Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Spannende Kurzgeschichten meisterhaft erzählt

Aldilà Records, ARC 022; EAN: 9 003643 980228

Auf seinem bei Aldilà Records erschienen Russischen Album präsentiert der Pianist Andrea Vivanet Stücke russischer Meister aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es beginnt mit Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 von Sergej Tanejew und schließt mit den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Schostakowitsch. Verbunden werden sie durch drei Zyklen von Nikolai Tscherepnin, die hier erstmals eingespielt worden sind: Six Préludes op. 17, Cinq Morceaux op. 18 und die auf Volksliedern basierenden Primitifs.

Zu den Markenzeichen von Aldilà Records gehört die wohlüberlegte Zusammenstellung der einzuspielenden Kompositionen. Die Programme gleichen Vortragsfolgen von Konzerten. Sie bringen Werke verschiedener Komponisten zusammen, die nicht selten unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen entstammen, wobei stets darauf geachtet wird, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden, sich zwischen den einzelnen Stücken ein Netz von Beziehungen entspinnt. Wiederholt fanden sich dabei vielgespielte Werke mit solchen kombiniert, die bislang noch gar nicht auf CD vertreten waren und nun zeigen konnten, dass sie neben den bekannteren sehr wohl zu bestehen vermögen. Ebendieses Konzept prägt auch das Russische Album des Pianisten Andrea Vivanet.

Das Album lässt drei russische Komponisten aus drei aufeinander folgenden Generationen zusammentreffen, wobei der Reiz darin besteht, dass die Werke zeitlich näher beieinander liegen, als es die Lebensdaten ihrer Autoren vermuten lassen: Sergej Iwanowitsch Tanejew (1856–1915) ist zwar der an Jahren älteste Komponist, doch sein Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 entstand erst 1910, mehrere Jahre nach den Six Préludes op. 17 (1900) und den Cinq Morceaux op. 18 (1901) seines jüngeren Zeitgenossen Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin (1873–1945). Dessen 1926 komponierter Zyklus Primitifs. 12 Adaptions d’anciennes mélodies russes geht den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906–1975), der mehr als drei Jahrzehnte nach Tscherepnin geboren wurde, um lediglich sieben Jahre voraus. Wir haben also ein Bündel von 49 Stücken vor uns (48, zählt man Tanejews Präludium und Fuge als ein einzelnes), die innerhalb von nur 33 Jahren entstanden und bei denen es sich teils um Frühwerke, teils um verhältnismäßig späte Werke der jeweiligen Komponisten handelt.

Dass das Programm des imaginären Konzerts sehr abwechslungsreich geraten ist, erscheint bei dieser Konstellation kaum verwunderlich. Zugleich wird deutlich, welch unterschiedliche Arten musikalischer Ausdrucksweisen innerhalb eines recht kurzen Zeitraums nebeneinander existierten. Vivanet bietet sozusagen eine kurzgefasste Überblicksdarstellung zur russischen Klavierminiaturistik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Sergej Tanejew war der große Poeta doctus der russischen Musik, ein tief empfindender Künstler, dessen leidenschaftliche Liebe zum kontrapunktischen Gestalten nahezu seinem gesamten Schaffen das Gepräge gibt. Die Fuge war ihm, im Gegensatz zu manchem Zeitgenossen (innerhalb wie außerhalb Russlands) kein Demonstrationsobjekt akademischer Gelehrsamkeit, sondern ein tondichterisches Ausdrucksmittel, das er regelmäßig dazu nutzte, im Schlusssatz eines Werkes die Musik zu maximaler Spannung zu steigern. Obwohl in jungen Jahren als einer der besten Pianisten Russlands gerühmt (Pjotr Tschaikowskij betraute ihn mit Ur- und Erstaufführungen seiner Klavierkonzerte), hat Tanejew relativ wenig für Soloklavier geschrieben. Das einzige dieser Werke, dem er eine Opuszahl zugestand, ist zugleich das späteste: Präludium und Fuge gis-Moll op. 29.

Während Tanejew bis zuletzt der traditionellen Dur-Moll-Funktionsharmonik treu blieb, auf deren Grundlage er seine kontrapunktischen Monumentalbauten errichtete, wandten sich viele jüngere Kollegen den noch wenig erkundeten Feldern der Harmonik zu, auf die sie von Wagner und Debussy, aber auch von Mussorgskij und Rimskij-Korsakow, hingewiesen wurden – und von Chopin, der, obwohl großer Bach-Verehrer, als Begründer jener sich vom Wohltemperierten Clavier deutlich abhebenden Tradition der, wenn wir sie so nennen wollen, „Préludes sans fugues“ zum mehr oder weniger direkten Vorbild zahlreicher russischer Klavierkomponisten um 1900 wurde. Wie Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninoff, seine direkten Altersgenossen, hat sich auch der 1873 geborene Rimskij-Korsakow-Schüler Nikolai Tscherepnin ausgiebig diesem romantischen Typus der Klavierminiatur zugewandt. Die beiden Sammlungen op. 17 und op. 18 enthalten Charakterstücke verschiedenster Art in sehr gewählter Tonsprache, deren erlesene Harmonien und ungewöhnliche Fortschreitungen in entsprechend abwechslungsreicher pianistischer Faktur präsentiert werden. Zwar verbindet die Stücke eine einheitliche Grundstimmung – es dominieren mäßige Tempi und ein elegischer Tonfall – doch wiederholt sich Tscherepnin nicht und gibt jedem von ihnen ein persönliches Profil. Da steht beispielsweise die leidenschaftlich hin- und hergerissene Improvisation (op. 18/3) neben der konsequent durchgeführten Synkopenstudie (op. 18/4) und dem feierlich entrückten, sehr geschickt Glockenschall imitierenden Religioso (op. 18/4). Von diesen Beispielen russischer Fin-de-Siècle-Kultur heben sich die zweieinhalb Jahrzehnte später komponierten zwölf Stücke mit dem etwas provokanten Titel Primitifs deutlich ab. Der Komponist hat ihnen keine Opuszahl gegeben, vielleicht weil ihnen keine Melodien eigener Erfindung zugrunde liegen, sondern Volkslieder, die er einer 1810 erschienenen Sammlung entnahm. Was Tscherepnin mit diesem vorgefundenen Material macht, geht jedoch deutlich über das hinaus, was man in der Regel unter Volksliedbearbeitungen versteht. Dem Titel alle Ehre machend, arbeitet der Komponist mit „primitiven“ Gestaltungsmitteln: Es begegnen Ostinati, einfache Sätze mit Hauptstimme und Begleitung, Stimmen in schlichter Parallelführung, Heterophonie. Dabei nimmt Tscherepnin aber kaum Rücksicht auf die tonsetzerische Schulweisheit des 19. Jahrhunderts: Er steuert gezielt harte Zusammenklänge an, führt die Stimmen konsequent in dissonanten Parallelen, hebt Melodie und Begleitung rhythmisch deutlich voneinander ab und baut gelegentlich Effekte ein, die an Schlaginstrumente erinnern. Das ganze Opus ist ein Tribut an die russische Volksmusik mit ihren charakteristischen unregelmäßigen Metren, ihren stampfenden Tanzrhythmen und Glockentönen. Der Komponist, der vor der bolschewistischen Revolution nach Georgien ausgewichen war und seit 1921 im Pariser Exil lebte, ruft sich hier die Klänge seiner Heimat in ungeglätteter, rauer Naturschönheit ins Gedächtnis.

Die Stilistik der Tscherepninschen Primitifs wirkt gar nicht mehr spätromantisch und weist deutliche Parallelen zur neutonalen Ausdrucksweise der jüngeren Generation auf, womit auf ganz natürliche Weise der Bogen zu Dmitrij Schostakowitschs Préludes op. 34 geschlagen wird, diesem zurecht viel gespielten Miniatur-Wunderkabinett eines jungen Genies, das hier, noch nicht von den politischen Repressionen späterer Jahre überschattet und auf dem Höhepunkt seiner Pianistenlaufbahn stehend, seiner Phantasie unbekümmert die Zügel schießen lässt und mit wenigen Tönen treffsicher charakterisiert, auch karikiert, dramatisch zuspitzt und immer wieder den Hörerwartungen Haken schlägt.

Ein höchst anspruchsvolles Programm hat Andrea Vivanet sich bei diesem Projekt also vorgenommen – anspruchsvoll nicht nur deswegen, weil nicht wenige der hier eingespielten Stücke virtuose Fingerfertigkeit verlangen, sondern vor allem, weil so unterschiedlichen Stilen beizukommen, so viele verschiedene musikalische Charaktere adäquat darzustellen sind. Ebendies ist Vivanets Stärke. Bereits mit seinen früheren Veröffentlichungen war der Italiener, der lange in Paris lebte und zur Zeit in Georgien weilt, als ein Musiker aufgefallen, der sich mit den Werken, die er vorträgt, innig vertraut gemacht, sich in sie eingelebt hat. Hört man ihm zu, so spürt man sein Spiel jene Ruhe ausstrahlen, in welcher die Kraft liegt: eine Gelassenheit, wie sie nur einer zu vermitteln im Stande ist, der in der Musik tatsächlich jeden Winkel kennt. So wirkten unter seinen Händen die vielschichtigen Mischklänge Karol Szymanowskis überraschend luzide (Naxos), und Pjotr Tschaikowskijs Klaviersonate op. 37 klang in seiner Einspielung nicht wie das Nebenwerk eines Meisters, sondern wie das Meisterstück, das sie ist (Sheva).

Vivanet erfasst hörbar die unterschiedlichen Abschnitte eines musikalischen Verlaufs als aufeinander bezogen. Er besitzt ein untrügliches Gespür für den Auf- und Abbau harmonischer Spannung. In keinem Moment hat man bei ihm das Gefühl, der Pianist wisse nicht genau, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung er sich gerade befindet. So gerät ihm auch nichts beiläufig. Keine der auf dem Russischen Album aufgenommenen Miniaturen huscht einfach so vorüber. Jede erfasst Vivanet in ihrer Eigenart und arbeitet ihre Handlung mit sicherer Hand heraus.

Seine Meisterschaft des Anschlags besteht darin, für jede Situation den richtigen zu finden. Man höre etwa, wie er der Nr. 1 der Primitifs weder das marcato, noch das cantabile schuldig bleibt, rasch zwischen beiden zu wechseln versteht, dabei aber durch feinfühlige Dosierung der Kraft einen Moment des Übergangs markiert, sodass man nicht meint, ein Nacheinander bloßer Effekte, sondern die Änderung eines Zustands wahrzunehmen! Gerade bei Schostakowitsch feiert diese Kunst Triumphe. Wie reizvoll hält Vivanet im Prélude Nr. 6 in der Schwebe, ob das Stück Tanz oder Marsch, oder vielleicht doch beides zugleich ist! Wie geschickt versteht er es darzustellen, wie Nr. 9 sich unruhig hierhin und dorthin wendet, ohne sich recht entscheiden zu können; oder wie der gehetzte Walzer von Nr. 15 in gelöste, tänzerische Bewegung umschlägt und schließlich zu einem zarten Ausklang findet; oder wie Nr. 24, das groteske Spazierstückchen, es plötzlich seltsam eilig hat und sich ebenso plötzlich beruhigt, bevor es seinen alten Trott wieder aufnimmt! Ja, wie wunderbar erzählt Vivanet all diese spannenden Kurzgeschichten!

Die Begleitung einer Melodie ist für Vivanet nie etwas Unwesentliches, sondern stets eine zweite Ebene der Musik, die mit ebensolcher Sorgfalt bedacht wird wie die Hauptstimme. Welches Eigenleben die Begleitung erhalten kann, merkt man besonders, wenn sie rhythmisch der Melodie entgegengesetzt ist, wie im ersten der Tscherepninschen Morceaux op. 18. Aber auch bei einfacheren Strukturen differenziert der Pianist deutlich. In Schostakowitschs Prélude Nr. 13 meint man die Bässe von Tuben vorgetragen zu hören, während die rechte Hand Flöte spielt. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass dialogisch angelegte Stücke wie das Sopran-Bass-Duett in Schostakowitschs Nr. 7 bei Vivanet ebenfalls in besten Händen sind. Desgleichen die Glockenstücke (Schostakowitsch Nr. 23, Tscherepnin op. 18/5), in denen das Klavier vielschichtig und vielfarbig schallen darf.

Mit einem solchen Glockengeläut markiert auch Tanejew den Höhepunkt seiner Fuge, wenn er das Thema des Präludiums aufgreift, um es ein letztes Mal prunkvoll in Szene zu setzen. Bis zu diesem Punkt ist viel passiert. Die Fuge ist eine Doppelfuge, in der das erste Thema sogleich in der Exposition vom zweiten beantwortet wird. Der kontrapunktische Wirbelwind, den Tanejew aus ihnen entfacht, kennt bis zum Schluss kein Rasten (Schalk, der er ist, lässt der Komponist das Stück nach der Klimax abrupt und leise verwehen, wie einen Windhauch) – und auch in diesem Sturm behält Vivanet souverän die Übersicht.

Muß ich noch sagen, dass ich allen Freunden kultivierten Klavierspiels Andrea Vivanets Russisches Album wärmstens empfehlen kann? Seine Darbietung der bekannten Werke Tanejews und Schostakowitschs ist schlicht mustergültig. Die Stücke Nikolai Tscherepnins werden hier erstmals überhaupt auf CD präsentiert. Das Album markiert damit auch, so steht zu hoffen, einen Wendepunkt in der Rezeption eines lange unterschätzten großen Klavierminiaturisten.

(NB: Den Umschlag zieren Abbildungen georgischer Artefakte aus dem 16. und 19. Jahrhundert, die im Beiheft durch einen kleinen „Ausstellungskatalog“ erläutert werden. Sie sind eine Hommage an den Aufnahmeort, das Georgische Staatskonservatorium in Tiflis, an welchem Nikolai Tscherepnin von 1918 bis 1921 als Direktor wirkte.)

[Norbert Florian Schuck, November 2021]

Fesselndes von Graham Waterhouse, Transzendentes von John Foulds

Der bei München lebende Komponist Graham Waterhouse (geb. 1962 in London), Sohn des legendären Fagottisten und Musikologen William Waterhouse und einstiger Student von Hugh Wood und Robin Holloway, wird allmählich auch international bekannter, was durch die Tatsache, dass seine neuen Werke von Schott Music verlegt werden, gefördert werden dürfte. Waterhouse ist zudem ein versierter Cellist, und als solcher trat er am 13. November im Kleinen Konzertsaal der Münchner Großbauruine Gasteig in weitgehend eigener Sache mit der Pianistin Miku Nishimoto-Neubert auf.

Im ersten Teil gab es zwei Uraufführungen von Waterhouse: zunächst das zweisätzige Ex tenebris für Cello und Klavier, das mit metamorphischer Verarbeitung kurzer Motivik den rein musikalischen Versuch unternimmt, den uns umgebenden gesellschaftlichen Dystopien zu entkommen. Abgesehen davon, dass der Flügel das Cello öfters im Forte bis zur Unhörbarkeit übertönte, gelang die Aufführung gut.

Danach bot Waterhouse erstmals seine gleichfalls 2021 entstandenen elf Miniaturen Smithereens für Cello solo dar, in welchen in unerhört vielseitiger Weise unterschiedliche spieltechnische, kompositionstechnische, klangfarbliche und stimmungsmäßige Welten erkundet und verarbeitet werden. Dies ist ein besonders gelungenes Werk, im Einzelnen wie als sich in der Verschiedenheit kurzweilig ergänzendes Ganzes, und es zeigt, wie abstrakte Programmmusik in den Grenzbereichen der herkömmlichen Tonalität höchst reizvolle Klangräume erschließen kann. Waterhouse ist als Komponist ein Freund der strukturellen Konsequenz, seine Musik ist nicht einfach gemütlich idiomatisch seinem Instrument auf den Leib geschrieben, sondern fordert beim Spieler die hartnäckig-beharrliche Seite seines Wesens heraus. Waterhouse erwies sich als fesselnder Erzähler der musikalischen Kurz- und Äußerst-Kurzgeschichten, als leidenschaftlich eremitischer Barde auf seinem Instrument, der trotz aller kammermusikalischen Erfahrung und Passion eigentlich dann am meisten sagen oder zumindest dies am persönlichsten darstellen kann, wenn er ganz auf sich alleine gestellt ist. Die recht zahlreich erschienenen Hörer waren zu Recht ergriffen.

Der zweite Teil wurde mit Waterhouses knapp drei Jahrzehnte altem Praeludium für Soloklavier eröffnet. Es ist ein etwas umfangreicheres Vorspiel, als Bravourstück ein passendes Pendant etwa zu den Toccaten Schumanns oder Chatschaturians, dramaturgisch durchaus überzeugend angelegt, bei aller Forderung nach Brillanz mit harmonischem Feinsinn und subtilen Abschattierungen angereichert, kurzum: ein sehr gelungenes Stück, dem wir gerne öfter begegnen. Miku Nishimoto-Neubert, einstige Studentin von Conrad Hansen und Klaus Schilde, konnte mit ihrer bombensicheren Technik hier das Publikum in Atem halten und feierte einen durchschlagenden Erfolg.

Zum Abschluss spielten die beiden die Münchner Erstaufführung der 1905 komponierten und 1927 für den Erstdruck bei Senart revidierten, dreisätzigen Sonate für Cello und Klavier von John Foulds (1880–1939), dem zweifellos inspiriertesten, stilistisch unabhängigsten britischen Komponisten der Generation vor Benjamin Britten. Seine Cellosonate ist ein einsamer Höhepunkt in der Literatur, mehr als nur auf Augenhöhe mit den anerkannten zeitgenössischen Meisterwerken für Cello und Klavier von Enescu, Rachmaninoff, Reger, Tovey, Janácek, Magnard, Prokofieff, Debussy, Fauré oder Villa-Lobos. Alle drei Sätze bewegen sich auf höchstem Niveau, unverkennbar eigentümlich in der transzendent freisinnig fließenden, nie angestrengt arbeitenden Tonsprache, klar in der Formung, überraschend in den harmonischen Progressionen, elegant und zauberisch in den Übergängen, herrlich konzis in der Balance des Duoklangs. In die Bereiche reiner Magie dringen die beiden Vierteltonpassagen im langsamen Satz vor, wo die Grenzen der Zwölftönigkeit auf dem Cello für grenzüberschreitende Momente ins Abgründige rutschen, auf dem Gleis gehalten durch ein Zentralton-Ostinato des Klaviers. Das Finale ist ein funkensprühender Ritt auf der Lanze eines Fortschritts, der sich keinen Moment an den Messlatten der etablierten Fortschrittsideale orientierte. Zum Ende hin erscheint jenes geradezu zur Improvisation herausfordernde Bass-Ostinato, das später seine wunderbare Tondichtung April-England, sein heute vielleicht bekanntestes Werk, prägen sollte. Foulds starb tragisch früh an der Cholera in Kalkutta, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und ein halbes Jahrhundert lang vergaß man ihn komplett in seiner englischen Heimat. Doch seine Zeit wird kommen, man wird ihn als luziden, stets lichtspendenden Giganten seiner Epoche gleichberechtigt neben Bartók, Strawinsky und Berg spielen. Während der Sonate wurden sein einnehmendes Portrait und historische Bilder aus seiner Geburtsstadt Manchester an die Bühnenwand projiziert. Es ist das große Verdienst von Graham Waterhouse und Miku Nishimoto-Neubert, diese Musik endlich auch in die so gerne ausschließlich sich selbst feiernde bayerische Provinzkapitale gebracht zu haben.

[Christoph Schlüren, November 2021]

Für Herz und Geist

Solo Musica, SM 362; EAN: 4 260123 643621

Ausgehend vom Concerto d-Moll BWV 1052 von Johann Sebastian Bach spannten der Cellist Julius Berger und die vielseitig aktiven Schlagwerkspieler Andrei Pushkarev und Pavel Beliaev ein Programm, das sich intuitiv dem menschlichen Herzschlag zwischen 60 und 90 Schlägen pro Minute annähert. Sie (re?)konstruierten eine verlorengegangene Urfassung von Bachs Concerto für ein Streichinstrument, hier das Violoncello piccolo, und führten auch Alessandro Marcellos d-Moll-Oboenkonzert, welches von Bach für Klavier solo umgearbeitet wurde, weiter in eine Fassung für Cello piccolo. Die Orchesterstimmen arbeiteten die Musiker um für Marimba und Vibraphon. Um diese Eckpfeiler herum hören wir Schostakowitschs Prelude C-Dur aus op. 87, Bachs Choräle Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 und Jesus bleibet meine Freude BWV 147, die Aria BWV 590 und Piazzollas Umarbeitung von Bach-Goundos Ave Maria.

Was begann als zufällig gelesene Randinformation, mündete in einer zutiefst persönlichen Aufnahme, die als eine Art der Corona-Bewältigung angesehen werden darf. Der Cellist Julius Berger hörte, dass Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 wohl ursprünglich für ein Streichinstrument geschrieben sei, in dieser Version allerdings als verschollen gelte – einige Techniken, besonders die E-Barriolagen, sprächen dafür, dass es sich beim Soloinstrument um eine Violine handle, oder um ein Violoncello piccolo, welches Bach gerade in Kantaten gerne besetzte. Die Idee war geboren, diese verloren gegangene Fassung in der heutigen Zeit zu rekonstruieren, und zwar für das Violoncello piccolo. Doch da dieses heute kaum bis überhaupt nicht als Soloinstrument zu hören ist, stellten sich bereits instrumentale Schwierigkeiten: Denn wo erhält man eine E-Saite, die alle Anforderungen nicht nur für eine solistische Bachaufführung, sondern auch für Darbietungen neuerer Musik erfüllt? Berger ließ sie als Sonderanfertigung von Pirastro kreieren. Auch war angesichts des Lockdowns 2020 an eine Aufnahme mit Orchester nicht zu denken; so fragte Berger Andrei Pushkarev an, wie man denn die Orchesterstimmen sinnvoll kammermusikalisch umsetzen könnte. Hierfür involvierten sie Pavel Beliaev und transkribierten die Stimmen für Vibraphon und Marimba, konnten durch diese klangtechnisch weichen, dabei vielstimmig einsetzbaren Instrumente das gesamte Orchester abbilden und voluminös ausfüllen.

Um das Konzert entwickelte sich ein Programm aus verschiedenen Chorälen Bachs, hinzu kamen Werke anderer Komponisten, die eng mit der Leitfigur Bach in Verbindung stehen. Schostakowitsch bezog seine für Klavier geschriebenen Präludien und Fugen op. 87 ganz klar auf das Wohltemperierte Klavier und integrierte mehrfach deutliche Parallelen. Piazzolla griff das C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers auf, das bereits von Gounod mit der sich darüber erhebenden Melodielinie Ave Maria versehen wurde. Diese Melodie nahm Piazzolla als Grundlage, spann allerdings eine eigene Fantasie daraus, die meines Erachtens stimmiger auf die Vorlage passt als die von Gounod, und so zu einer besonderen Entdeckung avanciert. Einer weiteren mehrfachen Bearbeitung unterliegt das Marcello-Konzert, welches dieser für Oboe konzipierte, was Bach dann mit reicher und wohlüberlegter Ornamentik als Klavierstück umarbeitete: Nun von Berger und Pushkarev in die Klangwelt des Violoncello piccolo eingeführt, übernahmen sie die melodiösen Auszierungen Bachs, gingen in den Orchesterstimmen von Marcellos Original aus.

Der gemächliche Grundpuls von etwa 60-90 Schlägen die Minute rückte dabei rein zufällig ins Zentrum, wohl einer inneren Intuition entspringend, in all den Wirren der aktuellen Zeit zu sich selbst zurückzufinden. Das zur-Ruhe-Kommen, was wir mehr denn je nötig haben, wird so zu einem Kernelement der Aufnahme und überträgt sich auf den Hörer. Die Musiker suchten ihren Halt in der Musik selbst und in einer möglichst persönlichen, innigen, dabei nicht schwärmerisch-romantischen, sondern geistig durchdringenden, sprich menschlichen Darbietung. In der so entstehenden Echtheit berührt die Musik und legt sich so als wohltuender Balsam über uns. Aus der Wahl von Marimba und Vibraphon resultiert eine beinahe meditative Flächigkeit, die dennoch Konturen schafft und gerade die Steigerungen elastisch ausgestalten kann. Julius Berger wählt für die Aufnahme ein niederländisches Instrument von Jan Pieter Rombouts mit Darmsaiten, was den anderen, moderneren Instrumenten zwar scheinbar entgegensteht, sich aber eben durch diesen Kontrast auf eine ganz eigene Weise mischt und einen ganz persönlichen Klang aufkeimen lässt. Der Aufnahmeort in der Christkönigkirche Dillingen wirkt sich positiv auf die Abmischung der Instrumente aus und schafft sanften, nicht übermäßigen Hall: Es musste in der Nachbearbeitung nichts mehr am Klang geändert werden, es handelt sich tatsächlich um das, was mit dem englischen Terminus Natural Sound bezeichnet wird. Nennenswert ist noch, dass Julius Berger mit allen Beteiligten, Saitenhersteller, den Schwestern der Regens-Wagner-Einrichtung, zu welcher die Kirche gehört, den Aufnahmeleitern und den Mitmusikern in jahrelangem freundschaftlichem Kontakt steht, wie man dem Booklet entnehmen kann: Solch ein kollegiales Verhältnis zwischen allen Beteiligten bringt eine Harmonie hervor, die das Persönliche nur unterstreicht.

Im Begleittext bringt Julius Berger seinen Enthusiasmus zu diesem Projekt auf den Punkt: „Corona war plötzlich kein Schatten mehr über unseren künstlerischen Zielen, sogar im Gegenteil, endlich hatten wir Zeit für ein Projekt, das schon lange in mir schlummerte.“

[Oliver Fraenzke, November 2021]

Moritz Eggerts Fußballoratorium endlich auf CD

NEOS 12009-10; EAN: 4 260063 120091

Komponiert für die Ruhrtriennale 2005 im Hinblick auf die WM in Deutschland ein Jahr später, nahm sich die Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes Moritz Eggerts Fußballoratorium „Die Tiefe des Raumes“ 2019 als ihr jährliches Großprojekt vor. Die engagierte Aufführung der jungen Musiker zusammen mit namhaften Gesangssolisten in der Münchner Philharmonie unter der Leitung des Komponisten, dessen umfangreiches Vokal- und Opernschaffen auf Tonträgern bislang völlig unterrepräsentiert erscheint, ist nun endlich auch als Live-Mitschnitt auf CD erhältlich.

Moritz Eggert (*1965) hat es mittlerweile auf – mindestens – 17 Opern gebracht, und auch außerhalb des Musiktheaters spielt die Vokalmusik eine gewichtige Rolle. Meist traut sich der schon lange in München ansässige Komponist, durch gezielte Brechung und Konterkarieren gewisser Erwartungshaltungen des Publikums, wohlbekannte Genres klassischer Musik kritisch zu hinterfragen. Das hält sich bei seinem Fußballoratorium Die Tiefe des Raumes – Teil des Kulturprogrammes der Weltmeisterschaft 2006 – wohltuend in Grenzen. Wie bei vielen abendfüllenden Oratorien gibt es zwei Teile, hier: Erste Halbzeit – Zweite Halbzeit und Nachspielzeit, großbesetzten Chor und Orchester, sowie ein Solistenquartett (Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bariton), das noch um drei Sprecher ergänzt wird.

So umfasst der erzählerisch-dramatische Handlungsrahmen (Libretto: Michael Klaus) einerseits die Abläufe eines „realen“ Fußballspiels im Stil einer Rundfunkreportage: Zentrale Figur ist hierbei der Bariton als Journalist – ganz ausgezeichnet: Hans Christoph Begemann –, stellvertretend für den Evangelisten in den bekannten Passions-Oratorien. Das Spiel wird außerdem von drei Sprechrollen (Reporter als alter ego des Journalisten, Trainer und Alt-Internationaler) und vor allem dem Chor, der in erster Linie die Zuschauer im Stadion verkörpert, kommentiert. Eingeflochten in dieses konkrete Sportevent ist dann zusätzlich die Erfolgs- bzw. Leidensgeschichte eines jungen, aufstrebenden Spielers bis zum entscheidenden WM-Treffer. Dies geschieht teils rückblendenartig, sekundiert von den beiden allegorischen Figuren der Tugend und des Lasters (Sopran und Mezzo), aber auch durch Gedanken des Spielers (Tenor, anscheinend leicht indisponiert: Simon Bode) selbst.

Wenig überraschend nutzt Moritz Eggert – dessen Oratorium sich ausdrücklich nicht nur an ein klassik-affines Publikum wenden soll – als Klangcollage einiges an vertrauten Fan- bzw. Stadiongesängen, inklusive Stückfetzen, die man regelmäßig auf mitgebrachten Instrumenten hört, und die ja bereits dort oft ironischen Charakter haben können („Weine nicht, wenn ein Törchen fällt, damm damm…“). Großartig sind auf jeden Fall die Farbigkeit und stilistische Vielfalt, die Chor und Orchester generell zu bewältigen haben. Die Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes – überwiegend aus talentierten Laien zusammengesetzt – hat dies im Vorfeld mit Profi-Dozenten in Südtirol perfekt einstudiert und musiziert unter der klaren Leitung von Eggert mit hör- und sichtbarem Engagement: Der Rezensent hat die Aufführung am 25.8.2019 live miterlebt. Das Niveau der Musikakademie bei solch dicken Schinken kann immer wieder nur erstaunen.

Die für die weiblichen Gesangssolisten (Ania Vegry und Ruth-Maria Nicolay geben ihr Bestes) bestimmte Musik karikiert zum Teil Opernhaftes bis ins Lächerliche, manches ist aber dann wieder hervorragend gelungen, beispielsweise die „Verklärung“ – zum Glück keine Eins-zu-eins-Vertonung – von Giovanni Trapattonis berühmtem Presseauftritt („Was erlauben Strunz?“) als große Sopranarie. Andere Anspielungen sind allerdings nur albern („Ich kenne des Menschen nicht. – Wahrlich, du bist auch einer von denen…“) und reichen heute nicht mehr für eine echte Provokation des Publikums, wie noch 1985 Vergleichbares in Mauricio Kagels Sankt-Bach-Passion. Im Finale beweist Eggert, dass er durchaus ein eindrucksvolles Vokalensemble mit Chor komponieren kann. Insgesamt ist die Musik des mit knapp zwei Stunden etwas lang geratenen Werkes – besonders in der Ersten Halbzeit wünschte man sich, dass es straffer voranginge – verständlich, über weite Strecken tonal und witzig, ohne sich billig anzubiedern. Als Reflexion über das gesellschaftliche Phänomen Fußball werden etliche Aspekte angesprochen. Allzu beißender Sarkasmus, wie etwa in Peter Eötvös‘ Halleluja – Oratorium balbulum (2016), bleibt dem Hörer erspart.

Für die Studienstiftung war das aufwändige Konzert leider nicht ganz der erwartete Erfolg: Hätte man ein Jahr zuvor mit Mahlers Achter wohl das sprichwörtliche Fußballstadion füllen können, war die Münchner Philharmonie bei Eggert nur zu 30% ausgelastet – unter Tiefe des Raumes hatten sich die Veranstalter sicherlich etwas anderes vorgestellt. Dass vielen da eine wirklich mutige und gelungene Darbietung entgangen ist, zeigt die in üblich hoher NEOS-Qualität aufgemachte CD-Veröffentlichung, die nun Gelegenheit bietet, das Verpasste nachzuholen – äußerst unterhaltsam ist das allemal. Aufnahmetechnisch wurde die riesige Besetzung recht überzeugend eingefangen – lediglich der Chor klingt gegenüber den deutlich im Vordergrund agierenden Solisten ein wenig topfig. Glücklicherweise enthält das Booklet auch das komplette Libretto.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2021]

Tolle Repertoire-Entdeckungen des Expressionismus

Oehms Classics, OC 491; EAN: 4 260034 864917

Judith Igolfson (Violine) und Vladimir Stoupel (Klavier) widmen sich in ihrem bei Oehms Classics erschienenen Album expressionistischen Violinsonaten von Karol Rathaus, Heinz Tiessen und Paul Arma aus den Jahren 1925 und 1949. Die beiden letzteren Werke werden hiermit zum ersten Mal auf CD vorgelegt.

Diese CD ist eine große Überraschung, eine tolle Sache. Ich muss gestehen, mich immer noch darüber zu wundern, dass sie ausgerechnet bei einem so spießigen Label wie Oehms Classics erschienen ist, wo man praktisch gar keinen Wert auf Repertoireentdeckungen legt und eigentlich immer nur im kommerziell sicheren Fahrwasser von gängigen Symphoniezyklen und gehypten Opernproduktionen unterwegs ist, die von mittelprächtig bekannten Orchestern und Dirigenten aufgeführt werden, meist nur zur Selbstprofilierung der betreffenden Häuser und ohne Relevanz für den nationalen wie internationalen Tonträgermarkt. Naja, auch ein blindes Huhn wie Oehms kann gelegentlich ein goldenes Ei vorzeigen, wenn’s ihm andere (also hier die eigenwilligen Künstler und die finanzierende Koproduktionsanstalt Deutschlandfunk Kultur) ins Nest legen – obwohl: bei EDA, Genuin, Audite, Neos, um nur mal ein paar deutsche Labels mit ernsthafterem Anspruch zu nennen, wäre diese CD besser aufgehoben gewesen als beim zwar gut vernetzten, doch total unglaubwürdigen Oehms. Aber gut, kommen wir zum Inhalt:

Das Programm ist ausgesprochen spannend und in der expressionistischen Grundhaltung dramaturgisch so schlüssig wie überraschend abgestimmt. Der hochbegabte Schreker-Schüler Karol Rathaus (1895–1954) aus Tarnopol lebte in Berlin, als er 1925 seine dreisätzige, ausgesprochen individuelle Sonate für Geige und Klavier op. 14 schrieb – in dissonanzfreudiger freier Tonalität – ein durchweg fesselndes Werk. Mit Beginn des Dritten Reichs emigrierte Rathaus nach Paris, dann London, und schließlich 1938 nach New York. Er sollte wieder häufiger gespielt werden, gerade seine gehaltvoll expressive Orchestermusik würde die monotonen Spielpläne unserer Konzertsäle bereichern.

Der Ostpreuße Heinz Tiessen (1887–1971) wirkte schon recht früh in Berlin, wo er bis zu seinem Tode ein hochgeachteter Lehrer war, dessen Schule so bedeutende Musiker wie Eduard Erdmann, Wladimir Vogel oder Sergiu Celibidache durchliefen. In den ruhelosen 1920er Jahren gehörte er als Mitglied der fortschrittlich-linken Novembergruppe zu den großartigsten Komponisten des deutschen Expressionismus, und nun legen Ingolfsson und Stoupel hier die Ersteinspielung seiner einzigen, im gleichen Jahr 1925 komponierten Duo-Sonate op. 35 für Geige und Klavier vor. Vor allem der langsame Satz und große Teile des Finales gehören zum besten und originellsten, was für diese Kombination in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde, und es ist wirklich seltsam, dass niemand vorher auf den Gedanken kam, diese Musik, die einst von Georg Kulenkampff aufgeführt wurde, auszugraben. Eine ganz große Entdeckung!

Die vielleicht größte Überraschung freilich ist die 1949 komponierte Sonate von Paul Arma (1905–1987), geboren als Imre Weisshaus in Budapest, Schüler Bartóks, ab 1931 Assistent von Hanns Eisler in Berlin, 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen, dort Mitglied der Résistance, ab 1958 französischer Staatsbürger und ein äußerst fruchtbarer Komponist, den man vor allem seiner Flötenwerke wegen kennt. Er hat aber auch viel erstklassige Musik für andere Instrumente verfasst, zu welcher auch vorliegende Sonate gehört, die aus dem Manuskript ersteingespielt wurde. Diese Sonate ist den Instrumenten weniger „auf den Leib geschneidert“ als die Sonaten von Tiessen und vor allem Rathaus, sie ist eher strukturell konzipiert, mit viel dunklen Beleuchtungswechseln, scharfen Kontrasten, Erkundung sparsamer und langsamer Regionen. Aber immer ausdrucksvoll und sehr spannend. Der Kopfsatz dauert geschlagene 16 Minuten (so lang wie die gesamte, sehr dicht gebaute Tiessen-Sonate).

Die CD ist sehr solide musiziert, in jeder Hinsicht untadelig in der Geige, von offenkundigem Gestaltungswillen auch im Klavier, wo lediglich ein paar sehr aufgeraute Forte-Akkorde und vor allem das recht unorganische Rubato (vorschriftsgemäß zwar, doch zu eckig, nicht aus der Musik gewachsen) noch von geistiger Nachbesserung profitieren würden. Der Aufnahmeklang ist ebenfalls solide, die Kommentare der Künstler im Beiheft sind knapp aber korrekt. Am geringen Umfang von Letzterem zeigt sich, wie Oehms Classics diese eigentlich sensationelle Produktion behandelt.

[Sara Blatt, Oktober 2021]

Alles atmet Freiheit – Villa-Lobos auf der E-Gitarre

Aldilà Records, ARCD 018 (Gramola 98018; Vertrieb: Naxos); EAN: 9 003643 980181

Für Aldilà Records hat der Gitarrist Gunter Herbig Kompositionen von Heitor Villa-Lobos auf der Elektrischen Gitarre eingespielt. Zu hören sind: Cinq Préludes, Suite Popular Brasileira, Choros Nr. 1 und die Aria aus Bachianas Brasileiras Nr. 5. In letzterer tritt zur Gitarre die Samba-Sängerin Alda Rezende hinzu.

Gunter Herbig ist zunächst offenkundig ein Weltbürger: Der Deutsch-Brasilianer ist geboren in Brasilien, wuchs in Portugal und Deutschland, wo er auch studierte, auf, und lebt seit 1989 in Neuseeland. Außer dem sprichwörtlichen Weltbürgertum hat sein Musizieren so gar nichts Bürgerliches an sich.

Für Naxos nahm er vor einigen Jahren neuseeländische Musik auf, darunter die feinen Meisterwerke vom großen Nationalkomponisten Douglas Lilburn und vor allem von dessen hochoriginellem Schüler David Farquhar. Dann kam ein Hammer: das audiophile schwedische Label BIS veröffentlichte sein Album ‚Ex oriente‘ mit seinen Arrangements von Klavierstücken Gurdjieff/de Hartmanns, gespielt auf der E-Gitarre. Es ist davon schlicht zu sagen, dass die in ihrer harmonischen Schlichtheit und melodischen Weitgeschwungenheit einmalige Musik George Ivanovitch Gurdjieffs noch nie so adäquat dargeboten wurde, von keinem Pianisten inklusive ihrem Verfasser Thomas de Hartmann, dessen authentische Aufführungen natürlich mit ihrer Aufrichtigkeit beeindrucken und berühren. Doch Herbig verleiht dieser Musik einen ganz anderen, unendlich scheinenden Raum, eine visionäre Kraft, die durch seine intuitiv das Transzendente stützende Phrasierung jenseits aller ‚Nettiketten‘ eine meditative Intensität auf den Hörer überträgt, die dafür sorgt, dass man die CD unendlich oft anhören kann, ohne ihrer jemals müde zu werden. Ja, das ist eines der schönsten Alben, die ich je gehört habe, ein All-Time-Favorite.

Nun also macht Herbig dasselbe mit Heitor Villa-Lobos, dem großen brasilianischen Nationalkomponisten, und zwar – bis auf die abschließende Aria – mit Stücken, die original für Gitarre komponiert wurden. Ohne Verstärker und die nobel eingesetzten Slide-Effekte und den sustained tone von Villa-Lobos konzipiert, geschieht auch hier wieder ein wahres Wunder. Natürlich ist das auch Geschmackssache, und gewiss wird es viele Gitarristen und Gitarren-Aficionados geben, die das von vornherein ablehnen oder sich einfach nicht damit anfreunden können. Wobei nicht auszuschließen ist, dass hier öfter als zugegeben auch Eifersucht im Spiel sein mag. Denn Herbig erschließt der Gitarre nicht nur einen tragenden Klang, den sie ohne die Verstärkung nicht hat, und eine damit verbundene intensivierte Gesanglichkeit, sondern auch eine Vielfarbigkeit, wie sie eben bei kürzeren, schneller verschwindenden Tönen nie entstehen kann. Vor allem aber ist er ein herausragender Musiker, bei dem der Klang dann doch letztendlich Nebensache ist (da kann man beispielsweise auch an Michelangeli oder Celibidache denken, die ja auch zu Recht als ‚Klangmagier‘ gelten und deren wahre Stärke doch jenseits der materiellen Dimension der Klangzauberei liegt). An Herbig fesseln sowohl sein ‚Groove‘ – die Musik schwingt und fließt immerzu, es gibt keine unfreiwilligen Ecken und Kanten, und doch ist das nie mechanisch gleichförmig, sondern immer voll der minimalen (und oft auch offenkundigen, immer atmenden) Irregularitäten des echten Lebens – als da auch fesselt: sein feinstofflicher Sinn für die ins Unendliche ausschwingende Melodie, beseelt, beflügelt, den Hörer auf die Reise mitnehmend, ohne ihn je zu zwingen, zu nötigen. Alles atmet Freiheit. Innere Ruhe, achtsam artikulierende Tiefenentspannung, die sanfte Entführung ins Unbekannte, das im Bekannten eine Tür öffnet, durch die nur geht, wer es nicht ideologisch erzwingen will. Wahre Musik ist eben kein Testosteron-Wettbewerb, und der wahre Gewinner ist, der keine Gegner kennt, sondern in der Selbstbegegnung dem Hörer die Chance zur Selbstbegegnung offeriert.

Zum Schluss dann die Krönung: die weltberühmte Aria, so wunderschön verewigt von Göttinnen wie Victoria de los Angeles, Arleen Augér, Bidu Sayão, Anna Moffo, Barbara Hannigan und allerhand großen Maestri, angefangen mit Stokowski, Reiner und Villa-Lobos selbst – und hier singt die in Neuseeland lebende brasilianische Samba-Sängerin Alda Rezende. Zuerst: Sie singt es in tiefer Lage, die Stimme klingt immer wieder zum Verwechseln ähnlich einer hohen Männerstimme, und es ist gar nicht eine klassisch ausgebildete Stimme, sondern eine reine Naturstimme, allerdings von hoher Verfeinerung und grandioser Nuancierungskunst. Vergesst ganz einfach alles, was ihr in diesem wunderbaren A-B-A-Lied je gehört habt: Diese Aufnahme schafft unserer Seele, unserer kollektiven Innenwelt einen immerwährenden Sommer des Gemüts, eine Fata Morgana niemals verbleichender Schönheit jenseits aller Moden. Es ist bei dieser Aufnahme ein Hit im schönsten Sinne dieses Begriffs herausgekommen, ebenso unaufdringlich wie weltumfassend, den Kenner, der keine Scheuklappen aufgesetzt hat, zutiefst ergötzend, und zugleich eine Darbietung für die Ewigkeit, die jederzeit neben globalem Populärkulturgut wie dem originalen Yesterday der Beatles ein jedes Ohr zu durchfluten und in Verzückung zu versetzen imstande sein wird – wenn sie die mediale Gelegenheit dazu bekommt.

Wie ich hörte, dürfen wir demnächst bei Aldilà Records ein weiteres potenzielles Kultalbum von Gunter Herbig erwarten: Arvo Pärt auf der elektrischen Gitarre. Wenn das stimmt, kann ich’s kaum abwarten. Was die etablierten Kritiker darüber schreiben, ist ebenso ‚wurscht‘ wie beim aktuellen Villa-Lobos-Album – falls sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen: Diese Musik spricht direkt zum Hörer und bedarf keiner päpstlichen Bullen, um ihre Essenz zum Hörer zu transportieren. Hört, hört, und denkt euch nichts dabei, wenn es euch gefällt und die Gralshüter der angeblichen Authentizität ihre Probleme mit dem Echten, das nicht als das ‚Korrekte‘ daherkommt, nicht verbergen können.

[Sara Blatt, Oktober 2021]

Różycki-Ausgrabung und Tschaikowsky unter Zombies

Warner Classics, 0190295191702; EAN: 1 90295 19170 2

Als „Phoenix Concerto“ hat nun ein teils aus Fragmenten rekonstruiertes Violinkonzert des polnischen Komponisten Ludomir Różycki von 1944 das Licht der Welt erblickt. Als „Füllstück“ enthält die Warner CD des Geigenvirtuosen Janusz Wawrowski und dem Royal Philharmonic Orchestra unter Grzegorz Nowak dann allerdings einmal mehr das Tschaikowsky-Konzert.

Mit relativ hohem Werbeaufwand und von etlichen – zumeist polnischen – Institutionen gesponsert, hat der Violinist Janusz Wawrowski (*1982) auf Warner nun die Einspielung eines bisher größtenteils als verschollen angesehenen Violinkonzerts von Ludomir Różycki (1883–1953) vorgelegt. Różycki, mit den etwa gleichaltrigen Komponisten Karłowicz und Szymanowski eine der Hauptfiguren des Jungen Polen in der Musik, studierte zunächst in Warschau, später dann noch bei Humperdinck in Berlin, wo er sich mit seinem großen Vorbild Richard Strauss anfreundete. Vor allem mit Opern und symphonischen Dichtungen feierte er nicht nur in Polen beachtliche Erfolge. 1944 verlor er jedoch während des Warschauer Aufstands einen Großteil seiner Manuskripte in den Flammen seines Hauses. Bis zu seinem Tod versuchte er mit unbändiger Energie, die vernichteten Werke zu rekonstruieren, was nur zum kleineren Teil gelang.

Für das im Sommer 1944 entstandene Violinkonzert lag zwar bereits ein Klavierauszug und ein unvollständiger Orchestersatz vor, Rekonstruktionen von Jan Fotek und Zygmunt Rychert blieben allerdings erfolglos. Erst durch Wawrowskis Entdeckung des Manuskripts des Klavierauszugs sowie vor allem von 87 Takten eines eigenhändigen Partiturfragments des Komponisten, gelang es Ryszard Bryła nun, eine konsistente Aufführungsversion des – wie bereits das 2. Klavierkonzert von 1941/42 – nur zweisätzigen Werkes zu erstellen. Wawrowski kümmerte sich dabei um eine spielbare – Różycki war von Hause aus Pianist und mit virtuoser Geigentechnik recht wenig vertraut – Fassung des Soloparts. Das viersprachige Booklet gibt darüber angemessen Auskunft, ohne in Details zu gehen.

Das 7-minütige Andante lebt vom über weite Strecken dem Solisten übertragenen elegischen Gesang. Ob die mehr oder weniger direkten Anspielungen an den für Paweł Kochański typischen Stil bei dessen Ausarbeitung des Soloparts von Szymanowskis 1. Violinkonzert so bereits von Różycki intendiert sind oder doch mehr Wawrowskis Idee, lässt sich natürlich ohne Kenntnis der originalen Quellen nicht entscheiden. Daneben erinnert das Violinkonzert öfters an Korngolds Gattungsbeitrag: Im zweiten Satz (16 Minuten) finden sich gewisse Annäherungen sowohl an amerikanische Unterhaltungsmusik als auch Instrumentationsideen, die später dauerhaft in die Filmmusik eingegangen sind. Insgesamt ist das Stück – besonders durch seine stellenweise arg bunte, aufgedonnerte Orchestrierung – für ein Konzert fast etwas zu „operettig“ und im Grunde nur brillanter Edelkitsch; als Entdeckung hingegen nicht uninteressant. Die Interpreten – Wawrowski wird vom Royal Philharmonic Orchestra unter Grzegorz Nowak begleitet – geben hier ihr Bestes. Aufnahmetechnisch vertritt die Veröffentlichung die Position, den Solisten nicht bewusst in den Vordergrund zu setzen; ein eigentlich natürliches Klangbild, das der Rezensent in aller Regel goutiert, welches sich beim folgenden Stück aber als Fehlgriff erweist.

Völlig enttäuschend gerät leider die Darbietung des Tschaikowsky-Konzerts: Selbstverständlich beherrscht Wawrowski den Solopart technisch und klanglich perfekt, doch derart emotional flach und – vor allem durch Nowaks völlig teilnahmsloses, ohne jedwede Agogik stattfindendes Heruntergenudle des Orchesterparts – langweilig habe ich dieses Werk tatsächlich von Profis noch nie gehört. Man kennt zwar solche äußerst tempokonstanten Tschaikowsky-Lesarten von manchen russischen Dirigenten, namentlich Jewgeni Mrawinski – die damit bewusst auf Konfrotationskurs zu verbreiteten, überromantisierenden westlichen Deutungen gingen; aber hier passiert gerade im Kopfsatz zwanzig Minuten lang praktisch überhaupt nichts – nicht mal in der Kadenz. Die Canzonetta ist zumindest klanglich sensibel, jedoch selbst die große Kantilene des Soloparts bleibt verhangen und blutleer – man fühlt sich quasi wie unter Zombies. Wenigstens im Finale nehmen Violinist und Dirigent ein straffes Tempo; alles erscheint da engagierter und wird immerhin eine ganz brauchbare Show.

Fazit: Eine bemerkenswerte Wiedererweckung – freilich keine Sensation – eines nicht allzu substanzreichen Violinkonzerts in der Nachfolge der Spätromantik und eine wirklich überflüssige Tschaikowsky-Wiedergabe, die den Hörer völlig kalt lassen dürfte.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Boris Giltburg und Beethovens Klaviersonaten

Naxos, 9.70310; EAN: 7 30099 73101 0

Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.

Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.

Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.

Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.

Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.

Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.

Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.

[Holger Sambale, September 2021]

Isländischer Postminimalismus

Sono Luminus, DSL-92246; EAN: 0 53479 22462 0

Das US-amerikanische Label Sono Luminus hat sein Album „Moonbow“ ganz dem isländischen Komponisten Gunnar Andreas Kristinsson (Jahrgang 1976) gewidmet. Neben dem titelgebenden Streichquartett, gespielt vom Siggi String Quartet, erklingen noch die Ensemblewerke „Sisyfos“, „Roots“ und „Patterns IIb“, die vom international renommierten CAPUT Ensemble unter Leitung von Guðni Franzson dargeboten werden, sowie das Trio „PASsaCAgLia B“ für Harfe, Schlagzeug und Bassklarinette mit dem Duo Harpverk und Ingólfur Vilhjálmsson.

Das in Virginia beheimatete Label Sono Luminus veröffentlicht als eines der ersten seine Eigenproduktionen jeweils auf zwei Scheiben: einmal als normale Compact Disc (Digital Audio) und dann nochmals auf Bluray in verschiedenen hochauflösenden Formaten wie 5.1 DTS HD MA 24/192kHz, Dolby Atmos und 9.1 Auro-3D, so dass sich der High-End-Hörer die für sein Equipment optimale Technik aussuchen kann. Die Gestaltung des Booklets ist ebenso hochwertig, wenn auch die Texte zu den einzelnen vorgestellten Kompositionen eher knapp ausfallen.

Der aus Reykjavik stammende Komponist Gunnar Andreas Kristinsson wurde zunächst in seiner Heimatstadt ausgebildet, ging danach nach Köln, wo er bei Krzysztof Meyer, später in Den Haag bei Martijn Padding, Diderik Wagenaar und Clarence Barlow studierte. 2009 kehrte Kristinsson wieder nach Island zurück. Seine Musik wurde aber bereits auf zahlreichen internationalen Festivals – wie etwa den Darmstädter Ferienkursen – aufgeführt.

Die hier vorgestellten Werke des Isländers – in den eingespielten Fassungen alle nicht älter als zehn Jahre – könnte man am ehesten als „post-minimalistisch“ bezeichnen. Suchte man nach Ähnlichkeiten zu anderen Komponisten, würde man beim ersten Hören wahrscheinlich zuerst auf den kürzlich verstorbenen Louis Andriessen kommen, der ja unter anderem Lehrer von Padding war. Jedenfalls begegnet man einer typisch westeuropäischen Variante des Minimalismus, die weit mehr auf philosophische – bei Kristinsson daneben vor allem mathematische – Hintergründe zurückgreift als bei den US-Gründervätern der minimal music.

Das dargebotene Repertoire ist dabei leider nicht immer auf derselben Höhe. Entwickelt sich die Musik von Sisyfos – ein einsätziges Konzert für Klarinette und 13-köpfiges Ensemble – anfangs aus in verschiedenen Zeitschichten ablaufenden Skalen, so wird die mythologische Vorlage trotzdem nicht wirklich hörbar umgesetzt, schon gar nicht so wie in den Liner Notes beschrieben, als Kampf des Solisten – stark: Ingólfur Vilhjálmsson – gegen sein Instrument. Trotzdem sind die beiden größer besetzten Werke – neben Sisyfos noch die dreisätzigen Roots (2019) – klar die stärksten dieses Albums. Zwar werden auch in diesen Stücken manche Patterns zu Tode geritten, jedoch zumindest die Intensität einiger Klangfarbenkombinationen lässt aufhorchen. Das isländische CAPUT Ensemble – hier unter Leitung von Guðni Franzson – hat mittlerweile über 20 CDs herausgebracht, darunter so horrend schwierige Stücke wie Nikos Skalkottas‘ 3. Klavierkonzert (BIS). Wiederum gelingen ihm eindringliche, präzise und durchsichtige Wiedergaben – phänomenal die genauestens durchgehörte, aus der Obertonreihe gewonnene und am französischen Spektralismus orientierte Mikrotonalität von Roots, die den Hörer gänzlich in Bann hält.

Das Quintett Patterns IIb – ursprünglich für Gamelan- und westliche Instrumente, nun von Xylophon, Vibraphon, Marimba, Violine u. Bassklarinette vorgetragen – und das Streichquartett Moonbow können den Rezensenten hingegen kompositorisch nicht überzeugen: Das ist schlicht nur langweilig, egal wie durchdacht die im Hintergrund ablaufenden mathematischen Prozesse auch sein mögen. Da hilft dann selbst das an sich klanglich spannungsreiche Spiel des Siggi String Quartet wenig. Die monoton wirkenden Wiederholungen einiger Elemente nerven mit der Zeit sogar. So etwas, bis hin zur Stille, konnten Andriessen oder Feldman immer irgendwie mit Sinnhaftigkeit füllen, die mir bei Kristinsson (noch?) fehlt. Deutlich interessanter wieder das Trio PASsaCAgLia B für Harfe, Schlagzeug und Bassklarinette, das sich aus einem scheinbar dem Dies irae angelehnten Modell zur Form eines Pascalschen Dreiecks (darauf verweisen schon die Großbuchstaben im Titel) entwickelt.

Eine exzellent ausgestattete, aufnahmetechnisch schon in der normalen Stereoversion hervorragende Veröffentlichung, die einmal mehr ein positives Licht auf die nicht zu unterschätzende, lebendige Neue-Musik-Szene Islands mit hochengagierten Interpreten wirft.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Herrliche Entdeckungen aus der Skrjabin-Nachfolge

Toccata Classics, TOCC 0581; EAN: 5 060113 445810

Von den drei bedeutenden Komponisten aus der russisch-jüdischen Musiker-Dynastie der Krein-Familie ist Grigori (1879–1955) heute der unbekannteste. Gut die Hälfte seiner Klavier-Solowerke hat nun der britische, für seine unglaublichen Sorabji-Einspielungen ausgezeichnete Pianist Jonathan Powell auf Toccata Classics herausgebracht, darunter die 2. Sonate, die zu den faszinierendsten russischen Klavierkompositionen ihrer Zeit zählen darf. Abgesehen davon hören wir 60 Minuten Erstaufnahmen.

Die sieben Söhne des Klezmer-Violinisten Abram Krein, der mit seiner Familie um 1870 von Litauen nach Nischni Nowgorod ziehen durfte, wurden allesamt hervorragende Musiker. Drei Komponisten entstammen der Krein-Dynastie: Alexander (1883–1951) ist sicher noch der bekannteste – und war neben fünf anderen Persönlichkeiten bereits Gegenstand der Dissertation Jonathan Powells After Scriabin: six composers and the development of Russian music (1999). Als Wunderkind wurde Julian (1913–1996), Grigoris Sohn, früh eine Berühmtheit; hingegen ist sein Vater ziemlich in Vergessenheit geraten. Die vorliegende CD beweist: Völlig zu Unrecht, denn Grigoris Klavierwerke sind absolut auf Augenhöhe mit seinen modernen russischen Zeitgenossen.

Grigori Krein wurde zunächst in seiner Heimatstadt an der Geige ausgebildet und arbeitete bereits als 16-Jähriger als erster Violinist in der Oper von Tiflis. 1900 folgte er dann seinen Brüdern David und Alexander ans Moskauer Konservatorium und entschied sich dort bald für die Komponistenlaufbahn. Nach seinem Abschluss 1905 wurde er später noch Schüler Max Regers und des damals ebenfalls in Leipzig lebenden Reinhold Glière. Zusammen mit Alexander war Grigori einer von fünf aufstrebenden, modernen Komponisten, die 1914 in einem denkwürdigen Konzert in Moskau vorgestellt wurden: neben Alexei Stantschinski, Leonid Sabanejew und Jewgeni Gunst – die Basis für kommende Erfolge. Von 1927–1934 lebte Grigori mit seinem hochbegabten Sohn Julian in Paris, wo dieser bei Paul Dukas studierte. Nach der Rückkehr in die UdSSR wurde es jedoch ziemlich still um ihn.

Jonathan Powell folgt Grigoris Klaviermusik chronologisch: Beginnend mit dem frühen Einfluss Griegs (Prélude op. 5, Track [08]), kann der Hörer die ungemein schnelle Entwicklung Kreins nachvollziehen. Bereits die Cinq préludes op. 5a und die Deux poèmes op. 5b sind auf der Linie von Skrjabins mittlerer Schaffensperiode. Und in den Deux poèmes op. 10 hat Grigori die komplexe Harmonik Regers schon hinter sich gelassen: Hier finden sich zwar Gemeinsamkeiten mit Skrjabin – exquisite Akkordformationen und -sequenzen ähnlich wie in dessen Spätwerk, etwa der 7. Sonate –, allerdings gleichzeitig und unabhängig von ihm, ganz eigenständig. Grigori Krein übernimmt nicht Skrjabins neue Harmonik auf Basis oktatonischer Skalen, ist eher bi- oder polytonal, scheut nicht das absolut dissonante Aufeinandertreffen verschiedener Ebenen in seiner Musik.

In den folgenden Werken (Poème op. 16, 2 Mazurken op. 19, 3 Poèmes op. 24) manifestiert sich Grigoris Sprache: Das achtminütige Poème antique op. 24, Nr. 3 verweist sowohl auf zeitgenössisches französisches Repertoire (Ravel) wie auch jüdische Volksmelodik – immer zentrales Anliegen bei seinem Bruder Alexander. Der Cortège mystique op. 22 besticht durch seinen fast rituellen, irgendwie manischen Charakter mit flirrenden Arpeggien: Vers la flamme ex negativo. Ist das Stück als Trauermarsch für das kurz zuvor verstorbene Vorbild Skrjabin gedacht?

Bis zu diesem Punkt hat Jonathan Powell bereits eine gute Stunde bisher nicht auf Tonträgern eingespielter Musik vorgestellt. Am Schluss dann noch das Hauptwerk: Grigori Kreins 24-minütige 2. Sonate (1924). Sie ragt, nicht nur vom Umfang her, über viele einsätzige Sonaten der Zeit weit hinaus, selbst die von Nikolai Roslavets oder Samuil Feinberg. Bestechend, wie hier ein riesiger Sonatenhauptsatz sehr verschiedene Elemente konsequent verarbeitet, mit stark modifizierter Reprise. Powell erwähnte dem Rezensenten gegenüber, dass neben den direkten, russischen „Konkurrenten“ seiner Zeit insbesondere wohl auch die Sonate Alban Bergs dafür als Vorbild gelten kann. Das Stück ist wahrlich ein Mount Everest an Virtuosität, verlangt aber vor allem ein tiefes Verständnis für Kreins besondere Harmonik sowie die ständig werkelnden strukturellen Prozesse innerhalb der dichten, meist polyphonen Faktur. Ein in jeder Hinsicht faszinierendes Werk, von dem es bereits eine Aufnahme mit Sascha Nemtsov gibt, jedoch mit geringerer Strahlkraft als bei Powell (Hänssler PH13059).

Powell agiert dabei kongenial – freilich nicht nur aufgrund der Erkenntnisse seiner Doktorarbeit. Erst mit Ende zwanzig erhielt der Brite Unterricht bei Sulamita Aronofsky, die noch Schülerin von Alexander Goldenweiser war, und somit in direkter Verbindung zu diesem speziellen Repertoire steht. Innerhalb weniger Jahre gewann Powell bei ihr den Feinschliff, um nun einer der befähigtsten Klaviervirtuosen weltweit zu sein. Kaum jemand sonst bewältigt derart komplexe und herausfordernde Werke so zuverlässig wie hinreißend. Quasi als Botschafter der intrikaten und endlos langen Klaviermonstrositäten des britisch-parsischen Komponisten Kaikhosru Sorabji steht er praktisch konkurrenzlos da. Für seine Einspielung von Sorabjis 8½-stündiger Sequentia cyclica erhielt er im Mai 2020 den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Sein Steckenpferd bleibt jedoch die russische Klaviermusik vor der Stalin-Ära: Skrjabin und dessen Umfeld.

Sowohl die Miniaturen als auch die Sonate Grigori Kreins sind schon rein klanglich eine Offenbarung. Die teils komplizierte Stimmführung ist immer klar, die Energie der dramatischen Passagen absolut elektrisierend, die brillanten Ausbrüche in Form von schwierigsten Akkordkaskaden oder irrwitzigem Arpeggien- bzw. Passagenwerk erscheinen absolut folgerichtig, nie als pures Blendwerk. Und die neuartige Harmonik klingt bei Powell völlig natürlich und logisch, wobei Kreins Farbenreichtum punktgenau ausgekostet wird. So macht unbekannte Klaviermusik sofort Freude, wozu noch eine ordentliche Aufnahmetechnik kommt. Der Booklettext führt tief in die Thematik ein und stammt von Powell selbst – mit der ihm eigenen, wissenschaftlichen Akribie; leider nur auf Englisch.

Keine Frage, dass nicht nur der Rezensent total begeistert von dieser Veröffentlichung sein dürfte. Bei der Gelegenheit soll der Hinweis auf ähnlich wertvolle Ausgrabungen russischer Musik durch Jonathan Powell auf Toccata Classics nicht fehlen: Dort findet man bislang Georgi Konjus, Leonid Sabanejew, Konstantin Eiges und Alexander Goldenweiser.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Neu- und wiederentdeckte Musik verfolgter Komponisten in Weimar

Weimar, Festsaal Fürstenhaus, 10. September 2021, 20 Uhr: Mit Liedern und Klavierwerken von Günter Raphael (1903–1960), Hans Heller (1898–1969) und Bernhard Sekles (1872–1934) eröffneten Jascha Nemtsov, Klavier, und Tehila Nini Goldstein, Sopran, die Ausstellung „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II“.

Die 2019 in Weimar durchgeführte Ausstellung Verfolgte Musiker im Nationalsozialistischen Thüringen, der sich eine von den Projektleiterinnen Helen Geyer und Maria Stolarzewicz herausgegebene Buchveröffentlichung anschloss (Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, Köln: Böhlau-Verlag 2020), war damals auf großes Interesse gestoßen. Die im Rahmen der Vorbereitungen zu Tage geförderten Dokumente regten zu weiteren Nachforschungen über die Schicksale zahlreicher von den Nationalsozialisten entrechteter Musikerpersönlichkeiten an, sodass bald eine Fortsetzung der Ausstellung ebenso erwünscht wie nötig erschien. Am 10. September 2021 wurde das Ergebnis dieses zweiten Teils der Spurensuche, das bis zum 31. Oktober im Stadtmuseum Weimar zu sehen sein wird, im Festsaal der Hochschule für Musik Franz Liszt feierlich eröffnet. Nach Grußworten von Vertretern der Hochschule, der lokalen Politik, unterstützender Stiftungen, sowie der die Ausstellung betreuenden Kuratorin Maria Stolarzewicz, hielt Peter Gülke (geboren 1934 in Weimar) einen Vortrag über Nicht kündbares Gedenken – Buchenwald, aus welchem vor allem die Schilderungen seiner persönlichen Erlebnisse als Kind während des Krieges einen Einblick in die Schrecken der damaligen Zeit boten.

Den Hauptpunkt des Programms bildete ein Konzert mit Liedern und Klavierwerken von Komponisten, die während der NS-Zeit wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden. Der Pianist Jascha Nemtsov und die Sopranistin Tehila Nini Goldstein knüpften damit an ein Konzert an, das sie im November 2020 am gleichen Ort gegeben hatten (siehe Besprechung). Erneut wurden Werke dreier deutscher Komponisten jüdischer Abstammung vorgestellt, die nach dem Willen rassistischer Ideologen für immer hätten verstummen sollen: Günter Raphael, Bernhard Sekles und Hans Heller, der bereits im Konzert von 2020 vertreten war. Jascha Nemtsov, der an der Weimarer Musikhochschule eine Professur für die Geschichte der jüdischen Musik inne hat, muss einmal mehr für seinen Entdeckerspürsinn und seinen unermüdlichen Einsatz für in die Vergessenheit abgedrängte Musik gelobt werden. Wie zahlreiche seiner früheren Konzerte bot auch dieses Ur- und Erstaufführungen. Mit kurzen, auf den Punkt gebrachten Einführungen zwischen den Programmnummern umriss der Pianist zudem den Lebenslauf eines jeden der Komponisten.

Günter Raphael hat als einziger der im Konzert zu Gehör gebrachten Komponisten bislang eine ausgiebige diskographische Würdigung erfahren. Mittlerweile liegt ein großer Teil seiner Orchester- und Kammermusikwerke auf CD vor – verwiesen sei hier namentlich auf die mittlerweile auf sieben CDs angewachsene Günter-Raphael-Edition von Querstand und die beiden Boxen mit Symphonien und Violinmusik von cpo –, doch kann man keineswegs behaupten, alle Schätze aus seinem umfangreichen Schaffen seien gehoben (so fehlt nach wie vor eine Einspielung der Ersten Symphonie). Der 1903 geborene Raphael, in den 1920er Jahren einer der erfolgreichsten jüngeren Tonsetzer Deutschlands, war nie jüdischen Glaubens gewesen, galt aber als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kirchenmusikers der NS-Rassenlehre zufolge als „Halbjude“ und wurde 1934 aus seinem Lehramt am Leipziger Konservatorium entlassen. Ab 1939 war ihm jede musikalische Betätigung untersagt, sodass er nur durch die Hilfe von Freunden überleben konnte. Den Großteil der NS-Zeit verbrachte er in Meiningen. Die Drei geistlichen Lieder op. 3, ein beeindruckend souveränes Frühwerk, zeigen Raphaels künstlerischen Ursprung in der protestantischen Kirchenmusik. Mit ihren choralartigen Harmonien, dem durchweg kontrapunktischen, ostinate Satztechniken bevorzugenden Klaviersatz und einer rhythmisch einfachen, in gleichmäßigen Notenwerten ruhig dahinströmenden Melodik wirken sie betont altmeisterlich, wie ein Bekenntnis zu Bachschem Geist.

Im Gegensatz zu Raphael, der sich immerhin in der Nachkriegszeit als Komponist und Lehrer wieder etablieren konnte, gelang es dem 1898 in Greiz geborenen Hans Heller weder in Amerika, noch in Deutschland nach 1945 erneut Fuß zu fassen. Heller gehörte zum Berliner Schülerkreis Franz Schrekers und floh nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht verhaftet wurde. Aus einem Arbeitslager geflohen, hielt er sich mit Hilfe französischer Widerstandskämpfer bis zum Kriegsende versteckt. Er starb 1969. Wie die Klaviersonate, die Jascha Nemtsov 2020 in Weimar spielte, zeigen auch die diesmal vorgestellten Werke, dass Heller ein unbedingt beachtenswerter Komponist ist, dessen Schaffen verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. In seiner Musik verbinden sich „neusachliche“ Kontrapunktik und expressive Harmonien zu eindringlichen Äußerungen einer starken Persönlichkeit. Ein Lied in deutscher und eines in französischer Sprache, die beide durch Goldstein und Nemtsov zum ersten Mal überhaupt vorgetragen wurden, boten Bilder von ausgesprochener Düsternis. Sehr spannungsvoll wirkten auch die sechs kurzen Sätze einer Little Suite für Klavier.

Bernhard Sekles fällt insofern etwas aus dem Rahmen der Veranstaltung, als dass er weder aus Thüringen stammte, wie Heller, noch dort zeitweilig lebte, wie Raphael. Seinen Lebensmittelpunkt bildete Frankfurt am Main, wo er 1872 geboren wurde und 1934 starb. Nichsdestoweniger kann man die Aufnahme seiner Werke in das Konzert nur begrüßen. Sekles ist kein unbekannter Name. Man weiß, dass er viele Jahre das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt leitete und kennt ihn als Lehrer hervorragender Musiker wie Rudi Stephan, Hans Rosbaud und Paul Hindemith. Jazzfreunde werden ihm stets dafür danken, dass er 1925 Mátyas Seiber mit der Einrichtung der ersten Jazzklasse an einem deutschen Konservatorium betraute und damit der akademischen Würdigung des Jazz den Weg wies. Wer Sekles dagegen als Komponisten kennen lernen möchte, dem steht derzeit nur eine einzige CD mit Klavierkammermusik zur Verfügung, die bei Toccata Classics herausgekommen ist. Seine Orchesterwerke, Streichquartette, Opern, Lieder und Klavierstücke warten dagegen noch auf ihre Ersteinspielungen. Womöglich gibt es auch noch Stücke, die bislang gar nicht gespielt worden sind. Einen solchen Fall stellten bis vor kurzem jedenfalls die Fantasietten für Klavier dar, deren Manuskript Jascha Nemtsov im Archiv des Frankfurter Konservatoriums fand. Er stellte sie als erster Pianist der Öffentlichkeit vor, die Weimarer Aufführung war die zweite überhaupt. Es handelt sich um eines der letzten Werke des Komponisten und konnte aufgrund widriger Umstände nicht mehr zeitnah zu seiner Entstehung veröffentlicht werden: 1933 wurde Sekles von der neuen Machthabern aus seinen Lehr- und Verwaltungsämtern gedrängt. Er erkrankte an Tuberkulose und starb eineinhalb Jahre später. Die insgesamt 24 Fantasietten zeigen den Komponisten als einen Meister musikalischer Miniaturkunst. Viele der Stücke dauern keine Minute, doch wirken sie durchweg in sich geschlossen: aphoristisch, nicht fragmentarisch. Innerhalb weniger Takte entfaltet Sekles erlesene harmonische und kontrapunktische Kunst. Vom Abwechslungsreichtum des Zyklus mögen die Titel einiger Stücke einen Eindruck geben: Für die rechte Hand, Für die linke Hand, Rhapsodie, Thema und Variationen, Slawischer Tanz, Triumphmarsch, Trauermarsch, Ländler, Polonaise (im geraden Takt!), Menuetto, Duo. Das Finale bildet eine Fuge über den Ton C, deren Thema tatsächlich nur aus vier gleich langen Cs besteht. Minimalistischer geht es wahrlich nicht! Wie Sekles es schafft, diesem Thema eine interessante kontrapunktische Bearbeitung angedeihen zu lassen und daraus einen bei aller Kürze reichhaltigen musikalischen Verlauf zu entwickeln, verdient Bewunderung. Hoffen wir, dass eine Veröffentlichung dieses hochinteressanten Zyklus bald erfolgen wird! Auch vom Liederkomponisten Sekles gaben Goldstein und Nemtsov einen sehr vorteilhaften Eindruck. Die exotisch angehauchten Lieder aus dem Zyklus Aus dem Schi-King boten zarte, feinsinnige Impressionen der Asien-Sehnsucht des Fin de Siècle.

[Norbert Florian Schuck, September 2021]

NB: Am 23. September 2021 wird im Erfurter Dom Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten seine Uraufführung erleben.

„Wer möchte nicht im Leben bleiben…“ – Eine Ausstellung zum Komponisten Kurt Schwaen

Bildquelle: Kurt-Schwaen-Archiv, Iske

Am 15. August 2021 wurde im Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf eine Ausstellung über den Komponisten Kurt Schwaen (1909–2007) eröffnet. Bis zum 22. April 2022 werden in drei sorgfältig und detailreich gestalteten Räumen Leben und Werk Schwaens vorgestellt.

Kurt Schwaen, einer der wichtigsten Komponisten der ehemaligen DDR, wurde 1909 in Kattowitz geboren und studierte zunächst ab 1929 in Breslau und Berlin u.a. Musikwissenschaft. Angesichts der faschistischen Machtergreifung brach Schwaen, seit 1932 Mitglied der KPD, seine Studien ab und nahm am Widerstand gegen das NS-Regime teil, wurde verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, stand unter Polizeiaufsicht und wurde 1943 in die Strafdivision 999 einberufen. 1945 desertierte er und erlebte das Kriegsende versteckt in Berlin. Bereits von 1938 bis 1943 als Pianist in Tanzstudios aktiv (u.a. als Begleiter von Oda Schottmüller und Mary Wigman), war Schwaen nach dem Krieg wesentlich am Aufbau des Musiklebens in der DDR beteiligt und engagierte sich insbesondere für Laienmusizieren und Musikpädagogik. Seit 1953 freischaffender Komponist, arbeitete er mit Persönlichkeiten wie Bertolt Brecht zusammen; er war u.a. im Komponistenverband der DDR tätig und wurde 1961 Mitglied der Deutschen Akademie der Künste. Schwaen, der bis zu seinem Lebensende kompositorisch aktiv blieb, starb 2007 in seinem Haus in Berlin-Mahlsdorf. Für ausführlichere Darstellungen seines Lebens sei auf die Homepage des Komponisten bzw. auf den Wikipedia-Eintrag zu Schwaen verwiesen.

Als Komponist war Schwaen weitgehend Autodidakt. Grundsätzlich Neoklassizist, sind die Einflüsse, aus denen sich sein eigener Stil herausbildete, mannigfaltig: Hindemith, Strawinski, Bartók, teilweise Eisler (vor allem dessen politische Lieder), tonal grundierte Zwölftontechnik, deutsche und slawische Volksmusik, Tänzerisches, leichte Jazzanklänge, aber auch Bach und Mozart. Bei aller stilistischen Vielfalt ziehen sich eine Reihe von Charakteristika durch sein gesamtes Schaffen. Kennzeichnend ist etwa die oft aphoristische Kürze seiner Musik und ihre Sparsamkeit in der Wahl der Mittel. Schwaen strebte immer nach Klarheit; Pathos vermied er ebenso wie Sentimentalitäten und emotionalen Überschwang. Auffällig ist die pulsierende, dynamische Rhythmik vieler seiner Werke. Sein Werkverzeichnis ist umfangreich und umfasst zahlreiche Besetzungen und Gattungen; insgesamt listet das Kurt-Schwaen-Verzeichnis nicht weniger als 667 Werke.

Seit Mitte August stellt eine Ausstellung im Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf (am Dorfanger des historischen Dörfchens Alt-Marzahn in den Außenbezirken Berlins) in drei Räumen Leben und Schaffen Schwaens vor. Ihr Titel „Wer möchte nicht im Leben bleiben“ nimmt Bezug auf eines der bekanntesten Lieder Schwaens, ursprünglich Teil seiner Musik zum Film Sie nannten ihn Amigo aus dem Jahre 1959. Neben einem Überblick über die wichtigsten Stationen seines Lebenswegs liegen besondere Schwerpunkte u.a. auf Schwaens Zusammenarbeit mit Künstlerpersönlichkeiten wie Bertolt Brecht oder Günter Kunert sowie auf seinem musikpädagogischen Schaffen. Auch auf Schwaens weiteres Œuvre wird unterteilt nach Gattungen und Besetzungen umfassend eingegangen.

Als zentrales Medium der Informationsvermittlung dienen große Informationstafeln in Form von Fahnen, die mit Texten, Bildern und allerhand Dokumenten aus dem Leben Schwaens aufwarten und mit viel Liebe zum Detail gestaltet sind; so basiert etwa der Hintergrund jeder Fahne auf Notenmaterial aus einem jeweils passenden Werk Schwaens. Darüber hinaus findet man eine Reihe von Schaukästen, zum Beispiel zur Funk- bzw. Fernsehfilm-Oper Fetzers Flucht und ihrer wechselhaften Rezeptionsgeschichte oder zu Schwaens seit 1939 geführten Tagebüchern, und allerhand weitere Exponate wie Theaterrequisiten, Notenmaterial und sogar Werkzeug zum Erstellen von Notenpapier. Besonders hervorzuheben ist, dass die Ausstellung eng mit der Musik Schwaens verknüpft ist: in jedem der Räume befindet sich eine Hörstation, an der per Kopfhörer Auszüge aus einer ganzen Reihe von Werken Schwaens angehört werden können. Auf die jeweils in den Kontext passenden Hörbeispiele wird auch in den darstellenden Texten auf den Fahnen verwiesen, sodass es möglich ist, die Ausstellung nicht nur lesend, sondern auch hörend nachzuvollziehen. Zu den Dokumenten, die eingesehen werden können, zählt u.a. auch ein vollständiges und detailliertes Werkverzeichnis Schwaens.

So wird dem Besucher eine Fülle von Informationen zu Kurt Schwaen geboten, eine sehr reichhaltige, vielseitige und liebevoll gestaltete Ausstellung, die den Komponisten vorzüglich porträtiert und präsentiert.

Die Ausstellungseröffnung fand am 15. August 2021 in Anwesenheit von Ina Iske-Schwaen statt, der Frau des Komponisten, die seit seiner Gründung im Jahre 1980 das Kurt-Schwaen-Archiv leitet. Für die musikalische Untermalung sorgte das Duo Douglas Vistél (Violoncello) und Almuth Kraußer-Vistél (Klavier), das Auszüge aus Werken Schwaens wie dem Concertino. Hommage à Bartók, den Acht kuriosen Walzern oder den Sequenzen in Es präsentierte; alle diese Stücke sind im Übrigen mit denselben Interpreten auf CD bei den Labeln Kreuzberg Records bzw. Thorofon veröffentlicht worden. Bis zum 22. April 2022 ist die Ausstellung von Montag bis Freitag jeweils von 10:00 bis 18:00 Uhr in Haus 1 des Bezirksmuseums Marzahn-Hellersdorf, Alt-Marzahn 51, 12685 Berlin, Telefon 030-54790921, zu besichtigen; der Eintritt ist frei.

[Holger Sambale, September 2021]

Klaviertrios des „Mächtigen Häufleins“

Naxos 8.574114; EAN: 7 4731341147 4

Die dritte Folge der hochengagierten Naxos-Serie „History of the Russian Piano Trio“ widmet das Moskauer Brahms Trio den Komponisten Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimsky-Korsakow. Zumindest eine gewichtige Entdeckung ist darunter.

Das Moskauer Brahms Trio (Nikolai Sachenko, Violine; Kirill Rodin, Cello; Natalia Rubinstein, Klavier) hat mittlerweile die erste Serie der Geschichte des russischen Klaviertrios, bestehend aus fünf Naxos-CDs, die der Romantik/Spätromantik gewidmet sind, abgeschlossen. Wenn man auf die Webseite der Künstler geht, scheint aber zumindest geplant zu sein, zwei weitere Staffeln folgen zulassen, wohl mit Trios aus dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ (ein Begriff, der sich historisch nicht so ganz eindeutig von der Literatur auf die Musik übertragen lässt) und solchen der Sowjetzeit bis heute. Das wäre zu begrüßen, denn die bisher vorliegenden Aufnahmen können sämtlich überzeugen – nicht nur programmatisch, wobei sich die CDs jeweils mit einer noch genauer eingrenzbaren musikhistorischen Situation und deren Protagonisten beschäftigen, und neben einigen Klassikern wie Tschaikowsky oder Tanejew kaum bekanntes oder gar gänzlich unbekanntes Repertoire ans Licht bringen. Die Interpretationen selbst sind auf erfreulich hohem Niveau, reichen selbst bei den häufig zu hörenden Werken an die Spitzeneinspielungen heran.

Die dritte CD der Reihe nimmt nun die Klaviertrio-Beiträge des „Mächtigen Häufleins“ unter die Lupe. Bei den fünf nationalistisch gesinnten Novatoren fällt auf, dass die Kammermusik dort keine – im Falle Mussorgskys – bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielt. Balakirew schrieb nichts für Klaviertrio, und die drei hier vorgestellten Werke von Borodin, Rimsky-Korsakow und Cui zeugen von einem zumindest nachlässigen Umgang selbst ihrer Schöpfer mit ihnen. César Cuis kurzes Farniente ist lediglich die Bearbeitung des zweiten Klavierstücks aus dem Zyklus À Argenteau op. 40, und wäre dabei ein liebenswerter Beitrag Pariser Salonmusik – Cuis Vater war Franzose –, allerdings mit einer Generation Verspätung. Die einschmeichelnde, fast süßliche Melodik bringt das Brahms-Trio mit Delikatesse herüber, ohne ins Kitschige abzugleiten.

Das frühe D-Dur-Trio Borodins – entstanden zwischen 1850 und 1860 – war entweder unvollendet, oder das Finale ist verschollen. Klar, dass ihm als Fragment der Weg in den Konzertsaal versperrt blieb. Hierbei handelt es sich bereits um ein musikalisch hochwertiges Stück, das noch stark an Mendelssohn orientiert ist und kaum etwas von Borodins späterer Farbigkeit erahnen lässt – als Tonkonserve trotzdem ein echter Hinhörer.

Eine ganz andere Nummer ist das gewichtige, über 40 Minuten dauernde Klaviertrio c-Moll Rimsky-Korsakows. Warum der Komponist das Stück aus seiner intensivsten Schaffensperiode (1897), in der er sich hingegen fast ausschließlich der Oper widmete, geringschätzte und es selbst nicht ganz bis zur Druckreife vollendete, bleibt unverständlich. Wir können froh sein, dass sein Schwiegersohn Maximilian Steinberg – als Komponist erst seit den 1990ern wieder im Gespräch – das Trio 1939 fertiggestellt hat. Getrost könnte man hier von einem Meisterwerk sprechen, das nur noch erstaunlich wenig von der national-gefärbten Grundhaltung des „Mächtigen Häufleins“ erkennen lässt. Vielmehr hören wir Kammermusik, die sich ganz bewusst in eine lange Tradition stellt, die von Beethoven (Kopfsatz) über zwei hochromantische Sätze bis zu einem ausufernden Finale mit einer mehrfach unterbrochenen, komplexen Fuge reicht. Wollte Rimsky-Korsakow hier Tanejews Postulat einer „eigenen nationalen Musik“ [„Was sollen die russischen Komponisten tun?“ (1879)], die nur durch kontrapunktische Auseinandersetzung mit dem russischen Lied denkbar sei, gerecht werden?

Jedenfalls nimmt das Brahms Trio Rimsky-Korsakows Komposition völlig ernst, lässt die Bezüge zur Tradition hörbar werden, aber auch, dass der Komponist hier einen konsistenten, persönlichen Beitrag zur Geschichte des Klaviertrios in Russland geschaffen hat. Der erste Satz verbindet recht klassische Formung mit der elegischen Stimmung, die man etwa aus Rachmaninows großem, zweiten Trio kennt, das ein paar Jahre zuvor entstand; und das lange Finale gelingt absolut überzeugend. Das Stück hätte so heute durchaus das Zeug, selbstverständlich ins Repertoire zu gehören. Klanglich spielen die drei Künstler sehr differenziert; da, wo es die Partituren verlangen, andererseits homogener als manches aus Superstars quasi ad hoc zusammengestellte Klaviertrio. Die Dynamik wird öfters für eine bessere Durchhörbarkeit zurückgenommen; die Emotionalität und erkennbare Empathie für diese Wiederentdeckungen leiden jedoch nicht darunter. Die Aufnahmen aus dem berühmten Konzertsaal des Moskauer Konservatorium sind keine Großtat, was Räumlichkeit betrifft; das Klangbild findet dabei eine sehr angenehme Balance zwischen Hall und Durchsichtigkeit – insgesamt äußerst gelungen. Wer seinen Horizont in Sachen russischer Kammermusik erweitern möchte, sollte hier auf jeden Fall zugreifen.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Strenge Exerzitien statt totaler Versenkung

Wergo 7328 2; EAN: 4 010228732825

Nach den Suiten Nr. 9 & 10 (Wergo 6794) hat die Münchner Pianistin Sabine Liebner nun Einspielungen der Klaviersuiten Nr. 8 & 11 des italienischen Außenseiters Giacinto Scelsi auf CD veröffentlicht.

Sabine Liebner hat sich seit etlichen Jahren vor allem einen Namen durch engagierte Interpretationen von Klavierwerken aus dem Umfeld der sogenannten New York School gemacht, namentlich der Komponisten Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff und vor allem John Cage. Dieser Musik ist sicher gemeinsam, dass sie sich allem „Gewollten“ – wofür exemplarisch das Werk Beethovens wie auch ein Großteil der Musik romantischer Tradition stünde – ganz bewusst (oder ist dieses Wort dafür bereits zu stark?) verweigert; nur eine Form der „Ablehnung des künstlerisch sich ausdrückenden Subjekts als kompositorische Instanz“ (Federico Celestini) in den 1950ern. Außerdem spielt nicht nur bei Cage die Beschäftigung mit fernöstlicher Philosophie und Mystik (I Ging) eine gewichtige Rolle. Was liegt da näher, als sich nun mit der Klaviermusik des italienischen Exzentrikers Giacinto Scelsi (1905–1988) zu beschäftigen?

Bis in die 1980er Jahre nahezu unbekannt, erlangte der wohlhabende, italienische Adlige – der nur sporadisch unterrichtet wurde, sich selbst mehr als Medium denn als Komponist sah – durch hochrangige Darbietungen auf internationalen Festivals noch kurz vor seinem Tod fast Kultstatus. Man unterscheidet bei Scelsi zwei Schaffensphasen: vor und nach einer veritablen psychischen Krise an der Wende der späten 1940er zu den 1950er Jahren. Nur die Werke ab 1952 sah der Komponist als „eigentlich“ an. Tatsächlich hielt Scelsi – zumindest in dieser 2. Periode – die Musik in seinem Kopf nicht etwa auf Papier fest, sondern nahm Improvisationen am Klavier, später an der Ondiola, einem frühen, elektronischen Instrument, auf Tonband auf und ließ diese dann von anderen Musikern transkribieren, bis hin zu kompletten Orchestrationen großbesetzter Stücke. Klar, dass das bis heute zu Diskussionen über deren Authentizität führte.

Scelsi verstand seine Asien-Rezeption – gerade die intensive Beschäftigung mit Yoga, aber vor allem die Erforschung der „Klanglichkeit“ des Einzeltons: wesentlicher Aspekt seiner spiritualistischen Ästhetik – als Lösung seiner psychischen Probleme. Bereits im ersten, umfangreicheren Stück nach der „Wende“, eben der Suite für Klavier Nr. 8 Bot-Ba („Tibet“) von 1952, wird die Bedeutung von wenigen Zentraltönen deutlich: etwa f im ersten oder a im dritten Satz. Dies führt dann in extremer Reduktion bis zu seinen berühmten Quattro pezzi su una nota sola (1959) für Orchester, in der sich die Musik komplett den – mikrotonalen und klanglichen, dort also instrumentierten – Aspekten des Einzeltons widmet.

Auch wenn Scelsi seine 8. Suite als „eine Evokation Tibets mit seinen Klöstern im Hochgebirge – Tibetische Rituale – Gebete und Tänze“ beschreibt, darf der Hörer natürlich keinerlei pittoreske Darstellungen, ebenso wenig direkte, klangliche Bezüge zu tibetanischer Musik erwarten. Hier geht es um komplexe Seelenzustände, ein obsessives In-sich-Hineinhorchen: reine Kontemplation. Dies fällt gar nicht leicht angesichts der flirrend-schillernden, oft hochvirtuosen Faktur dieser Klaviermusik, die dann doch der Feldmans irgendwie diametral entgegengesetzt erscheint. Sabine Liebner ist – wie schon in ihrer Einspielung der Stockhausen-Klavierstücke (siehe Rezension) – zunächst einmal eine zuverlässige Sachwalterin des Notentextes, mit enormer Präzision in der Umsetzung gerade dynamischer Angaben. Darüber hinaus wird durch ihr Spiel das durchaus vorhandene Bemühen Scelsis um Form – der zweite Satz z.B. ist fast ein Rondo – überaus deutlich. Dennoch wirkt dies aber langatmig und viel zu gleichförmig; eine vollkommene Versenkung in den Klang, wie etwa beim beinahe ekstatischen Werner Bärtschi, findet absolut nicht statt. Versucht Liebner allen Ernstes, Scelsis Musik zu objektivieren?

Weitaus überzeugender gelingt ihr die etwas anders gelagerte Suite Nr. 11 von 1956 – bereits das letzte Stück der Reihe. Danach gab Scelsi sein Interesse für das Klavier praktisch auf, wohl vor allem wegen der fehlenden Möglichkeit, Tonhöhen zu manipulieren: Die späteren Instrumentalwerke verlangen in der Regel mindestens Vierteltönigkeit. Hier finden sich nun ebenso größere Akkordballungen und Cluster; dies kommt Sabine Liebner, die sich intensiv mit Henry Cowell oder Galina Ustwolskaja auseinandergesetzt hat, anscheinend sehr entgegen. Die im Vergleich zu Bot-Ba schrofferen Gegensätze meißelt sie teils gnadenlos heraus, eine für den Hörer wirklich existenzielle Klangerfahrung: Scelsi verglich dies mit seiner Action Music (1955), eine Anspielung auf das action painting (Jackson Pollock) des amerikanischen, abstrakten Expressionismus. Liebner hat allerdings auch bei dieser Suite Probleme mit der schieren Länge (> 38 Min.!). Einen großen Bogen – den die erst nachträglich vom Komponisten kompilierten Stücke kaum hergeben – versucht die Künstlerin erst gar nicht zu spannen. So erlebt man pianistisch höchst beeindruckende, oft sehr strenge Exerzitien, denen aber das entscheidende Moment totaler Versenkung über weite Strecken fehlt und die den Hörer schwerlich bei der Stange halten. Die Aufnahmetechnik hebt den klaren, harten Klang der Pianistin eher noch hervor, was dem Verständnis Scelsis von Räumlichkeit wenig zugutekommt, ist aber ansonsten vorzüglich. Dies gilt auch für den sehr detaillierten Booklettext von Friedrich Jaecker.

Vergleichseinspielung: Suiten Nr. 8 & 9 – Werner Bärtschi (Accord 200802, 1991)

[Martin Blaumeiser, August 2021]

Mit makelloser Technik im Dienst am Ganzen

SWR Classic, SWR19097CD; EAN: 7 47313 90978

SWR Classic hat in den letzten Jahren eine stattliche Reihe von CDs veröffentlicht, auf denen die Zusammenarbeit Friedrich Guldas mit dem Südwestrundfunk während der 50er-, 60er- und 70er-Jahre dokumentiert ist. Daran knüpft die vorliegende Doppel-CD an, auf welcher Gulda mit Frédéric Chopins Préludes op. 28 und zwei Variationswerken Ludwig van Beethovens, den chaconneartigen Variationen c-Moll WoO 80 und den Diabelli-Variationen op. 120, zu hören ist. Die Aufnahmen entstanden 1953 und 1968.

Dass Friedrich Guldas Ruf sich in späteren Jahren vor allem auf seine Bach-, Mozart- und Beethoven-Aufführungen, sowie sein Wirken als Jazzmusiker gründete, sollte nicht den Ruhm vergessen machen, den er zu Beginn seiner Pianistenlaufbahn als Chopin-Spieler genoss. Chopins Balladen, Sonaten und Préludes bildeten zunächst gar einen der Grundpfeiler seines Repertoires. Die 24 Préludes op. 28 spielte er 1947 als 17-Jähriger zum ersten Mal öffentlich und setzte sie in den folgenden Jahren regelmäßig auf seine Programme. Für den SWR nahm er den Zyklus am 11. April 1953, kurz vor seinem 23. Geburtstag, auf. Die lange Lagerungszeit der Bänder mag die klangliche Qualität der Einspielung etwas beeinträchtigt haben, aber die überwältigende Frische, die einem aus den Tönen hier entgegenschlägt, lässt diesen kleinen Makel als vollkommen vernachlässigenswert erscheinen.

Für Gulda war Chopin ein „männlicher, ritterlicher“ Komponist. Er empfand keinerlei Bedürfnis, die Werke des Meisters mit jener Patina aus willkürlichen Temposchwankungen und verschwommener Rhythmik zu überziehen, mit welcher weniger einsichtsvolle Pianisten dem romantischen Geist dieser Musik Rechnung zu tragen streben. Stattdessen zeigte er, dass die Größe Chopins – des Romantikers, der das Vokabular der Virtuosen- und Salonmusik seiner Zeit vollkommen transzendiert und dadurch fähig gemacht hat, Träger wahrer Leidenschaft und tragischer Handlungen zu sein – namentlich dann zur Geltung kommt, wenn man die Konturen dieser Musik durch Disziplin im Rhythmischen und stringente Tempi schärft. Gulda versucht nicht, Chopin einen „Ausdruck“ aufzuzwingen. Ihre Ausdruckskraft erhalten die Préludes dadurch, dass er Chopins Meisterschaft im Formen, seine Fähigkeit, durch kleinste Veränderungen den Verlauf der Musik voranzubringen, verdeutlicht – eben jene Eigenschaft, die Chopin mit Johann Sebastian Bach gemeinsam hat. Durch subtile Rubati, unaufdringliche Beschleunigungen und Verlangsamungen, die stets im Einklang mit den harmonischen Ereignissen geschehen, macht Gulda die Entfaltung der Chopinschen Melodiebögen immer wieder zu einem Erlebnis. Ebenso kommt unter seinen Händen die Vielschichtigkeit des Tonsatzes zur Geltung. Sehr deutlich pflegt er Melodien hervorzuheben, die sich in raschen Figurationen verstecken. Die makellose Technik, mit der der Pianist dies alles leistet, wird dabei im Grunde zur Nebensache: Sie geht vollkommen im Dienst am Werk auf.

Die gleichen Vorzüge lassen sich für die 15 Jahre später, am 6. November 1968 aufgezeichneten Variationszyklen Beethoven anführen. Die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll WoO 80 – eigentlich müsste man sagen: Beethovens Chaconne – spielt Gulda mit einem Brio, das vom ersten bis zum letzten Takt fesselt. Mit nicht einmal achteinhalb Minuten ist seine Einspielung eine der schnellsten, die es von diesem Stück gibt. Bei aller Ausrichtung auf Vorwärtsdrang wirkt sie dennoch nicht übereilt, da Gulda es trotz sehr hohem Tempo schafft, die dynamischen und artikulatorischen Kontraste, die Beethoven nicht nur zwischen den einzelnen Variationen, sondern auch häufig innerhalb derselben auskomponiert hat, herauszuarbeiten.

Auch in Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 gehört Gulda zu den schnellen Pianisten. Das ganze Werk, mit allen vorgeschriebenen Wiederholungen, bringt er in 46 Minuten zu Ende. Gulda fasst den Zyklus, wie die ganz anders gearteten c-Moll-Variationen, offensichtlich als ein zusammenhängendes Ganzes auf, nicht als Suite von knapp drei Dutzend Charakterstücken. Seine rhythmische Präzision, sein wacher Sinn für melodische Entwicklungen und seine Sicherheit in der Darstellung des kontrapunktischen Zusammenwirkens der einzelnen Stimmen erweisen sich hier als nicht minder vorteilhaft als im Falle der anderen Werke. Auch die dynamischen Kontraste kommen trefflich zur Geltung. Die ausgedehnte Largo-Variation (Nr. XXXI) spielt Gulda so zart, dass man beinahe meinen könnte, er hätte ein Clavichord unter den Fingern. Die anschließende Fuge klingt sehr straff, das Hauptthema wird bei jedem Erscheinen markant herausgehoben. Graziös, aber mit allem Gewicht, das dem Finale eines solch umfangreichen und vielgestaltigem Werkes zukommt, trägt Gulda die abschließende Menuett-Variation vor.

Für die Veröffentlichung dieser Aufnahmen, die Friedrich Gulda als vorzüglichen Vermittler der Werke Chopins und Beethovens zeigen, kann man SWR Classic nur dankbar sein.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]