginnen, auch sind die Sätze allgemein wesentlich filigraner, durchsichtiger und kürzer. Die Themen sind teils leichter zu fassen und die gesamte Form ist kompakter. Die fingertechnische Ausführung dieser Suiten mag vielleicht keine große Herausforderung darstellen, doch ganz anders die musikalische Realisierung der perlenhaften Sätze, die jeder für sich einen wahren Schatz von singulärer Energie und Reinheit darstellen. An den schlichtesten Miniaturen kann man sich Tage lang den Kopf über eine Bachs Intentionen nahe kommende Ausführung zerbrechen, sie erfordern den alles integrierenden Fokus auf das Wesentliche und eine absolute Klarheit des Geistes.

All das bringt Murray Perahia in seiner neuen Aufnahme mit. Perahia macht keine Show aus Bach, er zielt nicht auf die beeindruckende Oberfläche, macht kein Lehrbuch aus seiner Darstellung, er muss keinem was beweisen – er ist Musik. Selbstdarstellung und ein auf Effekt berechnetes Spiel würde man vergebens suchen, er stellt sich nur in den Dienst von Bach, worüber auch die ausführende Instanz des „Ich“ so klein wie möglich gehalten wird. Es sind die Innigkeit und eine beinahe meditative Stille, aus der sich die einzelnen Sätze heraus entwickeln. Murray Perahia macht nicht, er lässt geschehen, lässt das Material aus der Keimzelle heraus organisch sich formen, beachtet alle Details und setzt sie doch zu keiner Sekunde einer Übertreibung aus. Alle Stimmen erhalten ihren rechten Platz in dem dichten Geflecht, keine geht unter und keine dominiert unangemessen. Auch die Wiederholungen tragen zu einer flexibel-organischen Form bei, denn Perahia wiederholt weder starr noch willkürlich verändernd, sondern behält lebendig den energetischen Gesamtkontext im Auge und spielt – um die Sache einmal vom Höhepunkt der jeweiligen Spannungsentwicklung aus zu betrachten – im Bewusstsein um den vorangegangen Aufbau wie um den folgen werdenden Abbau. Interessant ist, wie Perahia in den Wiederholungen der Sarabanden subtil neue Verzierungen einfügt und den Tänzen so einen noch spanischeren, bodenständigeren Eindruck verleiht – wenngleich es gerade in den Moll-Suiten bisweilen etwas überladen wirken kann. In allen Sätzen herrscht eine freudige Leichtigkeit, eine durchsichtige Klarheit und ein innig erfühlter Impuls, der die Musik aus sich selbst heraus voranschreiten lässt. Die Tempi der lebhaften Tänze sind gerne recht rasch, doch eilen sie nicht davon und bleiben charakteristisch mitvollziehbar; Die ruhigeren Tanzsätze erhalten eine sehr innige, beinahe meditative Aura. Einmal in dieser umfassenden Atmosphäre angekommen, mag man sich als Hörer kaum wieder davon lösen, so verzaubert ein Satz nach dem anderen und lässt Zeit und Raum vergessen.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

„Meer“ mit Tiefgang

Claude Debussy: Klaviermusik zu vier Händen Vol. 2
(„La Mer“, „Images“, „Prélude à L’Après-Midi d’un faune“)
Jean-Pierre Armengaud, Olivier Chauzu
Naxos, Art.-Nr.: 8.573463; EAN: 747313346370

Jean-Pierre Armengaud und Olivier Chauzu stellen mit dieser CD Versionen der wohl bekanntesten Orchesterwerke Claude Debussys für Klavier vierhändig vor – und wissen mit einem eigenen Ansatz zu überzeugen.

Es ist häufig sehr interessant, wenn man Werke, die normalerweise in üppigen Orchesterbesetzungen bekannt sind, einmal in kleinen Besetzungen hören kann oder – in der oft wirkungsvollsten Form der Reduktion – als Klavierauszug. Was hört man da nicht alles neu, anders oder zum ersten Mal. Dicht orchestrierte Werke präsentieren sich von einer ganz neuen Seite und werden plötzlich „durchhörbar“, erscheinen dem Hörer plötzlich transparent.

Nicht selten hört man dann auch die vermeintlich bekannte Orchesterfassung nach einer solchen Hörerfahrung wie mit neuen Ohren und wundert sich, warum einem manche Details früher nie aufgefallen waren, die man erst durch das Hören der Klaviertranskription wahrgenommen hat.

So ging es mir kürzlich mit dieser CD, die drei der bekanntesten Orchesterwerke Claude Debussys in gleichermaßen transparenten wie klangsinnlichen Interpretationen durch die beiden Pianisten Jean-Pierre Armengaud und Olivier Chauzu vorstellt.

Armengaud gilt als Herausgeber von kritischen Editionen der Klaviermusik Erik Saties und Henri Dutilleux‘ als einer der herausragenden Experten für französische Musik des 20. Jahrhunderts. Als Interpret ist er bislang nur beim NAXOS-Label aufgefallen. Chauzu hingegen ist ein viel gefragter Duo-Partner, spielt zum Beispiel immer wieder Duo-Konzerte mit Nicholas Angelich und François Leleux.

Bleibt die Frage: Von wem stammen denn diese vierhändigen Klavierversionen großer Debussy-Meisterwerke wie „La Mer“, „Images“ und „Prélude à l’Après-midi d’un faune“? Sie stammen vom Komponisten selbst („La Mer“) sowie von André Caplet, einem etwas jüngeren Zeitgenossen Claude Debussys. Caplet ist ein Komponist gewesen, der in seinem eigenen Recht eigentlich eine Wiederentdeckung verdient hätte, der aber vor allem – und darum geht es hier – sein Handwerk auf das Beste verstand.

Jean-Pierre Armengaud und Olivier Chauzu wissen mit ihrem Spiel der vierhändigen Versionen von Debussys bekanntesten Werken unumwunden zu begeistern. Das Besondere an ihrer Darbietung ist, dass sie sich offenbar nicht an typischen Interpretationsansätzen orientieren, die man von Einspielungen der Orchesterwerke her kennt. Die beiden ziehen hier eindeutig einen eigenen Ansatz durch, und diesen kann man nur uneingeschränkt bewundern: In beeindruckender Klarheit und Synchronizität einerseits verschaffen sie dem Hörer eine völlige Werktransparenz, um andererseits mit einer – ich wiederhole diesen Neologismus gern – Klangsinnlichkeit zu beeindrucken, die wirklich begeisternd ist.

Das Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem Meer, die deskriptiv-beschreibenden Inhalte dieser Musik (auch in den Images und dem Prélude finden sich zahlreiche solcher Momente), halte ich in diesen Versionen häufig für weitaus plastischer als in vielen der zahlreichen Orchestereinspielungen dieser Stücke.

Dass dies so ist, liegt an einer sehr persönlich gefärbten Darstellung Armengauds und Chauzus, die denjenigen der besten Dirigenten in nichts nachsteht. Diese Klavier-Darbietungen vermitteln ein tiefes musikalisches Einfühlungsvermögen sowie eine reichhaltige emotionale Palette und zeigen somit Eigenschaften, wie man sie bei Klavier-Duos leider zunehmend selten findet. Während mehrere andere Klavierduett-Besetzungen vor allem an technisch-mechanischen Meisterleistungen interessiert zu sein scheinen, sind Armengaud und Chauzu ein echtes Team, atmen und denken gleich und sind – ein nicht zu vernachlässigender Punkt – offenbar bestens auf einander eingespielt, haben alle Stücke auch bezüglich ihres musikalischen Gehalts top einstudiert.

Diese Produktion ist alles andere als ein Schnellschuss oder ein „nice to have“. Sie ist Kunst, wie sie schöner, tiefer, inniger empfunden kaum zu finden sein wird. Und sie stellt in sich einen Wert dar, der über den vordergründigen Aspekt der bloßen Klavierbearbeitung weit hinausreicht.

[Grete Catus, November 2016]