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Geteilte Sache

TNL_Philharmonie (1)

Zwei Orchester, zwei Dirigenten, zwei Violinisten und ein Konzert mit zwei Solisten: Das Kammerorchester der Münchner Philharmoniker und das Mariinsky Stradivarius Ensemble machen am Abend des 12. November geteilte Sache. Lorenz Nasturica-Herschcowici leitet Mozarts Sinfonia concertante Es-Dur für Violine und Viola KV 364, wo er zusammen mit Yuri Afonkin auch die Soli spielt, und das zweite Violinkonzert D-Dur KV 211, in welchem Sergey Dogadin als Solist brilliert. Nach der Pause dirigiert Valery Gergiev von Edward Elgar Introduktion und Allegro für Streicher sowie die Serenade für Streicher e-Moll op. 20.

Am Ende eines langen Konzertmarathons im Rahmen des Festivals MPHIL 360° steht ein wahres Fest für Streicher. Zwei der Streicherkonzerte Mozarts und zwei Werke für Streichorchester von Edward Elgar bilden das Programm ‚Mozart Meets Elgar’ für ein Ensemble, welches sich aus dem Kammerorchester der Münchner Philharmoniker und dem Mariinsky Stradivarius Ensemble zusammensetzt.
Eröffnet wird der Abend von Mozarts Sinfonia concertante Es-Dur für Violine und Viola KV 364 mit Lorenz Nasturica-Herschcowici und Yuri Afonkin als Solisten, ersterer leitet zudem das Orchester. Es ist ein heikles Doppelkonzert, da die Bratsche mit ihrem warmen, weichen und runden Klang gerne von der schärfer und brillanter tönenden Violine überschattet wird. Zu Beginn geschieht auch eben dies, und Afonkins inniges und zartes Spiel verliert sich etwas unter dem stählern glänzenden Ton von Nasturica-Herschcowici, der mit atemberaubender Beiläufigkeit dieses Konzert meistert, doch spätestens in der Kadenz des ersten Satzes finden die Solisten zusammen und verschmelzen gerade im zweiten Satz zu einer faszinierenden Einheit der klanglichen Gegensätze. Ein Dirigent wäre bei dieser Concertante wirklich wünschenswert gewesen (auch das Violinkonzert wurde schließlich dirigiert, und dieses ist vom Zusammenspiel her nicht so heikel wie das Doppelkonzert), denn trotz redlicher Bemühungen Nasturica-Herschcowicis kommt es immer wieder zu unkontrollierten Temposchwankungen. Doch muss angemerkt werden, dass die Musiker ungeachtet dessen wie blind aufeinander eingespielt sind und es nicht ein einziges Mal zu kleinen Unfällen kommt.
Wesentlich prägnanter und glanzvoller erscheint das Orchester im Violinkonzert, diesmal unter dem Dirigat von Nasturica-Herschcowici, das Solo spielt sein junger und bereits sehr renommierter Kollege Sergey Dogadin. In kühler Distanz und frei von übermäßigen Emotionen brilliert er in der Solopartie, achtet dabei auf kristallklares Spiel. Als Zugabe gibt er die Introduktion „Nel cor più non mi sento“ und das Thema der Variationen über Paisiellos „La Molinara“ von Nicolo Paganini, was in seiner scherzend-leichtfüßigen Sprunghaftigkeit dem Violinisten noch mehr auf ihn zugeschnittene Gestaltungsmöglichkeiten beinhaltet als das vorangegangene Konzert. Sehr amüsant übrigens, dass Lorenz Nasturica-Herschcowici, vielleicht infiziert von Maestro Gergiev, ebenfalls mit einem Zahnstocher dirigiert.
Dieser hingegen bedient sich heute lediglich seiner bloßen Hände zum Leiten der beiden Streichorchesterwerke Elgars. Mittlerweile hat sich Gergiev besser auf die Münchner Philharmoniker eingestimmt als in den vergangenen Konzerten, welche ich gehört habe. Zwar ist die große Form noch immer in disparat verstandene einzelne Segmente zersplittert, doch diese erhalten wesentlich mehr Fülle und erfahren größere Beachtung des Detailreichtums. Am wohlgefälligsten gelingt die abschließende Serenade mit ihrem tiefen Brodeln, dem ewigen Wallen und der komplexen, dichten Faktur, die dem mächtig-klangvollen Orchester mehr entgegenkommt als Mozart. Durch das zusätzliche Quartett der Stimmführer werden in Introduktion und Allegro einige Konturen klarer und auch die harmonischen Finessen werden dadurch Solisten besonders unterstrichen, so dass manch ein faszinierender Moment entsteht, wenn plötzlich das Moll wieder hereinbricht oder ein Dur die Wolken verweht.
Ein sehr spannendes Projekt, in einem Konzert mehrere Solisten und mehrere Dirigenten zu erleben – und dann noch mit vereinten Kräften aus zwei Orchestern, die in diesen Tagen außerdem sämtliche sieben Prokofieff-Symphonien und Mozart-Violinkonzerte sowie den dritten Aufzug aus Parsifal und zweimal Peter und der Wolf stemmen, was natürlich zu viel ist, um auch nur eines davon wirklich grundlegend zu verwirklichen.
[Oliver Fraenzke, November 2016]

Unverbrauchte Frische

Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen am 28. Oktober 2016 im Konzertsaal des Freien Musikzentrums München Quatre Pièces de Clavecin von Jean-Philippe Rameau in neuer Instrumentierung von Eugène Ysaÿe, die zehnte Violinsonate von Ludwig van Beethoven G-Dur Op. 96 sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Das Freie Musikzentrum München ist in Insider-Kreisen schon längere Zeit zu einer Art Wohnzimmer für qualitativ hochwertige klassische Konzerte avanciert. So wird auch heute wieder in familiärer Runde ein beeindruckendes Konzertprogramm mit herausfordernden Werken von herausragenden Musikern dargeboten: Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen Werke von Rameau (in Bearbeitung von Ysaÿe), Beethoven und Franck.

Die beiden jungen Musikerinnen legen sich kein barockes Korsett an in den von Ysaÿe für Violine und Klavier instrumentierten Quatre Pièces de Clavecin, die ursprünglich der Feder Jean-Philippe Rameaus entstammen. Mit funkensprühender Lebendigkeit und hinreißendem tänzerischen Frohmut erhalten die vier Stücke eine glänzende Leichtigkeit. Erstaunlich zurückhaltend und innig hingegen wird der Kopfsatz von Beethovens viersätziger G-Dur-Violinsonate Op. 96 genommen, hier bezaubern aufrichtige Empfindung und verhaltene Zartheit. Vor allem im zweiten Satz scheint es beinahe, als würde die Zeit stillstehen, bis einen das fidele Scherzo wieder in eine vollkommen andere Welt katapultiert. Nach der Pause gibt es noch die berühmt-berüchtigte Violinsonate César Francks in A-Dur, ein wahrlich monströses Werk, welches die meisten Ausführenden vor strukturell schier unlösbare Aufgaben stellt. Vom ersten Moment an brodelt es förmlich, wenn Margarita Oganesjan ihr nebelverhangenes Klaviervorspiel beginnt, und wenn Rebekka Hartmann zum ersten Strich ansetzt. Es beginnt eine fesselnde Reise, die den Hörer durch harmonisch dicht verzweigte Passagen führt, durch virtuose – doch zugleich nie rein äußerliche – Lawinen von unbändiger Energie und durch einfühlsame Kantilenen in selten erreichter Schönheit. Auch hier verliert der Hörer jegliches Gefühl von Dauer und ist direkt überrascht, wenn nach gut dreißig Minuten „schon“ das Ende erreicht ist.

Zweimal bisher durfte ich, schon vor längerer Zeit, die beiden Solistinnen gemeinsam erleben und war dort bereits beeindruckt von ihrem fabelhaft abgestimmten Zusammenspiel und ihren musikalischen Fähigkeiten. Doch ihre heutige Darbietung ist noch einmal eine Steigerung gegenüber allem bisher gehörten: Die Musikerinnen spielen nicht nur zusammen, sie atmen zusammen, fühlen zusammen und denken scheinbar auch zusammen – alles ist in einer unzertrennbaren Einheit, die Übergänge zwischen den Instrumenten geschehen so unmittelbar fließend, dass die Umbruchsstelle oft kaum erkennbar ist, an welcher der Wechsel gerade stattfand. Rebekka Hartmann führt dem Vibrato wieder seine ursprüngliche Rolle zu: Als stärkstes Mittel des Ausdrucks mit entsprechend sparsamer Verwendung und nicht als omnipräsentes Obligo für jeden Ton. Ihr Spiel zeichnet sich durch lebendiges Gefühl und geschmeidigen Ausdruck aus, der sich von jeder Mechanisierung befreit hat und nun ungezwungene Bahnen wandeln kann. Margarita Oganesjan spielt mit einem markanten und doch orchestralen, warmen Anschlag, dem auch eine gewisse Weichheit nicht fehlt. Und flexibler als je zuvor passt sie sich jedem von der Musik verlangten Ausdruck an, singt geigerisch in den Kantilenen, perlt spielerisch in den virtuosen Passagen und mischt durch genauestes Hören ihre Akkorde präzise ab. Das Resultat dieses Zusammenspiels ist eine unverbraucht frische Darbietung von drei unterschiedlichen Werken aus verschiedensten Epochen. Diese würden zweifelsohne mehr Hörer verlangen als die wenigen Anwesenden, die den ohnehin kleinen Konzertsaal des Freien Musikzentrums nicht einmal zur Hälfte füllten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Hans Zender zu Ehren – Eröffnungskonzert der musica viva

© Astrid Ackermann
© Astrid Ackermann

Das Eröffnungskonzert der neuen musica viva Saison am 07.10.2016 (20 Uhr) widmete sich diesmal ausschließlich der Musik des Komponisten Hans Zender, der über viele Jahre die Reihe – gerade auch als Dirigent – eindrucksvoll mitgestaltet hat und nächsten Monat seinen 80. Geburtstag feiert. Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter einem subtil und präzise agierendem Emilio Pomàrico zeigten mit vereinten Kräften einmal mehr ihre eindrucksvolle Kompetenz in Sachen Neuer Musik – auch wenn die dargebotenen Werke durchaus Fragen aufwerfen.

Hans Zenders Verdienste als Dirigent – nicht nur zeitgenössischen Repertoires sondern auch aller Stilrichtungen spätestens ab der (Wiener) Klassik – sind unbestritten; und auch die musica viva hat davon über die Jahre hinweg profitiert: Ich erinnere mich etwa gerne an das großartige Konzert von 2006 mit Scelsi und Zenders Bardo. Zender (Jahrgang 1936) wurde genau in die Generation junger Komponisten hineingeboren, die von Beginn an zur Auseinandersetzung mit den Konflikten zwischen den sich nach dem Zweiten Weltkrieg bildenden Lagern der „Neuen Musik“ gezwungen war, wo dann schließlich jeder seine eigene künstlerische Position innerhalb einer nunmehr existierenden „geistigen Situation ‘Postmoderne’“ (Zender) finden musste. Vereinfacht ausgedrückt: Irgendwo zwischen den „Darmstädtern“, die die Fackel eines recht dogmatisch geprägten Fortschrittsbegriffs als die ihrige beanspruchten (Zender benennt dies in seinem Buch Happy New Ears als „Avantgarde“), und den zu ihnen sich geradezu „kompensatorisch“ verhaltenden Strömungen, die um eine „Integration alter kultureller Inhalte ins moderne Bewusstsein“ bemüht waren („Manierismus“) schien sich ein junger Komponist entscheiden zu müssen. Diese beiden ästhetischen Pole vergleicht Zender nun mit Heraklit als gegenstrebige Fügung. Zender nennt aber als gewissermaßen dritten Weg aus diesem Dilemma die Tendenz zur Grenzüberschreitung, und innerhalb derer als besonderes Phänomen das der Stille. Diesem begegnet man auf verschiedene Weise etwa bei den Vertretern der New York School oder aber als eine bewusste Art der Verweigerung bei Helmut Lachenmann. Bei Zender kommt allerdings noch als bedeutender Faktor seine intensive Beschäftigung mit der asiatischen Kultur („Zen“) ab ca. 1972 hinzu, die das strikt lineare, westliche Zeitbewusstsein ganz wesentlich öffnet. Ich frage mich allerdings, inwieweit von ihm als Komponist hier durch „intertextuelle“ Verknüpfungen tatsächlich eine Art Synthese zwischen westlichem und östlichen Denken angestrebt wurde, und ob diese während einer Aufführung dann auch auf einer sinnlichen Ebene hörbar wird.

Die drei dargebotenen Werke aus den letzten knapp 20 Jahren nutzen sämtlich schon Zenders System von Zwölfteltönen („gegenstrebige Harmonik“ mit Aufteilung der Oktave in 72 Tonstufen), das eine sehr differenzierte Entfaltung von Obertonspektren sowie zumindest annähernd auch die „reinen“ Intervalle, die seit der wohltemperierten Stimmung westlichen Ohren weitgehend abhanden gekommen sind, realisieren kann. Wenn Zender darin „ein großes Stück Zukunft“ für die Musik sieht, liegt er meines Erachtens goldrichtig. Sowohl den älteren mikrotonalen Experimenten Alois Hábas, gerade aber auch dessen Harmonielehre, die lediglich vorgibt, eine solche zu sein, wie zwangsläufig dem Serialismus ab und in Nachfolge der Zweiten Wiener Schule fehlt ja jegliche harmonische Basis. Allerdings – so viel sei vorweggenommen – scheinen mir einige jüngere Komponisten hier bereits weiter fortgeschritten zu sein, möglicherweise aber trotz vergleichbarer Tonsysteme und spektraler Techniken mit  recht unterschiedlicher Intention: Ich nenne stellvertretend nur Enno Poppes „Ich kann mich an nichts erinnern“ (musica viva 2015) oder Georg Friedrich Haas‘ „limited approximations“ für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere und Orchester (2010), das in München beim räsonanz-Stifterkonzert 2016 zu hören war. Beides begeisterte – für mich durchaus überraschend – einen Großteil des Publikums. Natürlich kann man derartigen Aufwand aus ökonomischen wie auch allein schon räumlichen Gründen kaum bei jedem Orchesterstück betreiben. Aber sollten etwa die Stellen mit zwei im Vierteltonabstand gestimmten Klavieren sowohl in den Logos-Fragmenten beim besprochenen Konzert wie z.B. auch in Bardo nicht ausdrücklich als den Hörer in ein starres Netz zurückwerfende Momente innerhalb der jeweiligen Werke gemeint sein, so wirkte Zender hier merkwürdig kontraproduktiv – als ob er sein eigenes System, das tatsächlich die Ohren unmittelbar empfindlich schärft, in Frage stellen würde.

Der Dirigent des Abends, Emilio Pomàrico, hat sich bereits in einigen Konzerten der musica viva als kongenialer Gestalter äußerst komplexer Musik erwiesen (Symphonien von Stefan Wolpe und Elliott Carter!), der nicht nur als präziser Sachwalter mit allen nötigen (schlag)technischen Mitteln agiert, sondern tatsächlich auch emotional mitgeht und dies sowohl auf die Musiker wie auch das Publikum zu übertragen imstande ist. Auch den vielschichtigen Ansprüchen, die Zenders Partituren an die Interpreten stellen, steht er souverän und mit sichtlicher Empathie gegenüber – eine wirklich beeindruckende Leistung. In seinen Händen lag bereits die Uraufführung der gesamten Logos-Fragmente.

Kalligraphie IV (1997/98) benutzt als Material das Offertorium der gregorianischen Pfingstliturgie, das aber trotz dessen Steuerung der linearen Abläufe als solches für den Hörer unidentifizierbar bleibt. Man folgt lediglich einer mehr oder weniger emotional aufgeladenen Welle aus hochdifferenzierten Klängen, deren Klimax dann etwas unmotiviert erscheint und damit das Stück als quasi „zu kurz“ beendet. Zenders Instrumentationskunst ganz abgesehen von den erweiterten Möglichkeiten seines Tonsystems ist bewundernswert; eine der differenzierten Harmonik innewohnende „Logik“ oder auch nur lokale „Zielstrebigkeit“ kann sich bei mir beim ersten Hören hingegen nicht wirklich erschließen. Das Publikum nimmt dieses Werk anscheinend auch nur dankbar als „Vorspeise“ auf.

Issei no kyō (Gesang vom einem Ton, 2008/09) gehört zu den „japanischen“ Stücken Zenders, denen ein Gedicht des Zenmeisters Ikkyū Sōjun aus dem 15. Jahrhundert zugrunde liegt, der allerdings in klassischem Chinesisch schrieb. Der Vierzeiler, in vier Sprachen – dem Original sowie auf deutsch, französisch und englisch – interpretiert, denen vier verschiedene Ausdruckscharaktere zugeordnet werden, zitiert den chinesischen Mönch Pu Hua (japanisch: Fuke), auf den sich später ein japanischer Bettelorden berief, deren Mitglieder u.a. mit dem Spiel der Shakuhachi übers Land zogen. So interagiert (als alter ego?) eine solistische, ihren Standort verändernde Piccoloflöte (vorzüglich: Nathalie Schwaabe) theatralisch mit der Sopranistin Donatienne Michel-Dansac. Diese verfügt stimmlich zwar über die nötige Modulationsfähigkeit bzw. Technik – die Gesangspartie verlangt neben dem reinen Singen alle Artikulationsmöglichkeiten bis hin zum Sprechen – und integriert sich mit großer Sicherheit ins instrumentale Geschehen, bleibt allerdings innerhalb der jeweiligen obigen Charaktere, die ständig neu gemischt werden, oft seltsam eindimensional. Leider kann hier der Dirigent stellenweise auch nicht verhindern, dass das Orchester die Solistin klanglich zudeckt. Dass Zender, wie im Programmheft zu lesen, „nie irgendwelche Chinoiserien im Sinn hatte“, kann ich bei diesem Stück nicht so ganz nachvollziehen. Sowohl die Imitation der Shakuhachi – gegenüber der das Piccolo leider zu grell wirken muss – als auch einige Stellen in den Becken, die sehr stark an aus der Peking-Oper bekannte Schlagzeugeffekte erinnern, beweisen eher das Gegenteil; allerdings sind diese Bezüge anscheinend auch augenzwinkernd gemeint. Insgesamt können die im Detail wiederum sehr schön ausgearbeiteten Kontrastierungen – etwa die Gegenüberstellung von Holz und Metall im Schlagwerk – doch nicht wirklich über 24 Minuten tragen. Manches wirkt hier bald ermüdend, wie andauernde schnelle Schnitte in einem zu lang geratenen Videoclip, und die formale Anlage bleibt letztlich verschleiert.

Nach der Pause folgt zum Glück ein Werk ganz anderen Kalibers: Fünf Stücke (Nr. II, IV, III, VIII und IX) aus den insgesamt neun Logos-Fragmenten (2006-2012), die nach dem Willen des Komponisten durchaus in unterschiedlicher Konstellation und Auswahl aufgeführt werden dürfen. Einheit soll hier nicht „durch das Subjekt geschaffen“ werden: Die einzelnen Teile des Zyklus sind absichtsvoll heterogen und vermeiden geradezu aufeinander beziehbares musikalisches Material – allein die Besetzung und die Textauswahl aus demselben historischen und kulturellen Umfeld (Johannes-Evangelium etc.) bleibt einheitlich. Tatsächlich gelingen Zender hier Momente von großer Ausdruckskraft und trotz ja stark wechselnder Kompositionstechniken, die die „äußere“ Struktur betreffen, geradezu ritueller Intensität. Hier greifen sowohl Zenders harmonisches System wie auch auf rhythmischer Ebene konsequente großräumige Überlagerungen, die man so noch am ehesten von Elliott Carter her kennt. Beim Chor stört übrigens die (nur) vierteltönige Intervallik nicht – wohl, weil sie eben nicht so gnadenlos präzise daherkommen kann wie bei den beiden Klavieren. Die Mitglieder des Chores des Bayerischen Rundfunks, eingebettet in ein in drei Gruppen aufgeteiltes Riesenorchester, agieren hier als 32 Solostimmen und belegen so auch ihre individuelle künstlerische Qualität. Besonders hervorzuheben – allein wegen ihrer umfangreicheren Soli – sind Masako Goda und Matthias Ettmayr. Das allgemein hohe Niveau bei solistischen Aufgaben zeigt sich dann auch in den schönen, gelenkt-aleatorischen Passagen im Logos-Fragment Nr. IV: Weinstock. Die Verteilung der Sänger über das gesamte Orchester konnte aufgrund der räumlichen Gegebenheiten des Herkulessaals nicht realisiert werden; die ungewohnte Positionierung vor dem Orchester erweist sich aber als bestmöglicher Kompromiss, der insbesondere eine erstaunliche Textverständlichkeit bewirkt. Kompositorisch haben mich zumindest die drei zuletzt dargebotenen Stücke vollends überzeugt und auf jeden Fall meine Neugier auf den Rest dieses Zyklus‘ geweckt – sicher eines der besten Werke Hans Zenders. Am Schluss gibt es zu Recht großen Applaus für alle Darbietenden, die dann dem mittlerweile leider etwas gebrechlich wirkenden Komponisten, der sich trotzdem nicht nehmen lässt, aufs Podium zu kommen, auch wirklich alle Ehre erweisen. Der große und sicher aufrichtige, gegenseitig gewachsene Respekt ist quasi hautnah zu spüren.

Man darf sich schon jetzt auf die Rundfunkübertragung freuen (Dienstag, 22. November 2016, 20.03 Uhr auf BR-Klassik).

[Martin Blaumeiser, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Unorthodoxe musikalische Zeitreise

Lucy Jarnach spielt am 24. September 2016 um 20 Uhr
im Kleinen Konzertsaal im Gasteig: Schubert, Grieg, Jarnach, Greif

Wenn es in der Welt richtig zuginge, müssten alle Menschen einen ebensolchen Weltblick besitzen wie Bismarck, ein ebensolches Gehirn wie Kant, einen ebensolchen Humor wie Busch, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ebensolche Lieder singen können wie Schubert.  (Egon Friedell 1878-1938)

Und es ging in der Welt richtig zu an diesem Samstag-Abend im Kleinen Konzertsaal im Gasteig in München, als die Pianistin Lucy Jarnach sich an den Steinway-Flügel setzte und die ersten Akkorde der G-Dur-Klaviersonate D894 erklingen ließ. Denn was Egon Friedell uns in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit über Franz Schubert so hellsichtig beschreibt, das stimmt ja. Diese auch heute noch immer wieder überraschende und  berührende Sonate aus Schuberts letzten Schaffensjahren, sie ist und bleibt ein Mysterium – wenn der spielende Musiker sie so erlebbar werden lassen kann, wie uns das die junge Lucy Jarnach besonders eindrucksvoll vom ersten bis zum letzten Ton vorspielte, nein, besser, vorlebte, „vorsang“. Denn Schuberts himmlische Melodien und höchst überraschende Harmonien – seiner damaligen Zeit genau so voraus wie die seines hochverehrten Kollegen Beethoven, wenn auch von völlig anderen Ideen und Möglichkeiten geschöpft  – müssen erst einmal zusammenhängende Gestalt gewinnen und singen und klingen, wenn sie uns erreichen sollen. Mit aller geheimnisvollen Neuartigkeit, die auch heute, 250 Jahre später so in Bann schlagen kann, wie sie Lucy Jarnach mit verzaubernder Kantabilität und wohllautendstem Klang auf dem Steinway-Flügel hervorspielte. Drei langsame Sätze und ein schnellerer vierter, dann war der erste Teil des Abends in seiner Verzauberung vorüber. (Wieder einmal musste ich daran denken, dass Schubert viele Jahre lang nur ein abgespieltes Tafelklavier zur Verfügung stand, was würde der wohl heute für Ohren machen (können)!)

Der zweite Teil begann mit einer kurzen Erklärung der Pianistin zu Edvard Griegs Ballade g-moll op. 24 von 1878, einem Stück, was sehr vielen Zuhörern noch immer ziemlich unbekannt sein dürfte. Ein melancholisches, an ein norwegisches Volkslied angelehntes Thema wird im Lauf der Komposition in 14 Variationen abgewandelt: sowohl harmonisch als auch melodisch, in allen Klangregistern des Flügels.

Was mich an Griegs Klaviermusik schon immer fasziniert , ist seine weit in die Zukunft weisende Harmonik, eine Tonalität und Klanglichkeit, die teils sogar den Impressionismus eines Debussy schon vorweg zu nehmen scheint. Und auch bei den viel bekannteren Lyrischen Stücken ist für mich wieder und wieder erlebbar, dass Grieg eben nicht nur der leicht fassliche „Unterhaltungs-Komponist“ kleiner Formen war, sondern in vielen seiner Werke – wie das auch Lucy Jarnachs Spiel sehr überzeugend zum Ausdruck brachte – ein durchaus in der Entwicklung vorausschauender Künstler und Komponist war.

Im Anschluss daran folgte eine Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 (eigentlich ist es eine Komposition von Leonhard Lechner (1553-1606), die dem Stück zu Grunde liegt) von Philipp Jarnach, dem Großvater der Pianistin, der von 1892-1982 lebte und seine entscheidenden Impulse von Ferruccio Busoni (1866-1924) bekam. Diese Sonatine spielte Lucy Jarnach mitnichten aus einer verwandtschaftlichen Verehrung für ihren Großvater, sondern zeigte uns, was für ein wunderbares Stück Musik da unter ihren Händen zu uns sich entfaltete, durchaus tonal und melodiös, aber doch ein Stück zeitgenössische Musik aus dem 20. Jahrhundert.

Das letzte Stück des Abends des frühverstorbenen französischen Komponisten Olivier Greif – dürfte den allermeisten Konzertbesuchern sicher völlig unbekannt gewesen sein, wie die Musik dieses aberwitzigen Franzosen leider bei uns bis heute so gut wie gar nicht auftaucht. Er wurde 1950 als Sohn eines jüdisch-polnischen Neurochirungen  geboren, der die Gräuel in Auschwitz überlebte. Diese Tatsache beeinflusste die Musik seines Sohnes, der mit 9 Jahren anfing zu komponieren. Aus «Le Rêve du monde» (1993)

Spielte Lucy Jarnach den dritten Satz «Wagon plombé pour Auschwitz». Das Thema ist eine jiddische Melodie, die allerdings nach kurzer Zeit durch gewalttätige „Schüsse“ zerrissen wird, darstellend die Horrorszenen, denen die in den Viehwagons Eingesperrten dann in Auschwitz ausgesetzt waren. Das unfassbare Grauen so auf einem Klavier darstellen zu können, ist eigentlich unvorstellbar, trotzdem ist es dem Komponisten und auch der Pianistin gelungen, in diesem kompakten Stück all das auf sehr eindrückliche Weise den Zuhörern zu vermitteln.

Großer, verdienter Beifall für die Pianistin und ein Programm, das so sicherlich im ach so konservativen München – noch dazu zur Wiesn-Zeit – noch nie zu hören war.

Mit einer kurzen Zugabe (‚Fast zu ernst’ aus Schumanns op. 15, den „Kinderszenen“) entließ uns Lucy Jarnach in einen sehr nachdenklichen Abend.

(Auch die „Gräuel“ dieses Abends seien ganz am Rande erwähnt, also der vollendete Amateurismus des lokalen Veranstalters, der das Konzert miserabel beworben hatte und sowohl dem unterzeichnenden Kritiker eine Pressekarte als auch der Künstlerin Blumen verweigerte. Sein Mangel an Professionalität wurde jedenfalls mit einem fantastischen Auftritt belohnt.)
Oder, um mit Egon Friedell abzuschließen:
„Es gibt Menschen, die selbst für Vorurteile zu dumm sind.“

[Ulrich Hermann, September 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Beispielhafte Klanglichkeit mit Tiefenwirkung

Im Rahmen der Reihe »Winners & Masters« gab Lucy Jarnach am letzten Samstag (24.9. 2016) einen Klavierabend mit Werken von Schubert, Grieg, Jarnach und Greif und überzeugte durch hochdifferenzierte Klanglichkeit, die den an Fallstricken reichen Werken die nötige Tiefenschärfe verlieh.

So unprätentiös wie die Pianistin Lucy Jarnach die Bühne betritt, so wenig benötigt ihr Klavierspiel irgendwelche „Mätzchen“, um ein äußerst anspruchsvolles Programm mitreißend zu bewältigen. Einen Klavierabend mit Schuberts sperriger, großer G-Dur-Sonate (op.78, D. 894) zu beginnen, erfordert Mut und Konzentration. Bei allem Gefälligen, das bei Schubert streckenweise das Ohr des Zuhörers als Oberfläche umschmeichelt, ist die eigentliche Herausforderung, die vielen versteckten Untiefen, die uns der Komponist immer fast gleichzeitig unterjubelt und die oft in kleinsten Details stecken, klanglich deutlich herauszuarbeiten. Und zwar ohne dass die Formkonzepte – in diesem Falle der Sonate – in ihrem Fluss zu absichtlich gestört werden, was dann zudem die berüchtigten schubertschen „Längen“ in Einzelereignisse, auf die quasi mit dem Finger gezeigt wird, zerfasert. Am Tag zuvor hatte ich mir noch die 1987er Aufnahme von Alfred Brendel angehört (der von 2003 bis 2009 mit Lucy Jarnach arbeitete), und war überrascht davon, wie schwer ihm dies anscheinend ausgerechnet bei dieser Sonate gefallen ist. Hatte ich Brendel mit den drei letzten Sonaten (D. 958-960) mehrfach begeisternd im Konzert gehört, so irritierten mich bei der G-Dur-Sonate merkwürdige, allzu „demonstrative“ Rubati, unklare Akzente und eine nicht konsequent abgestufte Dynamik – bereits im wirklich langen Kopfsatz. Bei Lucy Jarnach ist nach der ersten Seite klar, dass sie Schubert völlig vertraut und allein durch ihre makellose Anschlagskultur und eine diskrete, aber vollkommen adäquate Pedalbehandlung auch die kleinsten Differenzierungen, nicht nur harmonischer Art, bewältigt. Sie überzeugt mit einem warmen, auch noch im Pianissimo homogenen Klang, der weder vulgär basslastig noch spitz in der Höhe ist, dort je nach Anforderung luzid oder brillant. Ihr Artikulationsspektrum reicht vom gesanglichen Legato bis zu trockenem, detailreichen Stakkato, ohne jemals zu verschmieren oder den melodischen Zusammenhang zu verlieren. Das erklingt alles so natürlich und dabei spannend, dass der Verzicht auf alle Wiederholungen, die die Partitur anzeigt, vielleicht nicht nötig gewesen wäre. Die ersten beiden Sätze werden hier zu staunenswerten Klangwundern. Im Menuetto scheint sich Jarnach anfangs ein so langsames Tempo zuzutrauen, dass man es richtig „auf drei“ hätte empfinden können. Das hält sie nicht wirklich durch; immerhin kann sie das Trio aber im gleichen Tempo nehmen – Brendel bremst im Trio und macht es dadurch in seiner Simplizität geradezu lächerlich. Auch die oft überraschende Dynamik versteht die Pianistin richtig. Beim Finale bringen sie einige kleinere Unsicherheiten beim Auswendigspiel dann leider etwas aus dem Konzept – aber insgesamt ist dies eine Schubert-Interpretation auf allerhöchstem Niveau.

Nach der Pause folgen drei höchst interessante Werke, denen allen jeweils ein Lied als Grundsubstanz dient – und die von der Künstlerin kurz anmoderiert werden, was wegen des fehlenden Programmhefts dankbar aufgenommen wird. Die leider viel zu wenig gespielte Ballade g-moll, op. 24 von Edvard Grieg – eigentlich ein Variationssatz – erfordert enorme Virtuosität, mehr als seine Sonate oder sogar das Klavierkonzert. War Komponieren als Therapie die Initialzündung für dieses Werk, kann man die Krise, in der sich der Komponist um 1875 befand, geradezu nachempfinden: Hier ist alles auf wackeligem Boden, gewagt, aber dabei unkonventionell und innovativ. Gegen Schluss gibt es eine wahnwitzige Steigerung ins Delirium bzw. Nirgendwo, die auf einer herausgemeißelten Es-Oktave als lang ausgehaltenem Vorhalt endet, bevor nochmals ganz verhalten das Thema wiederkehrt. Gerade bei solchen Kontrasten ist Lucy Jarnach in ihrem Element und kann deren Wirkung durch kluge Disposition des Vorausgehenden souverän aufs Publikum übertragen. In den auch rhythmisch schwierigen, schnellen Variationen gewahrt sie völlige Durchsichtigkeit.

Dass die Künstlerin eine ganz besondere Beziehung zum heute fast vergessenen kompositorischen Werk ihres Großvaters Philipp Jarnach hat, verwundert nicht. Die Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 erweist sich als höchst intelligente, keineswegs rückwärtsgewandte und pianistisch anspruchsvolle Komposition, mindestens auf dem Niveau etwa eines Paul Hindemith, die auch beim Publikum offensichtlich gut ankommt. Hier passt jedes Detail. Lucy Jarnach endet dann aber noch mit einem Schocker: In Deutschland immer noch völlig unterschätzt, hat der viel zu jung verstorbene französische Komponist Olivier Greif (1950-2000) ein beachtliches pianistisches Oeuvre hervorgebracht, darunter einige großformatige Sonaten. Man kann diese Musik getrost der musikalischen Postmoderne (eh‘ ein Passepartout-Begriff) zurechnen. Jedenfalls vertraut Greif noch der Tonalität, auch wenn er sie regelmäßig durchbricht – dann aber bedingt durch musikalischen Ausdruck, weniger durch kaltes Kalkül. Ein krasses Beispiel ist der Satz Wagon plombé pour Auschwitz aus der Sonate «Le rêve du monde» (1993). Die schrecklichen Assoziationen, die schon der Titel evoziert, werden hier musikalisch überzeugend mit recht einfachen Mitteln – wie man sie eigentlich schon aus dem Schluss des Trauermarsches von Beethovens Eroica kennt – zur gnadenlosen, apokalyptischen Gewissheit. Das ist aber eben nicht plump-plakativ, sondern absolut berührend. Lucy Jarnach scheut sich hier nicht vor extremen dynamischen Kontrasten, die nötig sind, um die Brutalität, mit der das zugrunde liegende Synagogenlied – und offensichtlich nicht nur das! – vernichtet wird, zwingend zu verdeutlichen. Ergriffenheit beim Publikum nach dieser Darbietung, die auch mit „Fast zu ernst“ aus Schumanns Kinderszenen als Zugabe nicht mehr zu relativieren ist. Dafür dann verdient großer Applaus.

Für derart beseeltes, klangschönes Klavierspiel und solch kluge und überraschende Programme jenseits ausgetretener Pfade sollte es im immer noch klavierverrückten München ein größeres Publikum geben, als in den Kleinen Konzertsaal im Gasteig passt. Sicherlich nicht nur mir wäre es eine echte Freude, diese junge Künstlerin auch hier noch öfters hören zu dürfen – vielleicht auch einmal mit einer kompletten Greif-Sonate?

[Martin Blaumeiser, September 2016]

Linienzauber

Nina Karmon

Violinmusik von Johann Sebastian Bach ist am Abend des 5. August 2016 in der Münchner Kirche Sankt Bonifaz zu hören, Nina Karmon spielt die Sonaten Nr. 1 g-Moll BWV 1001 und Nr. 2 a-Moll BWV 1003 sowie die Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006 für Violine solo.

Beinahe jeder der aufgestellten Sitzplätze im Saal der Kirche Sankt Bonifaz in der Münchner Karlstraße 34 ist besetzt, als die Violinisten Nina Karmon eintritt. Auf dem Programm stehen drei der sechs hochvirtuosen Werke Johann Sebastian Bachs für Violine solo, welche in jeder Hinsicht höchste Anforderungen an den Musiker stellen, sowohl in Bezug auf organische Form als auf die Fähigkeit des mehrstimmigen Spiels auf einem von seiner Natur einstimmig angelegten Instrument.

Sehr geerdet und mit menschlicher Wärme erfüllt klingen die tieferen Lagen der Violine des italienischen Geigenbauers Guarneri del Gesù in den Händen von Nina Karmon, gleichzeitig silbrig und glanzvoll in der Höhe. Nina Karmon spielt die Werke Bachs nicht in einer romantisierenden Geste, doch auch nicht innerlich unbeteiligt oder gleichförmig, wie sie gerade in der so genannten historischen Aufführungspraxis gerne – vom Cembaloklang inspiriert – fehlgedeutet werden. Viel eher hält sie eine angenehme Distanz, die nicht vor unkontrolliert überschwänglicher Emotion überläuft und dabei das Menschliche und das Ursprüngliche, Natürliche als höchste Instanz nimmt.

Das ausschlaggebende Charakteristikum im Spiel Nina Karmons ist die Entstehung der melodischen Linie, diese entfaltet sich in aller Sanglichkeit und Ungekünsteltheit in betörender Schönheit und unverbrauchter Frische. Sie vermag, einen großflächigen Bogen zu spannen und nicht eher mit der Spannung nachzugeben, als die Linie ihrer Auflösung entgegengeht – eine wahrhaft atmende Spielweise.

Auch bezüglich der mehrstimmigen, kontrapunktischen Elemente kann Karmon durchaus überzeugen, gerade in der Partita Nr. 3 gibt es magische Momente, die sich beinahe anhören, als agierten zwei Instrumente auf der Bühne. In den schnellen Finalsätzen neigt sie ein paar Mal zu leicht überstürztem Spiel, doch ist dies der einzige kleine Makel bei ansonsten enormer Souveränität und ausgesprochen stimmigen Tempi, die ein organisches Fließen der für die Epoche teils sehr ausgedehnten Formgebilde ermöglichen.

Die Zuhörer in Sankt Bonifaz haben das große Glück, einen wirklich ausgereiften, tonlich hinreißenden und selbstverständlich technisch über alle Zweifel erhabenen Bach zu hören, wie er auch gegen hohe Eintrittspreise in großen Sälen nicht besser zu hören ist.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Variationen über ein Thema – Jesús Villa-Rojo

Die deutsche Erstveröffentlichung des Textes „Variationen über ein Thema“ des spanischen Komponisten Jesús Villa-Rojo anlässlich des Konzerts und Komponistenportraits am 16. Juni 2016 mit dem Cuarteto Quiroga im Salón de Actos des „Instituto Cervantes“ in der Alfons-Goppel-Straße 7.  Mit freundlicher Genehmigung.
[Weitere Informationen]

Die Krise jenes tonalen Systems, dessen sich unsere Komponisten während vieler Jahrhunderte bedient haben, und vielleicht eine Art von Übersättigung damit, zeitigte Ende des 19. Jahrhunderts Zeichen der Ermüdung. Seine Dauerhaftigkeit in der kompositorischen Vorstellung als schöpferisches Element eines ästhetischen, künstlerischen und musikalischen Gedankens hatte es ermöglicht, dass die Organisationsmaterialien der Partitur als Synthese der Ideen die bewunderungswürdigsten Schöpfungen der Menschheit hervorbrachte und die westliche Welt mit herrlicher und herausragender Musik erfüllte.

Sicherlich hat das elatische Wesen dieses Systems seine vollständige Erschöpfung fast verunmöglicht, obwohl die an es herangebrachten Qualitätsansprüche und Interessen mittel- oder langfristig für die Notwendigkeit von Reformen verantwortlich zeichneten.

Diese rein künstlerische und kreative Tatsache begann sich zuerst in den technischen Verfahren bemerkbar zu machen. Die Erweiterungen von Tonalität und Konsonanzempfinden begannen, diese aufzuweichen, und stellten schließlich das Gleichgewicht in Frage, das einst so wundervolle Wirkungen hervorgebracht hatte. Denn nun machten sich antithetische Kräfte bemerkbar, die den natürlichen Ausdruck der Verfahren verschwimmen ließen. Die Zunahme der Lust an größeren Spannungen zum Nachteil der Freude an der Sanftheit und Ruhe, die man vorher sich gegönnt hatte, eroberte sich nach und nach die Bühne.

Die gesellschaftlichen Bewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer fordernder und vermischten sich mit künstlerischen und kulturellen Bewegungen, die –von der nicht mehr einzudämmenden industriellen Revolution angeführt – ob ihrer Mechanismen aller Welt die zunehmende Verdinglichung aufzwangen. Alles suchte danach, die neuen Produktionsmittel (letztendlich original und kreativ!) einzubeziehen. Die Welt von Schöpfung und Produktion trat in eine Phase nur schwer zu kontrollierender Evolution ein. Verständlich, dass die Welt der Kultur sich nicht gerade empfänglich für das zeigte, was sich da ankündigte. Hatte sie doch so lange Jahre in einer selbstzufriedenen Gesellschaft gelebt, auf dem riesigen Erbe von großen Männern einst erbaut, und es fiel ihr schwer, diese neue Welt zu verstehen. Doch die kulturelle Zukunft, und die der Musik im besonderen, blieb nicht unberührt von den Erfindungen der Zeit. Wenn auch oft zweifelhaft und wenig kohärent, konnte John Cage doch später darauf hinweisen: „Der klangorganisative Verstand bedient sich unterschiedslos des Klanges wie des Geräusches, der Stille wie der instrumentalen Schwingungen, mechanisch-elektrisch, perkussiv…“ Der Organisationsprozess kann sich aleatorisch gestalten, mit dem Zufall arbeiten – wie so oft bei Cage –, er kann sich unterschiedliche Varianten bei jeder Aufführung vorstellen oder konventionelle Darstellungsarten benutzen, die unvorhergesehene Resultate zeitigen, legt man die traditionellen Codes der musikalischen Notation zugrunde. Für Cage gehörte dies alles schon der Vergangenheit an, und er bediente sich gleichermaßen einer strikt traditionellen Symbolik, die auch Zeichen und Grapheme einschloss, die nie vorher benutzt worden waren, wie Texten, mit denen er Einfluss auf das interpretative Verhalten oder ganz einfach auf die Beschaffenheit der Instrumente nahm.

Der Idee der Konsonanz in ihrer sinnlichen Verankerung, welche die ästhetischen Prozesse zu polyphoner wie harmonischer Vollendung geführt hatte, zur bewundernswerten westlichen, mit keiner anderen damals wie heute vergleichbaren musikalischen Kultur, konnte sich unmöglich materialiter auflösen, konzeptionell hingegen schon. Deshalb war es die Tonalität, die harmonische Struktur, welche zuerst betroffen wurde und den neuen Varianten den Weg freimachte. Hatte die Konsonanz als Garant unitonaler Lösungen der ästhetischen und klanglichen Evolution einen durchgehenden Zusammenhang ermöglicht, so eröffneten sich nun über sie hinaus polytonale oder multitonale Lösungen.

Die ersten Veränderungen manifestierten sich aufgrund dieser neuen Strukturen. Sie behielten also noch immer ihre historische Zweckmäßigkeit, wurden gar oft auf ihre elementare technische Basis hin ausgerichtet, und es konnten so – vormals undenkbar – eine oder mehrere andere Tonalitäten miteinander kombiniert werden. Dieses Streben nach Erneuerung griff auch auf die Rhythmik über. Man kombinierte nun auch verstärkt binäre mit ternären Figuren, erschloss damit eine ganz neue Ära und ermöglichte eine enorme Vielfalt erweiterter Möglichkeiten.

In dieser kreativen Dynamik verschmolzen Techniken und neue Fragestellungen zu dem, was man vielleicht als Atonalität bezeichnen könnte. Mit ihr wird kein System benannt, das ein klaren Bruch mit der Vergangenheit anzeigt oder gar einen originären, systematischen Neubeginn. Was die harmonisch-rhythmischen Strukturen an Neuem boten, fand zunächst kaum ein Echo im Instrumentalen oder Interpretatorischen. Im Allgemeinen veränderten sie kaum die individuelle Instrumentaltechnik. Wohl wurde von Fall zu Fall das eine oder andere mehr oder weniger kuriose neue Instrument akzeptiert, wie im Falle der asiatischen oder afrikanischen Instrumente, die mehr Farbe und Rhythmus in den Orchesterklang hinein brachten, und es gab auch einige Neuerungen durch Komponisten wie Mahler, Bartók, Stravinsky u. a. Stravinsky war es denn auch, dem die orginiellste Erweiterung mit seinem Le sacre du printemps zu verdanken ist, dem wohl wichtigsten Werk auf der Suche nach einem neuen Instrumentalklang.

„Das Zusammenleben der Kulturen seit der Pariser Weltausstellung 1889, durch die eine Periode mit repräsentativen Darbietungen außereuropäischer Musiktradition angestoßen wurde, veränderte dank der Integration von bis dato im Westen unbekannten Klängen nachhaltig den instrumentalen Wortschatz.“

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Edgard Varèse: „Ionisation“. Ed. Cofrane Music, Nueva York

Die Entwicklung von Industrie und Technik hat die Produktion zum Ziel und provoziert oft durch reinen Zufall neue Apparate und Maschinen, von denen man sich das ein oder andere Element auch als Bereicherung für den damaligen musikalischen Klang vorstellen konnte. Neben vielen unauffälligen Neuerungen war es vor allem der italienische Futurist Luigi Russolo, der die Konstruktion von Maschineninstrumenten vorantrieb. Von der Industrie ausgehend begann er, einen der Idee des Orchesters analogen, artifiziellen Klangkörper zu schaffen. Er nannte diesen die intonarumori, und die konkreten Bezeichnungen der Instrumente lauteten frusciatori, graciadatori, gorgoliatori, ronzatori etc.

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Luigi Russolo und Ugo Piatti mit ihren “intonarumori”

Das Amalgam von Alt und Neu, und besonders die Impulse aus der Elektronik, zeitigten viele neue Effekte. Die magnetophonische Aufnahme von Klängen und Geräuschen ermöglichte eine konzeptionelle und technische Neubestimmung und die daraus resultierende musique concrète. Ihre wissenschaftlichen Mittel ließen die Schöpfungen von Luigi Russolo und seiner intonarumori schnell weit hinter sich.

„Es ist gut möglich, dass die wissenschaftlichen Ansprüche des Musikers nur den zweiten Platz hinter seinen kreativen Interessen einnahmen. Er suchte nach direkter Mitteilung, auch wenn die musikalischen Mittel ihm dies nicht immer leicht machten.“

Die Erfahrungen der neuen Klangwelten führten zu gesteigerter Neugierde nach weiteren unverbrauchten Ideen der Klangproduktion und dem Erkunden technischer und sensitiver Parameter zu ihrer Hervorbringung. Eine in Klang verwandelte Frequenz kann unendlich viele Timbres erzeugen, die unser traditionelles Klangverständnis weit übersteigen. Die spezifische Instrumentaltechnik kann zu höchst differenzierten, unterschiedlichen klanglichen Ergebnissen führen. So resultiert bei einem Streichinstrument zum Beispiel der Aufstrich oder Abstrich, die Art des Bogenstrich oder die Position der Kontaktstelle des Bogens auf der Saite, z. B. in Stegnähe oder auf dem Griffbrett, zu deutlich unterschiedlichen Tonqualitäten. Das verschiedenartige Einschwingen oder z. B. die Springbogentechniken (Spiccato) modifizieren den Klang erheblich. Die Komponisten stellten nun erhöhte technische Ansprüche an die Instrumentalisten wie an den zeitgenössischen Hörer. Immer tiefer wurde in die neuen Klangwelten eingedrungen, die Spieltechniken erweitert, stets in Kenntnis des technologischen Fortschritts und der bisher unerschlossenen Möglichkeiten zugleich.

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Karlheinz Stockhausen: „Studio II“. Universaledition, Wien

Die Suche nach neuen Instrumentalklängen begleitete mein eigenes musikalisches Schaffen von Beginn an auf Schritt und Tritt. „Gerade die Suche nach neuen Klangformen lehrte mich, die beschränkten Instrumentaltechniken zu schätzen. Deshalb habe ich auch in den letzten Jahren auf die fortwährende Erneuerung jener Techniken geachtet. Die ursprüngliche Öffnung des Klangraumes durch die musique concrète und die elektronische Musik verhalf auch der Instrumentalmusik zur Entdeckung eigener neuer Mittel.“ Die sogenannte extended technique verleiht dem heutigen Instrumentalspiel einen distinkten Charakter. Neben dem, was die elektronische Musik versprach – und dabei ging es nicht allein um den Gebrauch des Materials dieser Instrumente, sondern auch um die Verzerrung eines jeden Instrumentes oder von Aufnahmen –, war, was uns vor allem beschäftigte, die Suche nach der Erweiterung des traditionellen Instrumentalklangs. Die Ergebnisse unserer Forschungen erscheinen systematisiert in meinem Buch El clarinete y sus posibilidades (Die Klarinette und ihre Möglichkeiten), einer Arbeit, die entsprechend für alle Holzblasinstrumente gilt. Es geht darum, die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Instrumente zu steigern, sie für Klangfarben zu nutzen, die es in der westlichen Musik bisher nicht gab.

Im Folgenden finden sie eine kurze Zusammenfassung dieser Möglichkeiten: zwei oder mehr Simultan-Klänge auf einem Instrument. Darunter die realen Klänge-sonidos reales des Instrumentes, welche die Möglichkeit von zwei realen Tönen anbieten mit dem Fundament in der tiefen Lage (grave) und in der unteren Mittellage (medio-inferior), indem man die Fingerstellung des unteren mit einer mittleren Stellung der Lippen zwischen oberem (superior) und unterem (inferior) Ton kombiniert.

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Der reale Klang und der simultan abgeleitete Klang (sonido resultante) erschließt die Möglichkeit von gleichzeitig erscheinenden unterschiedlichen Tonfarben, indem der Obertonbereich manipuliert wird.

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Die sonidos rotos-gebrochenen Klänge sind eines der interessantesten Phänomene der Klarinette. Sie bestehen aus einem realen Klang und seinen Obertönen mit minimalem Intervallabstand zwischen jenen, fast auf dem gesamten Instrument – in der tiefen Lage wie der unteren und oberen Mittellage -, machbar, indem man den Fingersatz des realen Klanges anwendet.

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Der reale Klang und die Obertöne gleichzeitig sind in der tiefen Lage (grave) möglich, in der unteren Mittellage (medio-inferior) mit dem Fingersatz des realen Tones.

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Stimme und Klang können jeden Klang des Instrumentes auf seiner gesamten Skala simultan bereichern, ohne dass ein spezieller Fingersatz nötig wäre.

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Dies so unterschiedlich beschaffene und erzeugte polyphone Material kann ohne weiteres – mit Ausnahme der Stimme – auf dem Instrument alleine hervorgebracht werden. Innerhalb der Einstimmigkeit gibt es viele mehr oder weniger bekannte, oder ganz und gar unbekannte Möglichkeiten, alle jedoch dienen der Erweiterung des Klangraumes. Je nach Technik haben diese Klänge eine große Klangfarbenvielfalt, können gar vollständig aus den gewohnten Klängen ausbrechen, bis hin zum Bruch mit dem temperierten System selbst. Der sonido real-reale Klang ist jener, der normalerweise auf dem Instrument hervorgebracht wird.

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Das Material des sonido resultante-abgeleiteter Klang, verschieden vom realen Klang, besteht aus Obertönen, hinzutretender Stimme, Atem, Flatterzunge, und stellt die Möglichkeiten der Ergänzung des Monodischen dar. Mit Ausnahme von Stimme und Atem erzielt man die Klänge auf dem Instrument mit mehr oder weniger traditionellen technischen Mitteln.

Die Ausarbeitung des Klanges und seine Artikulation sind Parameter von großer Bedeutung für die Instrumentalpartitur. Das Vibrato und seine Kontrolle, winzige Trübungen oder Verstimmungen einer bestimmten Frequenz, die trockenen oder schwachen Einsätze, eingeschoben zwischen Bindungen, sind Elemente, die eine genaue Herausarbeitung nötig machen.

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Jesús Villa-Rojo: „Acordar“. Ed. Edi-Pan, Rom

Ausgehend von diesen neuen Ideen, haben die Bewertung und das Konzept der Höhen in meinen Arbeiten sehr unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt. Vom traditionellen Gebrauch in Cuatro movimientos, sonata, Música sobre un tema, in denen es keinen unkonventionellen Gebrauch der Klangmanipulation gibt, führt der Weg zu Rupturas, continuo, Eglogas, Divertimento I, II, III, Tiempos… und auch Temples, 6 pinceladas, Espirales, Líneas convergentes, Sexteto, Septeto, Lamento, Trío, etc., wo die Klänge mit definierten Tonhöhen produziert und wiedergegeben werden, aber Modifikationen erfahren, welche die Tonhöhe, besonders jedoch die Tonqualität verändern. Die größten Veränderungen findet man jedoch in Hombre aterrorizado-dor, Dimensiones, Eclipse, Antilogía, Concerto grosso I, II, III 4+…, Tonalidad dominante (b-moll), Cartas a Génica, Formas planas, Música para obtener equis resultados, wo die tatsächlich erklingenden Tonhöhen das Ergebnis sind von: a) Klängen ohne exakte Tonhöhen, die der Entscheidung des Interpreten anheim gestellt sind, b) komplexen Klängen mit exakter oder nicht exakt bestimmter Tonhöhe, immer aber mit auf einen vorherrschenden Klangkomplex gerichteter Aufmerksamkeit, c) Klängen bzw. Geräuschen, die ob ihrer Natur oder Qualität nicht dem Kriterium der exakten Tonhöhe entsprechen (Luft, Klanglöcher, Nasale, gebrochene Klänge, nicht tonale elektronische Klänge) wie in Obtener variantes, Variaciones sin tema, Acordar, Apuntes para una realización abierta, ellos oder den Serien Juegos gráfico-musicales und Material sonoro, wo (außer einigen wenigen Beispielen in der Serie Juegos gráfico-musicales) der Klangparameter vollständig unbestimmt bleibt, und es nur vage Hinweise von Registern, Bereichen bzw. Stimmlagen gibt.“

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Jesús Villa-Rojo: „Juegos gráfico-musicales“. Ed. Alpuerto, Madrid

Diese Kompositionslandschaft bezeugt die Komplexität bei der Auswahl der besten Möglichkeit für jeden Moment. Bei der Auswahl, der Absicht und der Niederschrift stellten sich immer wieder Momente des Zweifels am Projekt ein. Alles, was ins Gedächtnis Eingang fand und es bereicherte, verkomplizierte den Prozess und entpersonalisierte das Denken. Die Anfänge wurden ebenfalls nicht leichter. Als ich mir 1971 Formas y Fases vornahm, konnte ich mir nicht vorstellen, ein Stück zu schreiben, in dem das von der Klarinette angebotene Klangmaterial wenn nicht der herausragende Parameter, so doch der rote Faden des Ausgleichs und der Überbrückung zwischen unterschiedlichen Elementen der Kompostion sein würde. Die Klarinette hatte mir schon in vorherigen Werken ausgezeichnete Dienste geleistet, bei all meinen Studien der Klangerweiterung, das Hörbarmachen der Obertöne neben den Grundtönen, durch Stimme und Klang gleichzeitig oder unabhängig voneinander, die unendlich große Anzahl der Anblasmöglichkeiten, der Tonproduktion, der Dynamiken… Ich hätte leicht ein Stück für einen Solisten mit einfacher Begleitung schreiben können, aber bei alldem, und auch angesichts eines denkbaren Solostücks, war die Vorgabe, ein Klarinettenstück mit Begleitung zu schreiben, reiner Vorwand. Die Kraft und Lebendigkeit dieser Klarinettentechnik kann zu der irrigen Annahme verführen, dass das Instrument mit einer Solistenmentalität eingesetzt worden wäre; in Wahrheit beschränkt es sich jedoch darauf, Module auf der Basis von Verbindung und Konzentration von Gruppen, zwischen denen es eine korrespondierende Logik der Kontinuität und des Bruches mit dem Vorhergehenden gibt, vorzustellen und auszuarbeiten.

Formas y Fases war ein resoluter Beginn, 1970 mit dem Ziel verfasst, dieses Werk beim Béla Bartók-Preis – anlässlich des 90. Geburtstags des Komponisten – in Ungarn vorzustellen. Strukturelle Strenge und aleatorische Freiheit der Interpretation sind hier zusammengeführt.

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Jesús Villa-Rojo: „Tiempos“. Ed. Editio Musica Budapest

„Die Freiheit erlaubt eine Klangestaltung, welche sich mittels des Klangexperiments der musikalischen Phantasie bemächtigt, die sich ihrerseits in erweiterter Spieltechnik manifestiert und somit neue Kommunikationsmöglichkeiten schafft. Tremolo-Flatterbogen, unregelmäßige Vibrati, col legno (Spiel mit dem Holz des Bogens), sul ponticello, Pizzicati usw. schaffen ein Klima der Kontraste und erweitern die Idee des Instruments.“

Meine Interessen für Nationales haben mich dies alles nie als etwas Persönliches erleben lassen – bis zu meinem Cantar con Federico. Die kommunikative Kraft der Abstraktion, die über die Zeiten und Kulturen hinweg tragen kann, ohne in diese einzutauchen, war mir immer bewusst. Als die Welt sich jedoch 1986, anlässlich des fünfzigsten Todesjahres, Federico García Lorcas erinnerte, begann ich, die Musikalität seiner Gedichte – die einen populär, die anderen konzeptionell und surrealistisch – zu studieren, und ich glaube, dass dieses Studium meine Haltung und mein Verantwortungsgefühl unseren eigenen Wurzeln gegenüber verändert hat.

„Passacaglia y Cante verfolgt einen offenen Weg, auf welchem der imaginäre paso-Schritt von beschwörenden zeremoniellen oder phantastischen Mythen gelenkt wird. Es handelt sich um ein Fortschreiten, eine Evolution oder Transformation, die aus einer rein metaphysischen Perspektive heraus versucht, sich von der Materie zu lösen. Ein Fortschreiten des menschlichen Geistes in sich selbst.
„Progression – Prozession, Passacaglia, wandernd – Wanderer.
Gibt es einen Weg…?
Ein Wandern durch den Klang. Luigi Nono wanderte. Die Leidenschaften Lorcas erscheinen im „cante-Gesang“. Er liebt die Leidenschaften mit ihrem menschlichen Angesicht.

Lorca – Nono.

Prozession – wandernd, singend der Weg, sich entwickelnd die Leidenschaften.
Der Weg wandert.
Der „cante-Gesang“ entwickelt sich. Es gibt keinen Weg!
Der Weg wird erwandert, Wanderer!
Der Klang wandert, entwickelt sich.
Lorca – Nono – wanderten. Sie erwanderten einen Weg.
Damals… Ja, es gibt einen Weg!
Sie schufen einen Weg.
Der Weg wird erwandert, Wanderer!“

Passacaglia y Cante wurde vom CDMC für das internationale Festival zeitgenössischer Musik in Alicante in Auftrag gegeben und dem Andenken Federico García Lorcas und Luigi Nonos gewidmet.

Die wohlgemeinten und ehrgeizigen Versuche des musikalischen Schaffens im 20. Jahrhunderts kombinierten Instrumente und kleine Kammermusikgruppen. Sie beabsichtigten damit, das historische Format des Quartetts mit attraktiven und originellen Ideen, welche die Möglichkeiten eines Großteils der konventionellen Instrumente bereicherten, zu assimilieren. In Wahrheit jedoch behauptete die Jahrhunderte alte Form des Quartetts ihre technische und ästhetische Leistungsfähigkeit und ihre Wesensart, die dem Komponisten alle nur erdenklichen, dem Hörer alle nur möglichen aktuellen und originellen Perspektiven und Erfindungen zu erleben und zu erschaffen erlaubt.

Béla Bartók wusste das und schuf so die beste Serie von Streichquartetten des 20. Jahrhunderts. Auch Antonio Moral, Direktor des Centro Nacional de Música de Madrid, verstand dies und initiierte eine Streichquartett-Konzertreihe, genau wie jetzt das Instituto Cervantes de Múnich mit den hervorragendsten Ensembles, auch Bartok’scher Provenienz als Grundlage, jedoch bereichert und weitergeführt mit Aufträgen für den Konzertzyklus an weitere Komponisten.

Auch mein III Cuarteto-III. Streichquartett ist in dieses interessante Projekt einbezogen.  Es ist eine Auftragsarbeit für das CNDM und besteht aus drei Sätzen: Allegro impetuoso – Lento e misterioso – Allegro vivace. Ausgehend von der Verschmelzung der Elemente im ständigen dynamischen und rhythmischen Kontrast, eröffnen sich räumliche Perspektiven, die auf seine verborgene Harmonie hinweisen. Die Verräumlichung lässt weitere Nuancen hervortreten, wie die Fragmentierung der Tonabstände in die Mikrointervallik der Vierteltöne. Dies wiederum erlaubt, auf Tonalität anzuspielen, ohne jedoch wirklich tonal zu werden. Wir befinden uns also eher in der Nähe der Tonalität, oder besser des Wohlklanges, denn in einer freitonalen Gestaltung. Die erwünschte Nähe zum Bartók’schen Idiom erlaubt das Zusammenwirken von modernen, zeitgenössischen Verfahren, frei von Anforderungen seriellen oder strukturellen Denkens. Die Möglichkeiten der Entfaltung 1+1 (1=4), 4+4 (4=1), vervielfältigt die räumlichen und expressiven Potentiale des Instruments.

Das Quartett als „Instrument“ stellt sich ganz natürlich in den Dienst der Schaffung heller und dunkler Farben, ohne dass dadurch die leuchtende Expressivität der schönsten Panoramen in Gefahr geriete. Gleiches gilt für die Dramatik, welche sich ebenso natürlich mit dem Witzigen und Lustigen verbinden lässt. Diese Qualitäten haben Eingang in meine Kompositionsidee gefunden. Dadurch ist es nötig, dass in der Erinnerung eine Art von Fern-Nähe in aktuelle Wirklichkeit verwandelt wird. Dies gibt uns Ausblick auf einen künstlerischen Horizont, der das Gestern und das Heute zugleich umschließt. Wir müssen nicht immer Ort, Tag und Uhrzeit kennen. Es geht vor allem um das Heute und dessen Chancen. Mein drittes Streichquartett mit seinen drei Sätzen ist – metaphysisch gesprochen – jenseits aller Gebrauchswerte. Was es zu sein oder wem es zu ähneln scheint, sollte uns deshalb nicht interessieren. Wir sollten unsere Phantasie eher auf seine natürlichen Qualitäten lenken, denn sie sind es schließlich, die das Zusammentreffen in der Zeit und über die Zeiten sinnlich und geistig ermöglicht haben.

[Jesús Villa-Rojo: aus dem Spanischen von Manfred Bös]

München, Juni 2016
ARTIKEL FÜR DAS INSTITUTO CERVANTES MÜNCHEN

Lustig war gestern

GIUDITTA
Musikalische Komödie von Franz Lehár
Christiane Libor, Sopran
Laura Scherwitzl, Sopran
Nikolai Schukoff, Tenor
Chor des Bayerischen Rundfunks
Münchner Rundfunkorchester
Ulf Schirmer
cpo 777 749-2
EAN: 761203774920

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Niemand sollte das Unterfangen wagen, ein Musikdrama nur anhand eines Tondokumentes zu besprechen. Viele Stimmen klingen auf Platte prächtig, bewegen sich aber als Person im Theater kaum und entbehren da jeder Ausstrahlung. Die Stimme allein macht keinen Künstler auf der Bühne aus – Präsenz, Bewegung, Charisma und Musik – werden erst zusammen ein: Gesamtkunstwerk.

Lehár, einer der produktivsten und erfolgreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, verschrieb sich fast gänzlich dem Genre der Operette. Zu ihrer frühen Zeit – der Frechdachs der musikalischen Bühne! Hier wurden Konventionen der Gesellschaft auf komödiantische Weise unterminiert – die Ständegesellschaft, die heuchlerische Moral. Und das allpräsente Pathos der Kaiserzeiten – Militarismus, nationaler Wahn:  Alles versank heiter im Walzer- und Polka-Schwung.

Lehár nennt seine finale Operette GIUDITTA eine „musikalische Komödie“. Also nicht mehr Operette. Das ist eine bewusste Irreführung. Komische Handlung keineswegs – oder was ist lustig daran: ein (sorry) ziemliches männliches Weichei, aber offenbar fesch, verliebt sich in eine Frau, die selbstbestimmt und ihrer Wirkung bewusst nur den Auslöser sucht, der es ihr erlaubt, ihrer erstarrten Beziehung zu entfliehen. Protagonistin GIUDITTA : eine nicht-mehr LULU. Kein Wesen mehr, das, ohne Willen, Begierde und Leid erzeugt. Ganz sicher ihrer Wirkung auf Männer und eigener erotischen Bedürfnisse bewusst. Ihren langweiligen Ehemann verlässt sie schleunigst für einen (vermeintlich) schneidigen Offizier, der in Afrika in der kurzen, wenig glücklichen, italienischen Kolonialzeit reüssieren will.

Und ihn ruft der Krieg. Sie will ihn ganz und halten und rät zur Desertion. Aber er geht. GIUDITTA  muss sich abwenden, zieht weiter und wird von begehrenden Bewunderern umringt.

„Meine Lippen die küssen so heiß“, die bekannteste Nummer des Stücks. Die Melodie stellt ihre Opfer-Täterrolle klar: Begehrte und Begehrende. Zu Lehárs Zeiten ein Wagnis auf der Bühne. Eine moderne Frau.

Das hat mit Romantik nichts mehr zu tun. GIUDITTA dokumentiert eine Zeitenwende: „vom wissend-würde-ein-Weib“ hin zur Frau, die von vornherein ganz weiß, was sie will. Die Tragik dabei, die aber keine ist: ihr Geliebter verfällt ihr, aber seine Liebe ertrinkt in Selbstzweifel und Unfähigkeit. Ihren Lebenshunger vermag er, gefangen in Konvention, nicht zu erfüllen. Er versagt angesichts ihres Anspruchs auf umfassende und körperliche Liebe und sein vermeintlich zwingendes Pflichtgefühl gibt ihm die Gelegenheit, ihr zu entfliehen. Um im Selbstmitleid sein eigenes Scheitern sich als eine fatale Verstrickung widriger Umstände zu erklären.

Am Ende des Werkes klimpert er ihr auf einem Hotelpiano noch wenige sentimentale Akkorde hinterher, während sie mit ihrem neuen Liebhaber soupieren will.

GIUDITTA dekonstruiert bereits in den 1930er Jahren, was heute längst entsorgt ist: die „romantische“ Vorstellung von Liebe, die alle Widerstände überwindet und in vollendeter Zweisamkeit Glück und Erfüllung findet. Und das möglichst auf ewig.

Franz Lehárs Musik: Die Operette ist welk geworden. Lustig war gestern. Er vermag jedoch durch seine überströmende sinnliche Erfindung, mit der (für „Operette“ etwas dicklich) schimmernden Instrumentation, schmelzenden, sangbaren Linien von Beginn an zu fesseln. Und zu verzaubern. Puccini klingt nach, Huppertz, der Komponist des Films „Metropolis“ ist ein überraschender Genosse im Duktus. Bernsteins „West Side Story“ – nicht weit hinterm noch dunklen Horizont.

Das Münchener Rundfunkorchester, der Chor des Bayerischen Rundfunks unter Ulf Schirmer – und die vielen Vokal-Solisten: Frau Libor ZUERST und Frau Scherwitzl für ALLE genannt:

Die Textverständlichkeit ist vorbildlich. Alle Mitwirkenden sind mit hörbarer Freude dabei. Durchsichtiger Klang. Großartige Leistung. Ein rundum-sorglos Glück!

GIUDITTA gehört auf die Bühne. Nicht auf eine CD – aber wenn es so schön und spannend gerät, wie in dieser Einspielung: diese muss in die CD-Regale all jener, die Musik lieben!

Nur einen Beckmesser-Tafelstrich: kein Textbuch im Booklet! Zumindest einen Link auf eine Webseite, wo das Fehlende verfügbar ist, sollte sein. Gibt es nicht auch Menschen, die mitlesen wollen? Jene zuerst, die deutscher Sprache nicht mächtig sind, aber es anhand von etwas Schönem rascher zu lernen wünschten?

[Stefan Reik, Juni 2016]

Bilder und Zeichnungen

Die letzte der „Stationen der Musikgeschichte“, des diesjährigen Konzertzyklus der Reihe Klavierspielkunst von und mit Jürgen Plich, beschäftigt sich mit „Mussorgsky plus“, wobei das Plus am Nachmittag des 5. Juni 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München für Claude Debussy steht. Von Debussy erklingen die Estampes aus dem Jahre 1903 (Pagodes, La Soirée dans Grenade und Jardins sous la pluie). Aus der Feder von Mussorgsky werden die unverwüstlichen Bilder einer Ausstellung (Erinnerungen an Viktor Hartmann, 1874) dargeboten sowie mit der Mezzosopranistin Dorothee Labusch der Liederzyklus Kinderstube von 1870-72 in deutscher Übersetzung (Mit der Njanja, Im Winkel, Der Käfer, Mit der Puppe, Abendgebet, Kater Prinz, Steckenpferdreiter).

„Er war einst mein Schüler, nun ist er mein Kollege“, so lobte der gefragte Pädagoge und Pianist Professor Gregor Weichert den heute zu hörenden Jürgen Plich bei seinem Konzert im April diesen Jahres, welches ich ebenfalls für The New Listener besprach. Bei solchen auf distinguierte Art anerkennenden Worten konnte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, das heutige Konzert zu besuchen, welches den Abschluss dieser Saison von Klavierspielkunst darstellt. (Doch keine Angst, die Termine für die kommende Saison sind bereits bekanntgegeben, im November gibt es Schubert und im kommenden Jahr sechs Konzerte mit allen Klaviersonaten von Mozart.)

Das Saisonfinale führt den Hörer zu zwei absoluten Nationalisten, deren Musik meist ganz und gar im Zeichen ihrer Heimat steht: Claude Debussy und Modest Mussorgsky. Den Beginn macht Debussy mit seinen Estampes, drei kurzen „Zeichnungen“, bestehend aus den von der Gamelanmusik beeinflussten Pagodes, den flüchtigen Impressionen spanischer Musik in Le Soirée dans Grenade und dem perlig-verregneten Jardins sous la pluie. In diesen kurzen Stücken liegen ganze Welten voll prächtiger Farbenspiele, innovativer Zusammenklänge und stets dem auf den Punkt gebrachten „lyrischen Moment“.

Die Verbindung zum folgenden Liederzyklus Kinderstube von Modest Mussorgsky schafft Jürgen Plich durch seine höchst informative Werkeinführunge, lobte doch Debussy alias Monsieur Croche die Lieder des Russen in einer Zeitungsrezension als absolutes Meisterwerk. Und auch heute noch, weit mehr als 100 Jahre später, kann man Debussy nur zustimmen. Die sieben Lieder glänzen in ihrer leicht-beschwingten Art in erhabener Zurückgenommenheit, welche jeder Akkordwendung Bedeutung schenkt und nicht eine Note überflüssig erscheinen lässt. Die ebenfalls von Mussorgsky stammenden Texte sind in der Singstimme wie in der Klavierbegleitung unmittelbar ausgedeutet, geben immer wieder zum Grinsen Anlass, können aber auch einmal einen kurzen Schauer über die Rücken der Hörer gleiten lassen. Gerade die (teils nur vermeintliche, teils aber auch tatsächliche) Unschuld aus den Mündern der hier sprechenden Kinderfiguren zeugt durchweg inspirierte und phänomenal beschworene Momente.

Nach der Pause folgt der große Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, Erinnerungen an Viktor Hartmann. Zehn Bilder des großen russischen Malers und engen Freundes vertonte Mussorgsky, ging dabei allerdings weit über die bildliche Vorlage hinaus und schuf eine ganze Geschichte, die dadurch gegeben ist, dass der Ausstellungsbesucher (wohl Mussorgsky selbst) mit abgebildet ist, wie er von einem Kunstwerk zum nächsten schreitet – in den Promenaden. Warum die Promenade nach den Katakomben nicht mehr als eigener Abschnitt betitelt ist, sondern mit „Con mortuis in lingua mortua“ einen neuen Titel erhält sowie im Großen Tor (dem Heldentor) direkt eingebunden erscheint, wird dabei allen Erbsenzählern wohl immer ein Rätsel bleiben. Ob der Besucher nun so von den Bildern in den Bann gezogen wird, dass das Gehen als unbewusste Aktion geschieht, oder ob doch die Toten in der Grabstätte den Besucher in die Kunstwerke selbst gebannt haben, dass er Teil von ihnen wird, werden wir nicht belegen können.

Jürgen Plich erweist sich als ein exzellenter Pianist, der die Musik durchdringen, auffassen und mit spielerischer Leichtigkeit glaubhaft vermitteln kann. Tatsächlich lässt sich vom technischen Aspekt her eine Parallele zu Gregor Weichert ziehen, was seinen gesamten Armeinsatz betrifft, der jedoch von Plich auch modifiziert und abgewandelt wurde. Besonders auffällig dabei ist sein federndes Handgelenk, welches die Energie vom Körper direkt in die Fingerkuppen bringt, der Arm dient vor allem als reiner, federleichter Vermittler, der absolut keinen Widerstand darstellt, sich auf alle geforderten Umstände einstellen kann. Dies hat einen sehr feinen, sensiblen Ton zur Folge, der eine Leichtigkeit und unmittelbare Wirkung beinhaltet, der man sich schwerlich entziehen kann. Durch eine vollkommen natürlich erscheinende Phrasierung wird der Hörer sogleich in den Bann gezogen und es herrscht durchweg eine beeindruckende Aufmerksamkeit im (leider zu wenig gefüllten) Saal, wie sie selten zu finden ist.

Besonders interessant ist Jürgen Plichs Vorgehen in Mussorgskys Bildern einer Ausstellung, denn hier wird auch er noch einmal schöpferisch tätig. Er vollzieht einige durchaus merkliche Änderungen gegenüber der üblichen Auslegung der Spielanweisungen, was Dynamik und auch Tempo betrifft. Ein Großteil dieser Änderungen funktioniert einwandfrei und unterstreicht einige Aspekte, die ihm besonders wichtig sind wie die zauberhaft-verschleierte Melodievariation im Alten Schloss, der fast aufständisch wirkende Gesang in der Mitte des Bydło, die markanten Unterschiede zwischen den beiden Juden Samuel Goldenberg und Schmuÿle oder das pittoreske Markttreiben in Limoges. Auch das Heldentor in der Hauptstadt Kiew erhält durch feiner gewählte Dynamik einen wesentlich größeren Aufbau zum Schluss hin. Lediglich der Gnomus erklingt etwas „harmlos“, da die aufbegehrende Anfangsfloskel häufig unscheinbar leise und zu schnell, somit schwer verständlich, herüberkommt. Im Gegensatz dazu wirken die unausgeschlüpften Küken etwas zu erwachsen, da aus dem piepsenden Pianissimo (bis ppp sogar) ein gesundes Mezzoforte wurde, wodurch sie stellenweise etwas plump tanzen. Interessant gestalten sich die Harmonien in den Katakomben, dem Umbruchstück des Zyklus‘. Die vollen Akkorde bilden sich gut abgestimmt aus mit der vielseitig unterlegten Dynamik zu einem stimmungsvollen Gemälde voll innerer Schrecken, die in die diesmal besonders düster flirrenden Stimmen der Toten übergehen. In die Promenade, so erscheint es mir, kann sich Jürgen Plich als Individuum gut hineinversetzen, hier bringt er am deutlichsten sich selbst ein und geht authentisch durch Hartmanns Ausstellung. So wird auch der Zuhörer hineingezogen in die Magie der Bilder, denn die Geschichte passiert unmittelbar vor ihnen und nicht irgendwo in weiter Ferne durch einen nicht anwesenden Dritten.

In der „Kinderstube“ begleitet Plich seine Sängerin als gleichwertiger und gut abgestimmter Widerpart, der nie ihre Stimme verdeckt und doch ein vollwertiger Partner mit präsenter musikalischer Aussage ist. Dorothee Labusch, extra aus der Schweiz angereist, präsentiert die sieben Lieder in einer hinreißenden Darstellung, in welcher sie direkt bildlich die Kinder und ihre Njanja verkörpert. Die Rollen kauft man ihr vorbehaltlos ab, so natürlich und ungekünstelt stellt sie diese dar. Mit reiner Intonation und zumeist problemloser Textverständlichkeit fliegt sie förmlich über der Klavierbegleitung dahin und bezieht den Zuhörer mit ein in die so charmant dargestellten Kinderwelt, die eigentlich niemanden unberührt lassen kann.

Auch die Welt von Debussy eröffnet sich dem Hörer in den einfühlsamen Darbietungen von Jürgen Plich, denn die der Natur lauschende Musik scheint eine besondere Stärke des Pianisten zu sein, und so fesselt er die Konzertbesucher direkt vom ersten abgerundeten Ton an und dringt tief in das Wesen dieser Musik ein.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Zauberhaft, authentisch, berührend – Yamilé Cruz Montero und Christos Asonitis spielen kubanische Musik

Die 1985 in Havanna geborene Pianistin Yamilé Cruz Montero spielt in der Mohr-Villa in Freimann im Münchner Norden Werke kubanischer Landsleute, teilweise in Kollaboration mit dem griechischen Schlagzeuger Christos Asonitis. Neben Zeitgenössischem, darunter zwei vertrackten Kompositionen der bekanntesten kubanischen Komponistin Tania León und zwei Eigenkompositionen von Frau Cruz Montero, spielte sie auch Klassiker von Ernesto Lecuona und, als Zugabe und einziges Werk des 19. Jahrhunderts, Ignacio Cervantes.

Schon kürzlich berichtete the-new-listener.de von einem Konzert, in welchem Yamilé Cruz Montero ausschließlich zeitgenössische Werke von Komponistinnen, darunter mehrere Uraufführungen, vortrug. Und schon da war erstaunlich, mit welcher Ernsthaftigkeit, filigranen Feinnervigkeit, rhythmischem Groove und natürlicher Sanglichkeit sie agierte. Das Konzert in der Mohr-Villa – in eher etwas indifferenter Akustik auf einem zwar nicht makellosen, da nur bedingt modulationsfähigen, aber doch auch nicht allzu unbefriedigenden Hohner-Flügel – begann sie denn auch mit eben jener Danzón von der in Holland lebenden Keyla Orozco und den zwei virtuosen Stücken ‚Momentum’ und ‚Tumbao’ von Tania León, die sie bereits zuletzt im Programm führte. Und es war erfreulich, hören zu können, wie die Werke unter ihren Händen weiter reifen. Neu dann ‚Reencuentro’ von dem 1958 geborenen, komponierenden Klaviervirtuosen Ernán López Nussa, nunmehr unter so dezenter wie stimulierender Mitwirkung von Asonitis am Percussion-Set. Man darf staunen, wie wunderbar die beiden aufeinander eingespielt sind, und diese durchaus auf traditionellen karibischen Elementen aufbauende Musik swingte nicht nur in transparenter Zartheit, sondern entfaltete eine improvisatorische Anmut. Eine von geschmackvoller Sensitivität getragene Musik, die man gerne wieder hören möchte. Es schlossen sich vor der Pause noch, nunmehr wieder für Klavier solo, die Variationen über ein (innig romantisches) Thema von Silvio Rodriguez aus der Feder von Andrés Alén an – 1950 geboren, hat er sich einst auch seine Sporen als Pianist verdient. Man merkt seinem Zyklus an, dass er aufmerksam die großen Vorbilder in der Gattung studierte, und in einer Variation scheint tatsächlich Brahms eine kleine Stippvisite zu machen. Allerdings wirkt das Werk insgesamt auch etwas bemüht scholastisch und ist nicht von einem durchgehenden Spannungsbogen getragen. Yamilé Cruz Montero bemühte sich nach Kräften, der nicht allzu überzeugenden Entwicklung den durchgehenden Lebensimpuls einzuhauchen.

Was noch zu wünschen wäre: dass sie ihren sehr liebevoll und offenherzigen Einführungsworten etwas mehr Information über die hierzulande ja völlig unbekannten Komponisten hinzufügt.

Nach der Pause folgte, was Länge, Gehalt und stilistische Vollendung betrifft, zunächst das Hauptwerk des Abends, zwar kubanischer Herkunft, aber doch auch das einzige nicht kubanische Werk des Abends: die sechssätzige Suite Andalucia vom Nationalkomponisten Ernesto Lecuona. Hier konnte Yamilé Cruz Montero ihr ganzes Können ausspielen, in feinen Schattierungen und unwiderstehlichen Rhythmen, und es ist Musik, die ohnehin Vergnügen bereiten möchte und nur darauf wartet, dass jemand wie hier sein ganzes Herz und seine Ausdrucksstärken in ihren Dienst stellt. Ganz besonders zauberhaft die Sätze ‚Alhambra’ und ‚Malagueña’, und ganz besonders quirlig die ‚Gitanerias’. Danach erwarteten wir gespannt zwei Eigenkompositionen der Pianistin: ein schlichtes, erstaunlich fein gesponnenes und in den Fortschreitungen durchaus kraftvolles Stück, das im Verhältnis von Können und Wollen stimmig erschien. Danach, nun wieder unter Mitwirkung des Schlagzeugs, das Schauspielmusik-Extrakt ‚El dragón en la luna’, mit vielen zündenden Momenten, aber auch nicht so organisch etwickelt wie das vorangehende Solo-Präludium, sondern eher eine geschickte Montage unterschiedlicher Elemente. Die beiden boten dann noch von dem afro-kubanischen Jazzmusiker Aldo López Gavilán ‚El pájaro carpintero’ dar, sehr zur Freude des begeistert mitgehenden, zahlreich erschienenen Publikums, das mit dieser Musik so richtig „in Fahrt“ gekommen war und gar keine Anstalten machte, nach Hause gehen zu wollen. Also folgte noch einmal Lecuona, diesmal mit einem kubanischen Tanz unter Mitwirkung des etwas zu kräftigen Schlagzeugs (dadurch werden vor allem die tiefen Register des Klaviers sehr übertönt), und zum Schluss Yamilé Cruz Montero alleine mit einem populären Klassiker von Cervantes.

Beide Künstler verdienen den Enthusiasmus, der ihnen entgegenschlug. Christos Asonitis ist ein so einfallsreicher wie unaufdringlicher, hochkultivierter und hellwacher Schlagzeuger, der dem kleinen Set einen großen Reichtum an Nuancen entlockt und nicht in routinierte Mechnizität abgleitet. Und Yamilé Cruz Montero wünscht man noch sehr viel Erfolg, und dies wahrlich aus mehr Gründen als der durchaus zauberhaften Erscheinung wegen! Was wir so oft vermissen auf dem Podium: ein durchweg aufrichtiger Mensch und authentischer Künstler, ohne jegliche Prätention, gewiss zu menschlich und bescheiden für das Ellenbogen-Business der Starkult-Klassikwelt, dafür berührend und echt in allem, was sie tut. Und durchaus auch mit dem Potential für eine Virtuosin von Rang versehen. Wir sind gespannt, was sie noch alles für uns entdecken wird.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Mai 2016]

Gefilde der seligen Geister

Matinée am 5. Mai 2016 um 11 Uhr im Prinzregententheater
Symphonieorchester Wilde Gungl München
Dirigent: Michele Carulli; Moderation: Arnim Rosenbach

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Am strahlenden Himmelfahrtstag ein strahlendes Konzert im ausverkauften Saal des Prinzregententheaters, das ist ein treffliches Zusammenkommen. Und solch ein Konzert können die Münchner nur mit „ihrer“ WILDEN GUNGL erleben! Aufforderung zum Tanz hieß das Motto nach dem berühmten Stück von Carl Maria von Weber – das natürlich auch zu hören war im bunten Strauß der Stücke, die dieses Himmelfahrts-Konzert ausmachten. Viele davon waren die sogenannten Reißer, der Blumenwalzer aus dem „Nußknacker-Ballett“ von Tschaikowsky, der Kaiserwalzer von Strauß, Kontretänze des jungen Beethoven, zu Beginn ein Mozart-Menuett aus dem Divertimento KV 317. Also alles Stücke, die man durchaus kennt und sicher auch schon oft gehört hat. Auf CD, im Radio oder sonst wo. Aber:

So, wie sie heute die Musikerinnen und Musiker des Symphonieorchesters Wilde Gungl entstehen ließen, wie es eben doch nur bei einem Live-Konzert zu erleben ist, das hat wieder einmal die ganze Kraft und Energie der Tonkunst gezeigt. Keine noch so gute Aufnahme, kein noch so guter Mitschnitt kann eben das leibhaftige Entstehen von Musik ersetzen, da hatte Maestro Celibidache einfach Recht.

Und wie die Kompositionen heute entstanden! Anmoderiert auf seine unnachahmlich charmante Art vom Konzertmeister Arnim Rosenbach ergab sich aus dem Programm mit den vielen Einzelstücken ein wunderbarer Bogen von Mozart bis zu den zwei Zugaben, die sich das begeisterte Publikum erklatschte. Und gerade bei den scheinbar ach so oft gehörten „Ohrwürmern“ kam durch die Klangentfaltung und durch das Wahrnehmen der einzelnen Orchestergruppen oder Solisten das „Gungl-Wunder“ – wie es der Präsident Kurt-Detlef Bock hinterher beschrieb – eben jene Magie auf, die Musiker und Zuhörer gleich verzauberte und mitnahm in die „Gefilde der Seligen Geister.“

Natürlich hatte Maestro Michele Carulli daran den Anteil, den er als Dirigent an all den drei Konzerten, die ich bisher das Vergnügen hatte, zu hören, als „Anfeuerer“, als tänzerischster „Begeisterer“ eben einfach hat. Seine intensive und mitreißende Körpersprache, sein völliges Aufgehen im Augenblick der Gestaltung eines Stückes, sind umwerfend, eben con anima e corpore, wie ich schon einmal schrieb. Nur waren es heute eben Aufforderungen zum Tanz, die ein leider zum Stillsitzen verurteiltes Publikum eben nur innerlich – immerhin – erleben konnte. Der schon beim letzten Konzert im Herkulessaal ausnehmend weiche und dennoch füllende Klang der Streicher wurde aufs Schönste und Passendste ergänzt und gesteigert durch die Bläser und in einigen Stücken natürlich auch durch die Pauke, die Harfe (!) und verschiedenste „Schlagzeuge“. Den Solistinnen und Solisten galt denn auch nach jedem Stück Maestro Carullis Dank, den er – wie zum Schluss auch einigen Damen des Orchesters die Rosen – vollendet „gentlemanlike“ zum Ausdruck brachte.

Im letzten Stück des offiziellen Programms – einem Ausflug nach Brasilien mit der Komposition „Tico-Tico“ von Zequinha de Abreu – brach ein Beifallssturm los, den das Orchester zusammen mit Maestro Carulli mit zwei Zugaben beantwortete. Im letzten, einem Galopp des Namensgebers des Orchesters Josef Gung’l machte er sich mit perfekt geschauspielertem „Entsetzen“ über seine „Rolle“ als Dirigent lustig: nach dem Goethe’schen Motto „Wer sich nicht selbst zum Besten halten kann, der ist gewiß nicht von den Besten!“

Und das kann man von ihm und „seinem“ Orchester“ nach diesem wunderbaren, herzbewegenden Konzert sicher nicht sagen.

(Ceterum censeo: Auch die Münchner Presse täte langsam gut daran, die Konzerte der „Wilden Gungl“ endlich einmal angemessen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen!)

[Ulrich Hermann, Mai 2016]

Nørgård erhält den Ernst von Siemens Musikpreis

Im Rahmen der Preisverleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an Per Nørgård sowie der drei obligatorischen Komponisten-Förderpreise spielt das ensemble recherche die Uraufführung von Hladan ti dah do grla von Milica Djordjević, Intersections von David Hudry und Sachlicher Bericht aus Arien / Zitronen, ebenso eine Uraufführung, von Gordon Kampe. Aus dem Œuvre des Hauptpreisträgers Per Nørgård erklingen Scintillation für sieben Instrumente (1993) und Seadrift für Sopran und Ensemble (1977-78). Für die erkrankte Sarah Maria Sun übernimmt Johanna Zimmer kurzfristig den Sopran-Part, Truike van der Poel „singt“ die Mezzosopran-Partie im Werk von Djordjević.

Endlich ist es soweit und ein Skandinavier erhält den Ernst von Siemens Musikpreis für Komponisten! Es ist der Däne Per Nørgård, der nun diese hoch dotierte und international gewichtige Auszeichnung in Händen hält. Und dies mehr als gerechtfertigt, sein kompositorisches Schaffen ist von stets überraschender Originalität, von höchster handwerklicher Vollendung bis in die dichteste Polyphonie, und wirkt dennoch absolut natürlich, frei und frisch. Rhythmisch besticht es durch nicht an die symmetrische Taktschreibweise angepasste Gliederung, die viel eher von natürlichem Sprachgebrauch und dem menschlichen Interagieren allgemein beeinflusst ist, melodisch entdeckte Nørgård schon in den sechziger Jahren die sogenannte Unendlichkeitsreihe, die sich ebenso von den klassischen Perioden zu lösen vermag und eigene Wege beschreitet, die jedoch immer in gewisser Weise nachvollziehbar bleiben. Die Musik von Nørgård sagt im Kern etwas aus, jedes Werk ist eine vollkommen neue Welt, in höchster Kunstfertigkeit und wie er selbst sagt, immer gewagt und „strange“, doch stets auch für die menschliche Wahrnehmung unmittelbar auffassbar und wirksam.

Nach der Begrüßung durch Michael Krüger – Vorsitzender des Stiftungsrats der Ernst von Siemens Musikstiftung und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – beginnt der Abend mit der Uraufführung von Milica Djordjevićs „Hladan ti dah do grla“, auf Deutsch „Verflucht dein Atem bis zum Schlund“, für Mezzosopran und Ensemble. Ihre Musik solle den Menschen bis in sein Innerstes erschüttern und keinen Hörer kalt lassen, heißt es im sehr gelungenen Portraitfilm über die Komponistin (alle vier Portraitfilme sind von Johannes List ausgezeichnet gedreht und produziert). Doch berühren kann mich ihr dargebotenes Werk kein bisschen, es lässt mich absolut unbeteiligt. Die Streicher kratzen und quietschen, der Schlagzeuger drischt wüst auf alle möglichen Trommeln ein und kratzt mit aufgesetzten Nägeln über Blech, die Bassklarinette spielt total unzusammenhängendes Ton-Chaos. Solch eine Musik kann heute gar nicht mehr erschüttern – vielleicht hätte sie es vor sechzig Jahren einmal gekonnt, aber selbst das würde ich bezweifeln, mehr als einen kurzen Schock hätte sie nicht ausgelöst. Man hat sich schlicht sattgehört an solch einer Musik, die im Grunde gewöhnlich unangenehm ist wie das quietschende Einfahren einer U-Bahn, und es macht auch klanglich wenig Unterschied. Alles verliert sich in Strukturlosigkeit, skurrilem Klang- und Geräuschgewirre ohne jeglichen Sinn und einer dumpfen Statik, die jede Art der Entwicklung im Vorhinein ausschließt.

Intersections heißt das zweite Werk des Abends, von David Hudry, komponiert 2014. Die Grundidee dahinter besteht in der ständig wechselnden Beleuchtung einer vorgegebenen Figur, wodurch immer neue Perspektiven eröffnet werden. Unvermeidlich erhält Intersections durch dieses Prinzip eine gewisse Starrheit und technokratische Aura mit dem kontinuierlich bestehen bleibenden Grundgedanken. Doch hat es einen gewaltigen Reiz, all die Neuschattierungen und changierenden Kontexte auszukundschaften, die mit einfallsreich reflektierten Klängen magische Momente erzeugen.

Interesse erregt der Titel der dritten Komposition: „Sachlicher Bericht“ und dann noch aus einer Sammlung namens „Arien / Zitronen“. Und tatsächlich erlebt das Publikum hier eine sehr erfreuliche Überraschung. Gordon Kampe hat eine wahrhaft eigene Aussage in diesem Werk für Sopran und Ensemble. Die Tonsprache tanzt durch ihre Individualität aus der Reihe der viel zu oft gleichförmig-nichtssagenden Werke der postmodernen Avantgarde, bietet höchst spannende Augenblicke und birgt sogar eine gewisse sinnlich unmittelbar sich vermittelnde Struktur. Gewiss, teils mag der musikalische Sinn der Gesamtkonstruktion noch etwas wackeln und der Kontext verlorengehen, doch bin ich der festen Überzeugung, dass Gordon Kampe den heutigen Förderpreis wirklich nutzen kann, um an seinem Stil zu schleifen und seine vielseitig eigene Tonsprache reifen zu lassen.

Nach der Pause folgt der Hauptteil der Veranstaltung, die Verleihung des begehrten Ernst von Siemens Musikpreises an den dänischen Meister Per Nørgård. Anders Beyer, Intendant des Bergen International Festival, ist extra aus Norwegen angereist, um die kompakte, geistreiche Laudatio zu halten, und Michael Krüger überreicht die Urkunde an den Komponisten. Umrahmt wird der Festakt durch die Darbietung zweier Werke aus den 90er- beziehungsweise 70er-Jahren. Zunächst Scintillation für sieben Instrumente, ein dicht polyphon gewobenes Werk von unverkennbarer Eigenständigkeit, einer vom ersten bis zum letzten Ton anhaltenden Spannung mit herrlich unorthodox formulierter melodischer Kontinuität. Beendet wird der Abend durch die Walt Whitman-Vertonung Seadrift, ein mehrteiliges Werk für Sopran und Ensemble, was einen Umbruch in der Musik von Nørgård darstellt, noch vor seiner vielzitierten „Wölfli-Ära“. Dieses in jeder Hinsicht vollendete Werk dürfte wohl jeden im Saal angesprochen haben durch seine unbestechliche Natürlichkeit, den klaren Sprachfluss, die phänomenale Instrumentation inklusive verstärkter Gitarre und ungewöhnlichem Schlagwerk wie kleinen, zarten Glöckchen. Was für eine Rhythmik, die absolut von innen heraus gefühlt ist, vollkommen ungekünstelt wirkt und doch gegen alle Gewohnheiten aufbegehrt! Solch eine rundum überzeugende Musik der Gegenwart (und dies auch noch so vollkommen unprätentiös!) ist eine absolute Rarität und hat es noch nie in den Kanon der auf dem Kontinent des Öfteren gespielten zeitgenössischen Musik geschafft – warum, lässt sich schwer sagen, vielleicht mag es an den eigenen Aussagen der Musik liegen, an ihrer so ungewohnten und doch organisch zusammenhängend entstehenden Klangvielfalt, die ganz im Gegenteil zum Gros der heutigen Avantgarde tatsächlich noch fortschrittlich modern und komplett eigenständig ist – und somit für die meisten, selbst für die gestandenen Anhänger zeitgenössischer Musik oft „gewöhnungsbedürftig“.

Die Musiker des ensemble modern sind natürlich erfahren in der Darbietung zeitgenössischer Musik, und trotzdem ist es frappierend, wie scheinbar mühelos sie mit den unmöglichsten Geräusch-Abstraktionen und mit selbst in der verzweigtesten Rhythmik überzeugen. Sogar die qualitativ schwächeren Passagen bei Djordjević spielen sie mit voller Überzeugung, wodurch selbst diesen ein gewisser Reiz abgewonnen werden kann. Truike van der Poel erfüllt in Djordjevićs Werk hauptsächlich eine parlierend-skandierende, oft vulgär aufschreiende Aufgabe, die ihre Stimme nicht in ein attraktives Licht setzen kann, doch dafür bekommt Johanna Zimmer als kurzfristige Einspringerin für Sarah Maria Sun umso mehr die Möglichkeit zu glänzen. Die virtuosen Solostimmen von Kampe und Nørgård musste sie innerhalb von wenigen Tagen vollkommen neu einstudieren. Doch das hört man ihr kein bisschen an, sie singt mit einer Freiheit, Feinheit und innigem Ausdruck, als wären diese Stücke ihr bereits in die Wiege gelegt worden. Sie hat sichtliche Freude vor allem an Nørgårds Seadrift und surft in unvergleichlichem Einklang mit allen Instrumentalisten des Ensembles in hellwach traumwandlerischem Vertrauen auf ihre herrliche Stimme. Zimmer singt klar, hell, verfügt über unüberschaubar viele ausgereifte Nuancen der Tongebung und ein exzellentes Gespür für Dynamik, Artikulation und Vibrato. Auch der Komponist selbst ist sichtlich begeistert von ihrer Leistung und will es sich trotz beängstigender gesundheitlicher Beschwerden – nachdem er sogar bei der Urkundenverleihung sitzen bleiben musste – nicht nehmen lassen, auf die Bühne zu steigen, um die Sängerin zu umarmen – und das zu Recht!

Es ist selten, dass man vollkommen begeistert aus einem Konzert herauskommt und so sehr beeindruckt ist von der kompositorischen Qualität eines Meisters der Gegenwart, dass man über die Musik sagen möchte: „Verweile doch, du bist so schön“. Und es hätte keinen würdigeren Preisträger geben können als Per Nørgård. Wir gratulieren dem Komponisten zu dieser Auszeichnung und hoffen sehr, dass er uns als Mittachtziger noch einige weitere grandiose Werke schenken wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Pastoralen, Blumen und armenische Trompetenmusik

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Quer durch drei Jahrhunderte erstreckt sich das Programm der Württembergischen Philharmonie unter Leitung von Chefdirigent Ola Rudner am 24. April 2016 im Herkulessaal der Münchner Residenz: Von Haydns Trompetenkonzert Es-Dur Hob.VIIe:1 von 1796 und Beethovens F-Dur-Symphonie, der Pastorale, über Mahlers Symphonischen Satz C-Dur mit dem Titel „Blumine“ bis zu dem As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunian, geschrieben 1941. Solist ist der norwegische Trompetenvirtuose Ole Edvard Antonsen.

Wagnerisch wird es direkt zu Beginn des Abends mit der „Blumine“ von Gustav Mahler. Der Satz, welcher ursprünglich Teil der ersten Symphonie werden sollte, weist solch signifikanten Parallelen zum Komponisten des Ring-Zyklus auf, dass man stellenweise fast meinen möchte, im Programm stehe ein falscher Name. Es ist ein beschauliches Stimmungsgemälde, in aller intendierten Bedeutungslosigkeit unfassbar schön und träumerisch. Weitaus substantieller dann das Trompetenkonzert von Joseph Haydn in Es-Dur Hob. VIIe:1, welches nicht zu Unrecht das wohl meistgespielte Trompetenkonzert überhaupt ist (wenngleich sicher auch aufgrund des schmalen Repertoires). Dieses Konzert schmeichelt dem Solisten auf der Es-Trompete in den schönsten Tönen in seiner ihm ureigenen Tonart. Das Instrument erhält höchst sangliche Kantilenen, dankbar virtuose Läufe und rhythmisch prägnante Themen. Von äußerstem Gegensatz in der harmonischen Spannung ist dazu das in etwa gleichlange Trompetenkonzert des Armeniers Alexander Arutjunian, jenes Werk des damals erst 21-jährigen, welches ihm zu internationalem Durchbruch verhalf und bis heute eines der wenigen oft gespielten Stücke des Komponisten ist. Es ist geprägt von den unverkennbaren Einflüssen armenischer Volksmusik, von östlichen Tonskalen und sowjetisch bunt orchestrierter, orientalisch anmutender Harmonik sowie von problemloser Verständlichkeit und Unbeschwertheit für Spieler wie für Hörer. Das letzte Werk des Abends ist die Pastorale, die Symphonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven in der Tonart F-Dur. Das Schwesterwerk der Schicksalssymphonie besticht durch seine malerischen Naturbilder, durch endlose Motivrepetitionen im Kopfsatz, durch unendliche Melodien im folgenden Andante sowie die fast erzählerische Abfolge der kommenden drei Sätze, die unmittelbar miteinander verbunden sind. Eine besondere Schau ist natürlich der mitreißende Sturm-Satz mit ungebändigten Läufen, tiefem Grummeln in Streichern und Pauken sowie der stürmisch zischenden Piccoloflöte, die einen ihrer ersten solistischen und für das Werk substanziellen Einsätze in der Musikgeschichte erfährt.

Über die Darbietung lässt sich kurz und knapp sagen, sie war ausgesprochen gelungen und überzeugend. Vor allem bei Beethovens Pastoral-Symphonie war sie direkt frappierend gut. Diese Symphonie ist bekannt dafür, als endlos sich dahinziehender Einheitsbrei aus thematisch in sich kreisenden Motiven zu erscheinen, welcher banal und entwicklungslos vor sich hinplätschert, wie es sogar bei den Spitzenorchestern gerne der Fall ist. Es ließ also sehr aufhorchen, wenn an diesem Abend endlich einmal die großen Spannungsbögen entfaltet werden und die Musik die Kraft der befreiten Entwicklung erleben darf. Ola Rudner lässt die Musik aus ihrer Natürlichkeit und Schlichtheit entstehen, verleiht ihr nicht zu viel Härte – auch nicht im Sturm – und sorgt doch für einen ansteckenden Schwung und prächtige Ausdrucksvielfalt. Dass manch hörenswerte und thematisch bedeutsame Stimme dabei nicht ganz zum Vorschein kommt, ist wie stets hauptsächlich der teils etwas schwer zu strukturierenden Instrumentation des Werks geschuldet, welche die Hauptstimmen teils sehr effektiv überdeckt. Der schwedischstämmige Dirigent Ola Rudner zeigt hier eindrucksvoll, dass man mit tiefergehendem Verständnis für das Werk es schaffen kann, aus dem Trott der ewig gleichen Wiedergaben herauszukommen und der Symphonie wieder neues, frisches und unverbrauchtes Leben einzuflößen.

Auch in den anderen Programmpunkten überzeugen Orchester und Dirigent auf hohem Niveau, vermitteln Anmut und feinen Glanz in Mahlers Blumine und geben dem Solisten Ole Edvard Antonsen einen flexiblen Widerpart zu seinen Solostimmen. Außergewöhnlich anzusehen für so große Hallen sind die Gesten von Ola Rudner, die sehr innig, kompakt und komplett ohne Schielen auf außermusikalischen Effekt erscheinen, anstatt das von den meisten Dirigenten praktizierte publikumshascherischen Show-Gehabe zu präsentieren.

Einen wahren Star an der Trompete hat sich die Württembergische Philharmonie an das Solistenpult geholt, Ole Edvard Antonsen. In den zwei so verschiedenen Konzerten demonstriert er die verschiedenen Facetten seines Könnens und ist auch, wie seine pittoreske Zugabe „Fanfare“ zeigt, ebenso für zirkushaften Spaß und Hochseilartistik zu haben. Hervorzuheben ist sein unbeschreiblich ausgereiftes Spiel mit Distanzwechseln, sein Klang kann quasi direkt beim Hörer sein, aber auch in der Nähe vor der Bühne stehenbleiben oder gar wie hinter dem Podium befindlich erscheinen – zwischen diesen Ebenen kann er ohne Luft zu holen changieren. Im Haydn behält ein sanglicher und offener Ton in sprühender Farbigkeit und Lebendigkeit die Oberhand, bei Arutjunian differieren die diversen Tongebungen natürlich viel mehr und er stellt unter Beweis, auch zerbrechlich-zurückgezogen oder extrem auftrumpfend-anstachelnd spielen zu können. Mit technischer Makellosigkeit ausgestattet brilliert Antonsen in Lockerheit und bewusst gesetzter wie angenehmer Distanz zu den Stücken, die er zwar von seiner inneren Beteiligung her auskostet, aber emotional  nicht in ihnen zu versinken droht.

Die Württembergische Philharmonie unter Ola Rudner zeigt sich herausragend auch als Begleiter, mit ausgereiftem musikalischen Verständnis – hieran sollte sich manch eines unserer A-Orchester ein Vorbild nehmen!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Komponistenportrait Juan José Chuquisengo

22. April 2016 20 Uhr im FM Z

Tango – Inka – Lilburn  – Beethoven
Portrait Juan José Chuquisengo

Ottavia Maria Maceratini Klavier

Symphonia Momentum-Quintett
Rebekka Hartmann, Violine
Anna Möllers, Violine
Shasta Ellenbogen, Viola
Nargiza Yusupova, Violoncello
Artem Ter-Minassian, Kontrabass
Juan José Chuquisengo, Dirigent

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Mariano Mores (1918 – 13.4.2016 arr. J.J. Chuquisengo
Taquito militar (Milonga) für Violine und Klavier

Juan José Chuquisengo
Guerrero Andino für Klavier Solo DEA

Juan José Chuquisengo
Tango-Metamorphosen für Streichquintett UA

Douglas Lilburn (1915 -2001)
Three Canzonettas für Violine und Viola (1943/1958)
Duo Nr. 5 für 2 Violinen (1954)

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 (1795)
Arr. Für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (1811-1893)

Welch ein Abend im ausverkauften, proppevollen Konzertsaal des FMZ! Ein Programm von den Anden über „down under“ bis zum Wienerwald, vom peruanischen, in München lebenden Komponisten und Pianisten Juan José Chuquisengo über den Neuseeländer Douglas Lilburn zurück zum Wiener Altmeister Ludwig van …, was für ein musikalischer Bogen! Sehr temperamentvoll gleich der Beginn mit Mariano Mores’ Milonga für Violine und Klavier, die bei Ottavia Maria Maceratini und Rebekka Hartmann in besten Händen war.
Die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Mann in den Anden hatte Juan José Chuquisengo zu seinem Klavierstück Guerrero Andino (Andenkrieger) animiert. Da er selbst ein überragender Pianist ist, war die deutsche Erstaufführung dieser Komposition – sie paraphrasiert frei Stilelemente der indianischen Kultur – über die Verwendung des gesamten Klangspektrums des Flügels angefüllt mit virtuosesten Trillerketten und darunter oder darüber liegenden Melodien.
(Mehr über Ottavia Maria Maceratinis sensationelles Klavierspiel kann man auch bei „The New Listener“ nachlesen über ihr Debut in der Züricher Tonhalle vor wenigen Tagen.)
Jedenfalls meisterte sie die immensen Schwierigkeiten gelassen und bravourös, vom leisesten pianissimo zum auftrumpfendsten Fortississimo ist ihr Ton immer kraftvoll und nie hart. Diese Klavierfantasie hat das Zeug. zu einem der ganz großen Repertoirestücke der neuesten Klavierliteratur zu werden. (Allerdings werden es nur wenige Spieler so spielen können, wie wir es an diesem Abend erleben durften.)

Nach dem KlavierKlangErlebnis war die Bühne frei für die Uraufführung von Juan José Chuquisengos „Tango-Metamorphosen“ für Streichquintett von 2014. Die fünf Streicher des Symphonia Momentum-Streichquintetts unter der Leitung des Komponisten selber hoben das Werk aus der Taufe.
Nach einer kurzen Einleitung der Viola, des Cellos und des Kontrabasses beginnt ein rhythmisch äußerst vertracktes Spiel der Streicher, ab und zu unterbrochen durch sanfte, fast schwebende Passagen. Viele Möglichkeiten zu ungewöhnlichen Klangeffekten – z.B. Schläge auf das Holz der Instrumente oder Kratzgeräusche – wechseln ab mit Ausbrüchen verschiedenster melodiöser und rhythmischer Partikel. Oft duettieren auch die beiden Violinen oder Viola und Cello. Quasi kanonische Einsätze wechseln ab mit homophonen Streicherklängen. Die ursprüngliche Konzeption für Streichorchester hatte der Komponist für Streichquintett bearbeitet. Alle Musiker spielten mit Hingabe und  Begeisterung, und wenn es auch an einigen Stellen dieses irrsinnig schwer zu spielenden Stücks noch nicht ganz perfekt klappte, so war die Energie und Lyrik dieser Tango-Metamorphosen doch mit allen Sinnen zu greifen.
Begeisterter Beifall vor der notwendigen Pause.

Die Kompositionen des Neuseeländers Douglas Lilburn sind bei uns so gut wie unbekannt –  trotz der Feiern zu seinem 100. Geburtstag, die allerdings in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dabei sind sie bei aller scheinbaren Einfachheit sehr ansprechende und zauberhafte Musik. Davon konnte sich das Publikum vor allem bei den drei Canzonettas überzeugen, die Rebekka Hartmann  und Shasta Ellenbogen auf Violine und Viola intensiv und bewegt-bewegend vortrugen.

Nach diesem Ausflug zu den Antipoden kehrten alle Musikerinnen und Musiker mit dem ersten Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven in der Bearbeitung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (er war der jüngste der drei Lachner-Brüder) zurück nach Europa. Und wie! Nach einer kurzen Einleitung übernahm Ottavia Maria Maceratini die Führung und alle sechs Ausführenden ließen sich vom Beethoven‘schen Genius zu feuriger und herzbewegender Musizierkunst anregen. Die drei Sätze mit ihrem unentwegten Wechselspiel aus Melodie, Harmonie und tänzerischster Rhythmik, – was ist dieser Komponist doch für ein überragender Melodiker, immer wieder! – flogen vorüber und beschlossen einen Abend der Superlative, den diese Konzertreihe mit einem so ungewöhnlichen wie längst zu erwartenden Publikums-Zuspruch mehr als verdient hat.

[Ulrich Hermann, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Den Saal „gerockt“

Anmerkung der Redaktion aufgrund vermehrter Kritik an dem Artikel von Josef Rottweiler:
Rezensionen unserer Autoren müssen in keiner Weise mit der Ansicht der Redaktion übereinstimmen. Die Redaktion von The New Listener lässt ganz bewusst Spielraum für gegensätzliche Standpunkte und zensiert nicht, sondern korrigiert lediglich sachliche Fehler oder stilistische Schwächen.

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Das Freie Musikzentrum total ausverkauft, nichts weniger als überragende musikalische Interpretationen, eine faszinierende Uraufführung eines bis dato unbekannten Komponisten, dem offensichtlich eine Weltkarriere bevorsteht: das Portraitkonzert Juan José Chuquisengo am 22. April gehörte selbst in einer Musikmetropole wie München zu den absoluten Highlights der Saison und stellt so vieles in den Schatten, was die großen Klangkörper wie Philharmoniker, BR-Symphonie-Orchester oder Bayerische Staatsoper zu bieten – ähnlich wie am Abend zuvor das Münchener Kammerorchester unter dem wunderbaren finnischen Maestro John Storgårds, der uns endlich wieder einmal Haydn hören gelehrt hat.

Die erste Hälfte des Konzerts gehörte ganz dem legendären peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo, der in München lebt und wirkt. Fast ganz: zu Beginn erklang ein hinreißendes Arrangement des Peruaners einer musikalischen Kindheitsliebe, des beliebten Taquito militar von Mariano Mores, der genau neun Tage vor diesem Konzert hochbetagt gestorben ist. Dann Ottavia Maria Maceratini, eine Löwin am Grand Piano, und zugleich zu den feinsten Schattierungen in der Lage. Mit feinst differenzierter Stimmungskunst führte sie uns durch die Hochgebirgsweiten von Chuquisengos Guerrero Andino, einer gigantischen Klavier-Rhapsodie zwischen Naturlaut, Volkslied und rassigen rhythmischen Riffs, die höchste pianistische Virtuosität verlangt. Diese erbringt die Maceratini mit stupender Selbstverständlichkeit, doch betören auch ihre Sanftmut und Eleganz der Übergänge. Das neue Werk ist elf Tage zuvor durch sie in Zürich zur Uraufführung gelangt, und man spürt in jedem Ton die tiefe Verbindung und Liebe zur Klangsprache des Komponisten, der trotz aller Befähigung an diesem Abend nicht selbst als Pianist in Erscheinung tritt. Aber dann als Dirigent: Chuquisengo dirigiert das Symphonia Momentum Streichquintett in der Uraufführung seiner Tango-Metamorphosen. Der Stil dieses Werkes ist vollkommen anders als in der Klavier-Rhapsodie mit ihrem vollendeten Schönklang, ihren rauschhaften Aufwallungen. Hier, in diesem in der großen Form so spannenden wie überzeugenden Tango nuevo, tritt eine unerschöpfliche Palette inneren Reichtums ans Tageslicht, von zerreißendem Schmerz und aufreibenden Kämpfen über herrliche Tagträume hin zu schlicht mitreißendem Tango der entschiedensten Sorte. Manchmal scheint gar die Musik über sich selbst hinaus wachsen zu wollen, schwankt zwischen Euphorie und Atemlosigkeit, um plötzlich abzureißen und wieder etwas ganz Anderem Platz zu machen. Großartig, beide Werke in ihrer Art. Man kann nur sagen: ein großer Komponist ist geboren, der schon symbolhaft für die Emanzipation Lateinamerikas stehen wird. Das Publikum reagierte mit jedem Stück begeisterter und war in der Pause völlig „aus dem Häuschen“.

Nach der Pause wurde es zunächst problematischer. Christoph Schlüren, der in den Abend einführte, hatte die Zuhörer schon zuvor mit seinen fast unfreiwillig satirischen Kommentaren genervt, und nun pries er uns einen Komponisten als „groß“, von dem man nur sagen: „des Kaisers neue Kleider“. Wieso lässt man einen so musikalisch unbegabten Menschen so viel reden und uns dann noch simpelste Musik aus Neuseeland, von den „Antipoden“, auftischen, die zwar schön und gut gemacht ist, jedoch einfach nicht aus den Kinderschuhen der einfachsten Tonalität, aufgepeppt mit teilweise ein wenig Kontrapunkt, schlüpfen will. Von Douglas Lilburn hörten wir drei Duos für Geige und Bratsche (von Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen fantastisch gespielt) und ein Duo für zwei Geigen. Legen wir den Mantel des Schweigens über diese peinlichen Nichtigkeiten, und hoffen wir, dass uns Herr Schlüren mit seinen Privatideologien künftig in der Öffentlichkeit erspart bleibt. Es ist ein bisschen, als wollte er mit seiner sperrigen Idiosynkrasie den Putin der Klassische-Musik-Szene spielen…

Zum Schluss dann Beethovens erstes Klavierkonzert in C-Dur in einer erstaunlich gut funktionierenden Fassung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner, einem sonst kaum bekannten Romantiker. Dass es so gut funktionierte, lag in erster Linie an dem von Chuquisengo einstudierten Streichquintett, das tatsächlich die Illusion eines wirklichen Orchesters schuf. Man muss lange Zeit zusammen gearbeitet haben (die Musiker spielen seit 2010 zusammen), um eine solche Klasse sowohl musikalischer Interaktion als auch bewusster Interpretation zu erreichen. Obwohl uns auch hier noch einmal Herr Schlüren mit einem Sermon höchst fraglicher Informationen zuschüttete, war die Laune des Publikums angesichts einer denkwürdig hochklassigen Aufführung nicht in Schieflage zu bringen. Ottavia Maria Maceratini erwies sich als eine der besten Musikerinnen unserer Tage, technisch und tonlich auf dem höchsten Stand, der sich denken lässt, und musikalisch mit einer Klarheit und intuitiven Richtigkeit der Auffassung gesegnet, die einfach frappiert. Und doch, so gut, wie das „Orchester“ gespielt hat, ist es fast unanständig, sie besonders hervorzuheben. Primaria Rebekka Hartmann spielte ihre ganze Weltklasse aus, und ich möchte ausdrücklich auch noch die fulminante Cellistin Nargiza Yusupova und den so mutig wie rücksichtsvoll agierenden Kontrabassisten Artem Ter-Minassian nennen. Im Finale haben die Musiker den Saal, der bis zum letzten Platz besetzt war, regelrecht „gerockt“. So etwas – völlig überraschend – Tolles haben wir schon lange nicht gehört. Diese Musiker haben jeden Preis verdient und sollten unbedingt eine Platte machen, die man dann am Ausgang auch kaufen kann. Wie gut das Konzert war, merkte man übrigens auch daran, wie hellwach und berührt das Publikum bis zum Schluss war, und dass nach nicht enden wollendem Anlass kaum Anstalten gemacht wurden, den Saal zu verlassen.

[Josef Rottweiler, April 2016]