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Intimität und hochkarätige Konzerte: Festspiele in Bergen 2019

Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen.  Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.

Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs Klavierkonzert.

Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte – schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten. Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik, hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.

Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor.
Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!

Troldhaugen Villa (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.

Griegs Steinway & Sons aus dem Jahr 1892 (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.

In SIljustøl (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.

Das Komponierzimmer Harald Sæveruds (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs 80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von: Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev. 1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen, Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden, gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall, indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie; oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein, bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird; er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben steht.

Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er, während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt. Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen. Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren, dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt. Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich, teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben, den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden Musikern, die so präzise hörten und interagierten.

Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt wurden.

[Oliver Fraenzke, Mai-Juni 2019]

Anspruchsvolle Musik statt Salon-Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 267; EAN: 4 260052 382677

Gemeinsam mit der Pianistin Iryna Krasnovska spielt die Flötistin Sofia de Salis Arrangements bekannter Werke des 19. Jahrhunderts. Auf dem Programm steht die Sonate a-Moll für Arpeggione und Klavier D 821 (Arr. Konrad Hünteler) von Franz Schubert sowie dessen Ständchen aus Schwanengesang (Arr. Sofia de Salis) und zwei Klavierwalzer (Arr. Tatiana Smirnova), nämlich der Atzenbrugger Tanz Nr. 3 D-Dur D 265 Nr. 29 und Valse sentimentale A-Dur D 779 Nr. 13. Den Mittelpunkt der CD bildet die große Violinsonate A-Dur op. 120 von César Franck (Arr. Douglas Woodfull-Harris). Außerdem hören wir noch Robert Schumanns drei Romanzen für Oboe und Klavier op. 94 (Arr. Jacques Larocque).

Der optische Eindruck dieser CD mag so gar nicht zum musikalischen Inhalt passen. In grünem Kleid steht die Flötistin Sofia de Salis in einem reich verzierten Schloss, auf dem Cover sehen wir sie vor dem Fenster mit Blick auf Berge und einen See. Dazu kommt der schnulzige Titel „Shades of Love“. Es fehlt nur noch sanft-melancholische Musik voller Kitsch und Klischee, und der Eindruck wäre perfekt – doch statt dessen bekommen wir hoch anspruchsvolle Musik inklusive zweier großformatigen Sonaten von Schubert und Franck!

Der Querflöte ist im 19. Jahrhundert nur spärlich bedeutsame Literatur zuteil geworden, wenn man von Schubert und Hummel absieht; erst in der französischen Musik um die Jahrhundertwende blühte das Instrument als Solist voll auf (dieser Musik widmete Sofia de Salis ihr erstes Album). So ist es durchaus legitim, dass sich Flötisten an Werken für andere Besetzungen bedienen und diese für ihr Instrument umdeuten. Oft liest man über solche Bearbeitungen, die Flöte könne dem Charakter des Originals durch gewisse dynamische und phrasierungstechnische Einschränkungen nicht gerecht werden. Doch wer verlangt das? Viel eher sollten wir uns den prächtigen Facetten hingeben, welche ausschließlich eine Flöte aus den Werken herausholen kann; so hören wir die Werke einmal in ganz neuer Beleuchtung.

Sofia de Salis erleben wir hier als phantasievolle Flötistin, die auf eine besondere Farbenpracht in ihrem Spiel Wert legt. In den Arrangements versucht sie, die Charakteristika der Originalinstrumente auf die Flöte zu übertragen und kann dabei in Francks Sonate sogar die Robustheit der Violine gegenüber ihrem Instrument übernehmen, weiß jedoch auch um die Vorzüge ihrer Flöte und gestaltet manche Linien noch sanglicher und feiner, als wir sie vom Original her kennen. Abgesehen kleinerer Ausbrüche in übermäßige Freiheit bei den kleinen Solo-Einwürfen der Schubert-Sonate und im Recitativo der Franck-Sonate verzichtet de Salis darauf, sich in der Musik zu verträumen.

Die klangliche Abstimmung zu ihrer Partnerin Iryna Krasnovsky funktioniert leider trotz der hervorragenden Aufnahmetechnik der SACD überhaupt nicht. In der Arpeggione-Sonate Schuberts geht das Klavier vollkommen unter: Ich vermisse das Wechselspiel des Sechzehntelnoten-Motivs im Kopfsatz und die thematischen Einwürfe des Klaviers im Finale, allgemein die harmonische Stütze, die bei Schubert so dringend notwendig ist. Bei dieser Sonate finde ich im Übrigen auch schade, dass die Musiker das Adagio viel zu schnell nehmen und auch aus dem Allegretto-Finale ein Allegro machen, statt dass sie die Musik atmen lassen und die Ruhe auskosten. Bei Franck ist klanglich das Gegenteil der Fall, hier übertönt das Klavier mitunter die Flöte. Selbst bei einem Geigenpartner muss der Pianist darauf achten, nicht zu sehr zu donnern, umso mehr bei einer Flöte. Doch Iryna Krasnovska beachtet ihre Mitstreiterin wenig, schenkt dem Wechselspiel zwischen Klavier und Flöte keine Aufmerksamkeit und kann selbst die eigenen Stimmen nicht stimmig zusammenfügen, wodurch viele thematischen Motive untergehen, vor allem im berüchtigten zweiten Satz. Die Pianistin scheint zu sehr mit den technischen Herausforderungen beschäftigt zu sein, um anderes zu bemerken. Erst im Finale dieser Sonate finden de Salis und Krasnovska klanglich zusammen und musizieren gemeinsam. Die restlichen Werke der CD sind dankbarer für das Zusammenspiel und musikalisch leichter zu durchdringen, entsprechend stimmigere Resultate hören wir. Im abschließenden „Ständchen“ bemerken wir vielleicht sogar einen kleinen Rückbezug auf den Titel der CD.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Sonaten für zwei

TYX Art, TXA18110; EAN: 4 250702 801108

Vorliegende CD birgt Sonaten für Klavier und Violine sowie für Klavier und Viola, wobei Burkhard Maiss die Streichinstrumente spielt und Ji-Yeoun You an den Tasten sitzt. Wir hören die zweite Violinsonate d-Moll op. 121 von Robert Schumann und die 1. Klarinettensonate in der Version für Bratsche und Klavier von Johannes Brahms.

Wenngleich einige Jahrzehnte zwischen den beiden Werken liegt, so herrscht doch eine innere Verbindung zwischen den späten Streichersonaten von Schumann und Brahms – die Idee der Einheit zwischen den Sätzen, der stringenten Entwicklung und des aufgewogenen Wechselspiels gleichberechtigter Partner.

Schumanns zweite Violinsonate ist ein ständiges Mit- und Gegeneinander, ein „Concertieren“ in beiden ursprünglichen Bedeutungen. Nach einer kurzen Einleitung stürmt der Kopfsatz sprudelnd und hetzend voran, verschiebt die Stimmen immer wieder gegeneinander; der noch raschere zweite Satz beginnt im Unisono, die beiden Partner entfernen sich erst später voneinander. Eine der hinreißendsten Inspirationen Schumanns stellt der volksliedhafte dritte Satz dar, dessen Thema schlichter und unprätentiöser kaum sein könnte – bis plötzlich das Scherzo-Thema störend dazwischenfunkt! Das Finale perlt wieder spielfreudig und zerberstet die durch den langsamen Satz hergestellte Harmonie. Eine wahre Berg- und Talfahrt, Aufbegehren und Zurücknehmen wechseln sich ab, Hoffnung wird aufgebaut und sogleich wieder unterminiert.

Die Begegnung mit Richard Mühlfeld, dem Soloklarinettisten der damals hoch angesehenen Meininger Hofkapelle, inspirierte Brahms zu mehreren Kammermusikkompositionen mit diesem Instrument, so auch zu dieser Sonate. Brahms legte zu der Klarinettenstimme auch Varianten für Bratsche und Geige bei, um sie mehr Spielern zugänglich zu machen – und schuf so beiläufig eines der meistgespielten Bratschenwerke der Zeit. In seiner Klarinettensonate aktualisierte Brahms die „unmodern gewordene“ Sonatenform und flößte ihr neues Leben ein: Die Sätze hängen untrennbar zusammen und entwickeln sich auseinander, alles beginnt in einer einzigen Keimzelle. In der Version für Bratsche und Klavier liegt die Schwierigkeit in erster Linie darin, dass die Bratsche anders als die Klarinette in den tiefen Lagen nur schwer durch eine volle Klavierstimme durchhörbar ist.

In ihrer Darbietung fokussieren sich Burkhard Maiss und Ji-Yeoun You auf den großen Bogen und die Zusammengehörigkeit innerhalb der Sätze sowie der Sätze als Ganzes. Sie verlieren sich nicht im Moment, sondern behalten den Fluss. Das Klavier tönt voll und reich an Klangfarben, bewegt sich leichtfüßig durch die vielgriffigen Passagen. Maiss spielt Geige wie Bratsche gleichermaßen beschwingt, lebendig und mühelos. Die beiden hören sich gegenseitig zu beim Spielen und schaffen so selbst für die verschobenen Passagen ein Bewusstsein, feuern den Wettstreit der Instrumente – das Mit- und Gegeneinander – regelrecht an. Nur selten einmal funktioniert die Abstimmung der beiden aufeinander nicht: Im Kopfsatz von Schumanns Violinsonate wechseln sich die Instrumente rasch ab, hier wäre ein einheitlicheres Klangideal wünschenswert gewesen; und bei Brahms hört man teils die Bratsche in den tiefen Lagen nur schwer durch, sie ist zu zart gegen das von Brahms akkordlastig gesetzte Klavier. Doch diese Marginalien seien nicht weiter von Bedeutung: Denn hier liegt zweifelsohne eine hervorragende Aufnahme zweier virtuoser, technisch wie (noch mehr) musikalisch fordernder Sonaten, die von den Musikern auch wirklich verstanden und umgesetzt wurden.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Fallhöhe

Genuin classics, GEN 18620; EAN: 4 260036 256208

Sich in verborgene emotionale Tiefen hinein fallen lassen, innerste Seelenregungen aufspüren, darin verweilen und diese zum schonungslosen Ausbruch bringen –  all dies ist Sache der Pianistin Natalia Ehwald, wenn sie das musikalische Erbe der Romantik in ihrer eigenen persönlichen Sichtweise erfahrbar macht. 

Nach einem vielbeachteten CD-Debut mit Franz Schuberts G-Dur-Sonate 894 und Robert Schumanns Kreisleriana opus 16, setzt sie auf ihrer zweiten CD die eingeschlagene Richtung fort. Aktuell geht es um Franz Schuberts späte A-Dur-Sonate D 959 und die Humoresken von Robert Schumann op. 20. Natalia Ehwalds Spiels auf diesem Tonträger zeugt von einer Herangehensweise, die das inszenierte Coverfoto im Booklet spielerisch versinnbildlicht: Hier strebt eine Künstlerin die gemeinsame Augenhöhe mit diesen beiden Komponisten aus dem 19. Jahrhundert an, die auf dem Foto zusammen mit der heutigen Interpretin an einem gemeinsamen Tisch sitzen.

Auf Augenhöhe sein heißt hier, die Seelenpsychogramme hinter den Notentexten zu erkennen und ihnen ohne manirierten Egotrip Respekt zu erweisen. Wer hier einfühlsam hinhört, dem eröffnet sich die Ambivalenz zwischen Genie und Wahnsinn, der darf auch mal erschüttert sein, wie unberechenbar vor allem Schubert jene vordergründige Oberfläche von „Biedermeier“ zugunsten des schonungslos Elementaren durchstößt. Aus einem scheinbar freundlichen Ton heraus entstehen immer wieder Abstürze, denen Natalia Ehwalds flexible spielerische Diktion die notwendige,  schonungslose Fallhöhe verleiht.

Noch relativ kontrolliert beginnt es im  Allegro-Satz. Hier geht Natalia Ehwald betont nachforschend zu Werke, wo noch das Erbe von Beethoven durchschimmert. Der nachfolgende Andantino-Satz bekommt unter ihren Händen eine starke Aura von Zerrissenheit. Aus einem scheinbar liedhaften Gesang heraus dringt aufgestaute Verzweiflung in wütenden Sforzato-Schlägen hervor. Natalia Ehwald weiß immer wieder, solch wechselhaften Dramaturgien zu erzeugen und damit –  vor allem im langsamen –  Satz Raum und Zeit vergessen zu lassen. In raschem Tempo und mit jähen Dynamikwechseln stürmt ihr Spiel ins ruhelose Scherzo hinein, wirft mit Tönen um sich, so dass vor allem die Doppelschläge der Anfangsphrase wie wütende Pinselstriche auf dem Papier anmuten. Alle Ruhepole sind hier trügerisch, wie Schuberts Kreisläufe aus Genie und Wahnsinn unentrinnbar scheinen. Bei aller Zerissenheit meistert Natalia Ehwald den großen, dramaturgischen Bogen, was für das Finale, vor allem ein bestechend präzise artikuliertes Schlussrondo nicht minder gilt.

Da überrascht es dann auch kaum, dass danach Roberts Schumanns Humoreske zu viel mehr als einer solchen wird. Auch hier werden Erwartungen durchkreuzt und das scheinbar Vordergründige ohne Umschweife in äußerst subtile, intime Seelenregungen mündet. „Einfach“, „hastig“, „zart“, „innig“ und „sehr lebhaft“ – die Interpretin auf diesem Tonträger demonstriert, dass dies nicht einfach nur Tempobezeichnungen sind, sondern bei Robert Schumann jeweils komplexe emotionale Haltungen dahinter stehen.

Natalia Ehwald wurde 1983 in Jena geboren und hat eine denkbar internationale Sozialisation erfahren. Unter anderem mit einem Jungstudium an der Sibelius-Akademie in Helsinki, später einem vielbeachteten Solo-Debut in den USA und schließlich einem Konzertexamen in der Meisterklasse von Evgeni Koroliov an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

[Stefan Pieper, Januar 2019]

Gleichgültigkeit statt Romantik

Thorofon, CTH2649; EAN: 4 003913 126498

„Sie liebten sich beide.“; Robert & Clara Schumann, Johannes Brahms; Cornelia Lanz (Mezzosopran), Stefan Laux (Klavier)

 

Die Mezzosopranistin Cornelia Lanz und der Pianist Stefan Laux spielen Lieder der deutschen Romantik um Schumann. Auf dem Programm stehen Robert Schumanns Zyklus „Frauenliebe und -leben“ op. 42, vier Lieder aus op. 13 von Clara Schumann sowie eine bunte Auswahl an Klavierliedern von Johannes Brahms.

Es ist die berühmteste ‚Dreiecksbeziehung‘ der europäischen Musikgeschichte: Noch immer ranken sich Gerüchte darum, was zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms tatsächlich geschehen ist. Robert Schumann entdeckte den jungen Brahms und setzte sich für dessen Erfolg ein, was eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden Kollegen zur Folge hatte. Intensiver scheint allerdings die Verbindung zwischen Brahms und Schumanns Frau Clara gewesen zu sein – vor allem von Brahms‘ Seite aus, was Briefe zeigen, ebenso wie Widmungen und der finale Entschluss, Frauen und Liebe zugunsten des Komponierens aufzugeben.

Entsprechend regelmäßig hören wir Werke dieser drei Komponisten zusammen auf einem Programm, so auch in dieser Aufnahme. Bei der Hintergrundgeschichte und den romantischen Themen der Lieder erwarte ich entsprechend eine dramatische, emotional aufgeladene Darbietung, in der Gefühle von unglücklicher Liebe mitschwingen. Ich werde überrascht und ernüchtert, als ich höre, welch eine Gleichgültigkeit mir von der CD entgegenklingt. Nichts kommt herüber zum Hörer von den zutiefst menschlichen Abgründen, die sich in den Gedichtsvertonungen auftun, die Emotionen wirken nicht glaubhaft. Es scheint, die Musiker hätten keinerlei Bezug zu der von ihnen gespielten Musik, kein Verlangen, sich selbst darin zu finden und auszudrücken. Wobei allgemein wenig in den Stücken gesucht wurde: Die Mezzosopranpartie klingt hektisch und das Klavier eintönig. Ich frage mich: Wenn man als Musiker nichts auszusagen hat, warum sucht man sich dann ein Programm aus, das von der Aussage lebt?

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Geisterwerke

Helbling CD 2016, EAN: 9783990351819

Anselm Hüttenbrenner (1794-1868): Geisterszenen; Robert Schumann (1810-56): Geistervariationen; Julia Rinderle, Klavier

„Nachruf an Schubert in Trauertönen am Pianoforte“ (Anselm Hüttenbrenner, 1829) heißt ein Stück im Heft 8 „Das Charakterstück“ der Reihe DAS MUSIKWERK aus dem Arno Volk Verlag von 1955. Jahrelang unbeachtet von mir bis zum Beitrag von Christoph Schlüren über Anselm Hüttenbrenner in der NMZ. Darin erwähnt er auch die Neueinspielung, nein, die Ersteinspielung von Hüttenbrenners Klavierstücken „Geisterszenen“ von 1850.  Nun ist dieser Nachruf in F-Moll gerade mal eine Seite lang und durchaus auch für „normale“ Klavierspieler zu spielen, aber natürlich machte er Lust auf mehr von diesem Komponisten, der ja mit Schubert nicht nur befreundet war, sondern mit ihm zusammen auch bei Antonio Salieri Unterricht hatte, wo sich beide begegneten.

Diese „Geisterszenen“ (Tongemälde für Klavier) sind nun alles andere als eine leichte Kost, sie erfordern höchstes Niveau, wenn sie adäquat realisiert werden sollen. Nicht nur von den pianistischen Schwierigkeiten her, auch vom großen Bogen und der Poesie, die es zu erfassen gilt.

Julia Rinderle stellt sich dieser Herausforderung auf überzeugende und berührende Weise, es entsteht ein echter „Meilenstein“ des Klavier-Repertoires. Sowohl vom Meistern aller technischen Schwierigkeiten als auch vom klanglichen und poetischen Erfassen und Vermitteln ist alles höchst gelungen, hingerissen und staunend lauscht man dieser bis heute so vergessenen Musik. Dieser Komponist – bisher nur als Schuberts „Beiwerk“ geschätzt – harrt dringend der Entdeckung. Denn was da an Musikalischem zu sichten ist, ist weit mehr als Beiwerk. Wovon auch das äußerst umfangreiche und informative Beiheft Zeugnis gibt, denn in solcher Ausführlichkeit ist sowohl von Michael Aschauer, dem Verfasser, als auch von der Pianistin selbst selten ein Booklet dieser Qualität zu lesen gewesen. Und dass der Verlag natürlich auch für alle Interessierten die erste Notenausgabe dieser „Geisterszenen“ im Programm hat, rundet die sehr gelungene Präsentation dieser CD ab.
Den Klang des modernen Flügels betreffend bleiben keine Wünsche offen, auch wenn die Pianistin selbst auf die andersartigen Möglichkeiten auf einem damaligen Hammerflügel hinweist.

Wir dürfen gespannt sein, was von Anselm Hüttenbrenners Musik in Zukunft entdeckt und aufgeführt wird, schließlich ist sein Werkverzeichnis durchaus umfassend:

  • 27 Geistliche Werke: darunter 6 Messen,
  • 3 Requien
  • 4 Opern: darunter „Lenore“ und „Oedip zu Colonos“ vollständig erhalten
  • 258 Lieder
  • 133 Männerquartette
  • 159 Männerchöre
  • 20 Orchesterwerke: darunter 2 Symphonien
  • 13 kammermusikalische Werke: darunter 2 Streichquartette,
  • 1 Streichquintett
  • 60 Werke für Klavier zu 2 Händen
  • 23 Werke für Klavier zu 4 Händen
  • 8 Bearbeitungen fremder Werke

Und auch wenn er in seinen späteren Jahren kaum mehr komponierte und ihn spirituelle Themen – wie übrigens schon immer – mehr interessierten – neben seiner Familie mit seinen neun Kindern –, so wird es nun doch höchste Zeit, neben Schubert auch seinem komponierenden Zeitgenossen und Gefährten nachzuspüren und dieser Musik die nötige „Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen. Jedenfalls ist vorliegende CD ein schöner Meilenstein auf diesem Weg.

Als passende „Ergänzung“ spielt Julia Rinderle die Geistervariationen von Robert Schumann, dessen letztes Klavierwerk und überaus  gelungen als Ausklang und Weiterleitung in die Gefilde der romantischen Musikkultur, die mit dieser CD ein weiteres Meisterwerk aus der Taufe gehoben hat.

[Ulrich Hermann, September 2018]

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Schumanns späte Liebe zum Cello

Naxos, 8.573786; EAN: 7 47313 37867 8

Schumann: Cello Concerto, Works for Cello and Piano; Gabriel Schwabe (Cello), Nicholas Rimmer (Piano), Royal Northern Sinfonia, Lars Vogt

Gabriel Schwabe spielt Cellowerke von Robert Schumann. Das Programm beginnt mit dem Cellokonzert a-Moll op. 129, welches er gemeinsam mit der Royal Northern Sinfonia unter Lars Vogt aufgenommen hat. Daraufhin folgen Adagio und Allegro op. 70, die Fantasiestücke op. 73 und Fünf Stücke im Volkston op. 102 sowie Arrangements der Drei Romanzen op. 94 und des Intermezzos der F-A-E-Sonate aus der Feder des Cellisten. Am Klavier hören wir Schwabes langjährigen Duopartner Nicholas Rimmer.

Als junger Mann bereits erlernte Robert Schumann das Violoncello und behielt sein ganzes Leben lang eine innige Verbindung zu diesem Instrument. Dennoch sollte es bis 1849 dauern, bis er Werke für das Cello als Hauptinstrument herausgab: In diesem Jahr schrieb er sowohl Adagio und Allegro op. 70 als auch die Fantasiestücke op. 73 und die Fünf Stücke im Volkston op. 102. Aber das Warten hat sich gelohnt für die Cellisten: Schumann hinterließ uns drei reife Werke mit individuellem Charme und Feingeist in konzentriertem Stil, die alles jenseits des Wesentlichen entschlacken und das Instrument in seinem vollen Glanz erstrahlen lassen. Ein Jahr später folgte das Cellokonzert a-Moll op. 129, in welchem Schumann seine Erfahrungen der Duos bündelte und ein Glanzstück für den Solisten präsentierte.

Gabriel Schwabe zählt nicht zu Unrecht als einer der führenden Cellisten seiner Generation: Seine Linienführung und sein Gespür für Balance der Dynamik zeichnen ihn aus. Bemerkenswert ist, wie Schwabe mit schlichten Mitteln große Wirkung erzielt, ganz ohne künstlerische Überspitzung oder Zurschaustellung. Die Stücke entstehen von sich heraus und gerade die Fünf Stücke im Volkston verleugnen nicht ihren Ursprung bei der Bauernschicht. Schwabe hört aktiv dem Geschehen zu und agiert entsprechend in Gemeinschaft mit seinen Partnern, verzichtet auf virtuose Alleingänge. Das kommt natürlich dem Cellokonzert zugute, bei welchem stets die Gefahr besteht, dass der Solist das Orchester im Stich lässt, da dieses größtenteils reine Begleitfunktion hat. Die Arrangements aus Schwabes Feder erscheinen so natürlich, als wären sie niemals für ein anderes Instrument gedacht gewesen.

Die Royal Northern Sinfonia hält sich von der Lautstärke etwas zurück, was allerdings überhaut nicht nötig ist, denn Lars Vogt holt bezaubernde Details ans Licht, welche die Cellostimme bereichern. Die Musiker langweilen sich nicht in den monotonen Begleitfiguren, sondern versuchen, rhythmisch und harmonisch neue Facetten hervorzubringen.

Die langjährige Duoerfahrung von Gabriel Schwabe und Nicholas Rimmer trägt auch bei Schumann Früchte. Das Zusammenspiel ist fein abgestimmt und organisch, die Musiker entfaltet sich wie aus einem Atem heraus. Rimmer holt seine Melodien an die Oberfläche, harmoniert mit oder kontrapunktiert gegen die Cellostimme und sorgt für eine Vielfalt an Unterstimmen. Dabei übertönt er den Solisten nicht, fällt aber auch nicht in reine Begleitfunktion, sondern kennt exakt seinen Platz für ein gleichwertiges Zusammenspiel.

[Oliver Fraenzke, Juni 2018]

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Ferne Liebe, sehnsüchtige Lieder

Spektral, SRL4-16153; EAN: 4 260130 381530

Der Tenor Georg Poplutz singt Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann und Ludwig van Beethoven, am Klavier begleitet von Hilko Dumno. Von Beethoven erklingt „An die ferne Geliebte“ op. 98, von Schumann hören wir die „Dichterliebe“ op. 48. Zusammengehalten werden diese Zyklen durch ausgewählte Lieder Schuberts.

Zwei dieser drei Komponisten zählen zu den führenden Liedersetzern ihrer Epoche und zudem bis heute zu den namhaftesten und für dieses Genre exemplarischsten. Von Beethoven sind natürlich weniger Lieder überliefert. Lange bevor die auf der Höhe der Romantik wirkenden Liedschaffenden wie Hugo Wolf, Edvard Grieg, Gustav Mahler oder der junge Richard Strauss das Licht der Welt erblickten, fesselten diese drei wie auch Mendelssohn mit wahrer, verinnerlichter, romantischer Empfindung, Vollendung der Textumsetzung und Beherrschung der Miniaturform. Und dies, obgleich keiner von ihnen auf die Kurzform beschränkt war, sie alle drei waren epochale Symphoniker sowie Meister großformatiger Klavier- und Kammermusikwerke. Selbst über 200 Jahre nach ihrer Geburt halte ich es für bezeichnend, die kurze Form gleichberechtigt neben der „himmlische Länge“ zu betrachten und sie gleichermaßen zu beherrschen.

Aus einer großen Masse an Einspielungen dieser Lieder hervorzustechen, ist eine Herausforderung, aufgrund der sich nur zu viele durch Extravaganz und Ignoranz der musikalischen Substanz gegenüber profilieren. Nicht so Georg Poplutz und Hilko Dumno: Dieses eingespielte Duo fällt eben dadurch auf, nicht auffällig sein zu wollen. Sie stellen sich rein in den Dienst der Noten, denen sie neues Leben einhauchen. Besonderes Augenmerk legen sie auf Natürlichkeit und Schlichtheit, jedes prätentiöse oder wichtigtuerische Verhalten haben sie abgelegt. Aufrichtigkeit ist es, was ihre Darbietungen charakterisiert, und man kauft ihnen die musikalisch entfesselten Emotionen dieser Lieder als wahrhafte Empfindungen ab. Poplutz und Dumno überakzentuieren nicht und versuchen auch nicht krampfhaft, etwas Besonderes rüberzubringen, lassen die Musik einfach entstehen und wirken. Und diese Wirkung erreicht den Hörer!

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Durch und durch leidenschaftlich

Genuin Classics, GEN 17464; EAN: 4 260036 254648

Auf der neuesten CD der deutsch-koreanischen Konzertpianistin Caroline Fischer sind die Appassionata Op. 57 und die Pathétique Op. 13 von Ludwig van Beethoven sowie die Romance variée Op. 3 und die g-Moll-Sonate Op. 22 Robert Schumanns zu hören.

Der Titel der vorliegenden CD entspricht dem Spiel Caroline Fischers trefflich: Piano Passion. Leidenschaft ist die Maxim der deutsch-koreanischen Pianistin, die sich vor allem von Inspiration und Intuition treiben lässt. Gerade durch letzteres entstehen einige fesselnde Momente, die innerlich erspürt und dem Hörer nachvollziehbar vermittelt werden. Andererseits lässt das Vertrauen auf Intuition auch manche Oberflächlichkeit oder Effekthascherei zu. So kann Fischers Klavierspiel schwerlich als einheitlich beschrieben werden, zu erwarten bleibt immer neues und unerwartetes Agieren. Kristallklares Rauschen und vorwärtsgerichtetes Brausen sind gerade in den Ecksätzen anzutreffen, Fischers Anschlag bleibt dabei durchgehend luzide und leicht. Sensibel besticht sie mit eben diesem im Finale der Appassionata und in Schumanns g-Moll-Sonate, lediglich der Kopfsatz von Beethovens Opus 57 erscheint nivelliert und phasenweise orientierungslos. In der Romance variée Op. 3 von Clara Schumann unterstreicht sie die Weiblichkeit dieses Werkes, welches ganz auf der Höhe der Zeit komponiert und mit allen musikalischen wie pianistischen Herausforderungen gespickt ist. In Beethovens und Robert Schumanns Musik meißelt sie jedoch nicht weniger das Männliche und unbeirrbar Entschlossene heraus, lässt Akkorde wuchtig schmettern (wenngleich sie die berühmten engen Akkorde in der Tiefe bei Beethovens Sonaten durch Betonung der Höhen abmildert) und ein kraftvolles Forte ertönen. Caroline Fischer holt manches versteckte Detail hervor und begegnet den allesamt nicht selten zu hörenden Werken auf eine ganz individuelle Weise, gibt ihnen eine persönliche und eigene Note, die durchaus für neue Erkenntnisse sorgen kann.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

Ideales Musizieren

Zwölf Jahre lang hat Lavard Skou Larsen als Chefdirigent die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein geleitet und in dieser Zeit aus einem Klangkörper auf gutem Regionalniveau ein Weltklasseorchester geformt. Nun dirigierte Skou Larsen sein letztes Konzert als Chefdirigent im Neusser Zeughaus mit Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre, dem Violinkonzert von Robert Schumann mit der britischen Solistin Priya Mitchell, der Uraufführung eines kleinen Streicherwerks des hochbegabten jungen rumänischen Komponisten Lucian Beschiu und der Symphonie in h-moll D 759, der ‚Unvollendeten’, von Franz Schubert.

Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre ist eines der heikelsten Werke der gesamten Orchesterliteratur, und nicht zufällig ist sie neben der Fledermaus-Ouvertüre von Johann Strauß jr. DAS Standardstück bei Probedirigaten. Lavard Skou Larsen ließ die langsame Einleitung sehr geschmeidig und mit verhaltener Kraft erstehen, der Allegro-Hauptsatz kam mit einer unglaublich fesselnden Mischung von prickelnder Brillanz, Leichtig- und Wendigkeit, erdverbundener Kraft und artikulatorisch so unvorhersehbarer wie unwiderstehlich bezwingender Eleganz zur Entfaltung. Das Stück entstand wie aus einem Guss unter Herausarbeitung all der Mannigfaltigkeit der Details, und auch nur der Anflug eines Gefühls für physikalische Länge konnte sich bei dem durchgehenden Spannungsbogen nicht einstellen. Die ganze Musik schien in einem einzigen Moment zu entstehen und ihren Bau zu errichten. So kann und sollte Mozart sein, und doch frage ich mich, wann ich ihn so gehört habe – auch übrigens, was die Auffächerung der überwältigend sinnlichen Farbenpracht betrifft. Das Stück allein hätte gereicht, um die Hörer, die nach einem tieferen Sinn in der Musik suchen, glücklich zu entlassen. Doch es ging natürlich weiter…

Das Violinkonzert von 1853 ist Robert Schumanns letztes großes Orchesterwerk, und der gravitätische Allegro-Kopfsatz gehört zum Überwältigendsten, was der bald darauf geistiger Umnachtung anheimgefallene Komponist an Symphonischem zu Papier brachte. Priya Mitchell fasst das Konzert sehr frei auf, im Agogischen insgesamt dann doch zu frei, wodurch sich eine durchtragende Spannung nicht einstellen kann und den Reizen unterschiedlicher Momente sehr eigentümlichen Ausdruckswillens geopfert wird. Freilich hatte ihr Spiel vor allem im äußerst zart realisierten langsamen Satz unbestreitbaren Zauber. Im Finale konnte von restloser technischer Beherrschung nicht die Rede sein, doch das ging auch schon berühmteren Solisten so bei diesem in der Schreibweise für die Geige extrem sperrigen und angesichts der gelegentlich halsbrecherischen Schwierigkeiten auch etwas undankbaren Konzert. Hier muss durch innere Substanz wettgemacht werden, was an äußerem Glanz nicht zu erzielen ist, und dafür braucht es nicht nur Poesie, sondern vor allem auch die Vision und Kraft zur Umsetzung des Ganzen. Und da wäre dann zu wünschen, dass die Solistin bei ihren Extravaganzen nicht nur ihre Stimme im Auge hätte, sondern auch das orchestrale Geflecht mit seiner herrlich durchbrochenen Polyphonie. Dass dies nicht wirklich durchgehend entstehen konnte, lag an den vielen Haken, die sie schlug, und bei denen ihr Lavard Skou Larsen und seine Truppe mit schier unfassbarer Behändigkeit folgte wie eine Raubkatze, die ihre Beute in jedem Moment fassen könnte – mit der Einschränkung, dass diese Katze sich hier als Beschützerin erweist, die die Solistin auch im extremen Pianissimo durchklingen lässt.

Nach der Pause kam das Lento rubato für Streichorchester des 1986 geborenen Rumänen Lucian Beschiu zur Uraufführung. Er hätte für sein im Kern und in allen Nuancen so zauberhaftes wie eigenständiges Werk keine liebevolleren und souveräneren Ausführenden finden können als die Deutsche Kammerakademie mit ihren Solisten Sebastian Casleanu (Violine), Danka Nikolic (Bratsche) und Milan Vrsajkov (Cello) unter der mit seinen Musikern zu vollendeter Einheit verschmelzenden Leitung Skou Larsens. Was für eine Musik schreibt Beschiu? Seine Harmonik hat ihren absolut unverkennbaren Eigenton, und sie bildet die Grundlage der ganzen Entfaltung melodischer Gestalten, rhythmisch-metrischer Finessen, feinsinnig kontrastierender Charaktere. Die Musik hat etwas wundervoll Schwereloses, Lichtes, Transparentes, Zerbrechliches und zugleich stets Fließendes, geradezu Engelhaftes, und sie spricht mit einem unschuldig beseelten Ton, als hätte sie es überhaupt nicht nötig, sich gegen die hochtrabende Konkurrenz zeitgenössischer Avantgarde und Populärklassik zu behaupten – etwa nach dem Motto: Macht ihr doch, was ihr wollt, ich bewege mich unsichtbar zwischen euren Mauern hindurch. Stilistisch könnte man Einflüsse von John Foulds zu erkennen meinen (in den raumgreifenden Quintparallelbewegungen und melodischen Spiegelungen, aber auch in der Luzidität des Tons und Ausdrucks überhaupt), und mancher mochte vielleicht an Ravel denken, vielleicht auch ein wenig an des Komponisten rumänische Heimat, deren Melancholie gegen Schluss ohne jede Wehleidigkeit für ein Tröpfchen mehr Dunkelheit sorgte, vielleicht sogar ein bisschen an Béla Bartók. Doch all das sagt eben nicht aus, wie die Musik von Beschiu ist – es mag höchstens als Orientierungshilfe dienen, um zu ahnen, ob sie einem gefallen könnte. Das Neusser Publikum war – wie auch das Orchester – restlos begeistert von dieser großen Überraschung, die statt imponierend auftrumpfen zu müssen ganz aus ihrer Tiefe der Substanz schöpft. Zweimal tritt der langsameren Grundbewegung eine Art walzernd beschleunigte Bewegung entgegen, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, und beim zweiten Mal erwirkt diese den Übergang in die Schlussphase. Wir können jedenfalls berichten, dass hier ein großer Komponist auf den Plan getreten ist, von dem – vielleicht ja gerade für die symphonische Gattung – noch ganz Großes erwarten dürfen.

Danach Schuberts Unvollendete, und hier möchte ich einfach nur sagen, dass sich eine großartigere Aufführung dieses so viel gespielten – und so oft unzulänglich langweilig oder überzogen schroff dargebotenen – Meisterwerks kaum vorstellen lässt. Mit innigster Gesanglichkeit umgarnten die lyrischen Themen, die dramatischen Umbrüche kamen mit einer elementaren Wucht so überraschend, dass es war, als erklänge die Musik zum ersten Mal. Also sozusagen noch eine Uraufführung, indem das scheinbar Bekannte so unvorhersehbar und dabei vollkommen logisch aus den innewohnenden Kräften entwickelt, das Ganze offenbarend entstand, dass einfach kein Platz war für den relativierenden Geist – denn: Egal, wie schnell oder langsam es gewesen sein mag, die Dimension der Zeit wurde aufgehoben, die Beteiligten gingen vollkommen im Dienst an der Musik Schuberts auf, die seelische Regionen eröffnet, von denen das heutige Musikleben in seiner Veräußerung in der Regel nicht einmal mehr träumt. Es sei nur am Rande erwähnt, dass das Orchesterspiel in allen Belangen auch von grandioser Makellosigkeit war, dass das klein besetzte Orchester einen ungeheuer dichten, runden Klang entfaltete, und dass die Soli von Oboe und Klarinette uns unmittelbar ins Reich reinsten Zaubers entführten, das nicht den Streichern allein vorbehalten war. So kann also auch heute musiziert werden, als stünde hier ein Furtwängler, Talich, de Sabata oder Celibidache.

Als Zugabe brachte Skou Larsen ein ‚Gebet’ von seinem brasilianischen Landsmann Alberto Nepomuceno (1864-1920), das einst sein gleichfalls dirigierender Vater für Streichorchester gesetzt hat: eine wehmütige Kantilene der Violinen wird vom Tutti-Pizzicato begleitet, und im Schlussklang vereinigt man sich zum arco. Schöner, edler, verinnerlichter, aber auch innerlich belebter kann man das nicht spielen. Danach stimmte das Orchester in den Applaus hinein Piazzolla an, Lavard Skou Larsen entwand dem exzellenten Konzertmeister spontan die Geige und ging noch einmal völlig in seinem Element auf. Diesen Mann wird man vermissen, und wir können nur mutmaßen, was ihn bewogen hat, nach zwölf so einmalig erfolgreichen Jahren die Deutsche Kammerakademie zu verlassen und sich anderen Aufgaben zuzuwenden. Er hat Neuss zu einem idealen Ort der Musik werden lassen, und das Publikum dankte es ihm und seinem wunderbaren Orchester mit auch bei entlegensten Programmen ausverkauftem Saal in den Abonnementkonzerten. Immerhin: zum Abschied sagte Skou Larsen mit schelmischem Seitenblick auf einen weltweit prominenten kalifornischen Gouverneur ‚Hasta la vista’…

[Annabelle Leskov, Mai 2017]

Kubanische Festivitäten

Am 10. März spielt die kubanische Konzertpianistin Yamilé Cruz beim Klavierzyklus von Piano Fies Riemerling Werke aus Europa und Kuba. Das Programm beginnt mit Robert Schumanns Faschingsschwank aus Wien Op. 26, worauf das erste Buch aus Isaac Albéniz‘ Iberia folgt. Die zweite Hälfte ist Kuba gewidmet, neben sieben Tänzen von Ignacio Cervantes ist die Suite Andalucia von Ernesto Lecuona zu hören, die Europa und die ‚Neue Welt’ vereint.

Die Konzertreihe von Piano Fies entwickelt sich immer mehr zu einem ambitionierten Großprojekt. Wo anfangs noch wenige Interessierte den Klängen etablierter Musiker lauschten, ist nun der kleine Konzertsaal in Riemerling (obgleich bereits in einen größeren Raum gewechselt wurde) stets bis auf den letzten Platz besetzt und die Wartelisten sind lang. Die Nähe zum Publikum wird großgeschrieben und die Atmosphäre ist vertraut, beinahe intim.

Am heutigen Abend ist es Yamilé Cruz Montero, die in diesem legeren Rahmen auftritt und die Hörer mit ihrem europäisch-kubanischen Programm verzaubert. Eingeführt wird traditionell von Frau Professorin Bianca Bodalia von der Musikhochschule München, die mit Charme und verständlich vermitteltem Fachwissen Einblicke in die dargebotenen Werke gewährt.

Zu Beginn direkt ein Highlight der Konzertliteratur, Schumanns Faschingsschwank aus Wien Op. 26, hochvirtuos und von klanglich-musikalischen Herausforderungen durchzogen. Die ersten Takte überraschen sogleich, denn Yamilé Cruz Montero stürzt sich nicht ungehalten ins Getümmel oder bietet eben nicht sofort höchste Kraft auf. Sie baut auf, verausgabt sich nicht bereits im ersten Ansturm, sondern erzeugt ein Kontinuum, das den Hörer durch das Werk trägt. So entsteht ein gewaltiger Bogen, der das gesamte Opus umspannt – dieser ist artikuliert wie ein einziger großer Spannungsverlauf, der sich über die lange Strecke auftut und genauso natürlich wieder schließt. So erhält der Schwank Stringenz und organischen Zusammenhang fernab der so häufig zu bewältigenden Richtungslosigkeit.

Nicht weniger erstaunlich ist Yamilé Cruz Monteros Aufführung der Iberia-Suite, aus welcher sie das erste Buch spielt. Vertraut ist die Suite in verträumt impressionistischer Manier, geprägt von effektvoller Konturlosigkeit und schillernden Farben. Solch nebulöse Aufgeregtheit scheint dem kubanischen Gemüt der Pianistin gegen den Strich zu gehen, und sie meißelt deutlich die rhythmischen Nuancen heraus, verleiht den drei Stücken Prägnanz und greifbare Form. Für enormen Farbenreichtum ist dabei ebenso Platz, nur nicht willkürlich ausgeteilt, sondern zu einheitlichem Fluss gebündelt. Dabei entfaltet Yamilé Cruz Montero ein weites Spektrum dynamischer Zwischenschattierungen, lediglich der Pianissimobereich wäre nach unten noch erweiterbar (dieser bleibt immer schwierig einzuschätzen, damit auch die hinteren Reihen noch jeden Ton vernehmen können, und außerdem mag auch sein, dass nicht jeder Flügel hier eine endlose Palette bereitstellt). Bei Iberia zeigt sich die ganze Vollendung ihres Anschlags, dem zwar die Kraft einer Löwin innewohnt, der diese allerdings feingliedrig korreliert und immer den Erfordernissen der Musik anzupassen vermag.

Ein wahres Heimspiel hat Yamilé Cruz Montero in der zweiten Hälfte des Konzertprogramms, die Werke der kubanischen Komponisten liegen ihr im Blut (die hier zu hörenden Stücke werden gemeinsam mit weiteren gegen Ende des Jahres bei Grand Piano auf CD erscheinen). Einundvierzig Tänze fasste Ignacio Cervantes zu einem Zyklus zusammen, woraus heute sieben zu hören sind. Es sind verspielte Miniaturen von überschäumender Lebensfreude, durchwoben mit rhythmischen Feinheiten und für das europäische Ohr erstaunlichen Skurrilitäten. Virtuoser und eher mit klassischen Modellen vertraut gibt sich die Musik von Ernesto Lecuona, der als kubanischer Gershwin gilt. Sie sechssätzige Suite Andalucia eint kubanisches Lebensgefühl mit spanischer Attitüde und den Ambitionen einer großen klassischen Komposition. Yamilé Cruz Montero geht ebenso intensiv im organischen Leben der Musik auf wie bei Schumann oder Albéniz, spielt mit feingliedrigem Bewusstsein über Form und Struktur, vernachlässigt auch nicht das lyrische Moment und besticht mit unerhörter rhythmischer Prägnanz. Eine großartige Musikerin.

[Oliver Fraenzke, März 2017]

Rastlose Brillanz

Linn Records, CKD 555; EAN: 6 91062 05552 9

Gemeinsam mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Antonio Méndez spielt Ingrid Fliter die Klavierkonzerte a-Moll Op. 54 von Robert Schumann und g-Moll Op. 25 von Felix Mendelssohn. Das Orchester erklingt zudem in Mendelssohns Konzertouvertüre Op. 32 „Das Märchen von der schönen Melusine“.

An der Oberfläche präsentiert sich die Aufnahme Ingrid Fliters mit Klavierkonzerten von Schumann und Mendelssohn brillant und heiter glänzend. Mit Pathos jagt Fliter über die Tasten, verströmt einen Sog nach vorne und mitten hinein in die Musik. Dabei strahlt sie nicht nur handwerkliche Souveränität aus, sondern auch ein gewisses Gespür für den Zusammenhalt einzelner Phrasen sowie eine glühende Inspiration. Mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Antonio Méndez besteht eine spürbare Verbindung, die Partner fügen sich problemlos zu einer Einheit zusammen, die verschmilzt.

Erst der Blick auf die subtileren Ebenen legt ein anderes Bild frei. Denn so sehr Fliter in der Virtuosität aufgeht und in raschen Passagen zu zaubern scheint, so rastlos sind die langsamen wie entspannten Abschnitte genommen. Die Pianistin scheint innerlich nie zur Ruhe zu kommen, und so wird auch die gesamte Lyrik gerade im Schumann-Konzert durch atemlose Hektik ausgehebelt. Die romantische Verträumtheit und die Wendungen ins Innere sind nicht vorzufinden (natürlich dürfen diese nicht ins manieriert Willkürliche übertrieben werden, aber sie sind dennoch ein entscheidendes Merkmal für Musik jener Zeit). Dazu gehörlt auch, dass immer wieder die spannungstragenden Dissonanzen, die wie ein Gewürz dem Ganzen erst die unverkennbare Note verleihen, unter den Tisch gekehrt und verharmlost werden.

Sehr subtil kann Antonio Méndez das Scottish Chamber Orchestra auf die jeweiligen Stimmungen einschwingen, kann ausgebreitete Melodien natürlich entstehen lassen und dann doch plötzlich wieder in entschiedenstem Aufbegehren toben. Gerade in Mendelssohns Konzertouvertüre kann das Orchester sich einlassen und eine beschwingte Gestaltung erlebbar machen. Dabei geht allerdings manche Nebenstimme im Geflecht unter, die noch einen schönen Beitrag hätte leisten können. Gerade in den Klavierkonzerten hätte damit noch für eine stärkere Kompaktheit des Apparates und für einen stringenter zusammenhängenden Fluss gesorgt werden können.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Geigensport

Dynamic, CDS7774; EAN: 8 007144 077747

Maristella und Mario Patuzzi spielten für Dynamic die vierundzwanzig Capricci für Violine solo von Niccolò Paganinis mit der Klavierbegleitung von Robert Schumann ein.

Es ist einer der wichtigsten Etüdenzyklen für das Instrument Violine überhaupt: Die vierundzwanzig Capricci Op. 1 des „Teufelsgeigers“ Niccolò Paganini – vielleicht vergleichbar mit Chopins Etüden Op. 10 und 25 für Klavier. Mit halsbrecherischer Virtuosität werden in Miniaturformen die wichtigsten und schwierigsten sportlichen Höchstleistungen verlangt, die sich ein Streicher nur vorstellen kann – dabei kann teils ein wahrer Mikrokosmos entstehen und Fragmente (damals) neuer Welten tun sich auf. Es ist ein bunter Farbkasten der Zurschaustellung, die dem Virtuosen vieles abverlangt.

Maristella Patuzzi wagt sich für Dynamic an den gesamten knapp achtzigminütigen Zyklus. Doch bleibt beim Hören nicht wirklich viel hängen, es plätschert einfach so vor sich hin. Es gibt keine große phrasenformende Ausgestaltung, die Dynamik bleibt recht eintönig und der Ausdruck oberflächlich. Hin und wieder darf es gerne auch einmal kratzen und quietschen, aber das sind wir ja von Dynamic – gerade in Kombination mit Paganini – schon gewöhnt. Allgemein herrscht kein wirklicher Schönklang der Violine vor, nie darf sie wirklich „singen“, sondern muss sich in angestrengt-anstrengender Manier dem Extremsport hingeben.

Robert Schumann schrieb eine recht harmlose Klavierbegleitung zu dem Zyklus, die sich hauptsächlich auf simple Akkordbegleitung beschränkt, und nur an zwei oder drei Stellen kurzzeitig an Eigenständigkeit gewinnt. Inhaltlich avancieren können die Capricci dadurch nicht, die Begleitung erspart eher im Konzert dem Pianisten eine Pause, wenn der Violinsolist alleine mit Paganini prahlen will. Hier spielt Mario Patuzzi den Klavierpart, bleibt dabei bewusst ständig zwei Stufen hinter Maristella Patuzzi und versucht, weitestgehend unauffällig zu bleiben – was auch gelingt. Sein Spiel ist schlicht, ohne übermäßige Ausgestaltung, konzentriert sich ausschließlich auf die Ausführung der simplen Akkordgrundlage.

Wer dabei ist, wenn eine Geigerin möglichst schnell über ihr Instrument huscht, der kann vielleicht seine Freude aus dieser Aufnahme ziehen. Wer aber diese Stücke mit Schumanns Begleitung wirklich lebendig, sensibel, tonschön und fesselnd erleben möchte, dem empfehle ich nachdrücklich die Aufnahme mit Ingolf Turban und Giovanni Bria bei Claves.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Hommage an einen Jahrhundertmusiker

José Iturbi
Komplette Soloaufnahmen für Victor (RCA) und HMV (EMI) 1933-52
APR 3CD APR 7307 (EAN: 5024709173075)

Domenico Scarlatti: Sonaten h-moll Kk27 & C-Dur Kk159; Johann Sebastian Bach: Toccata BWV 906; Domenico Paradies: Toccata aus der 6. SonateA-Dur; Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten A-Dur KV 331 & F-Dur KV 332; Ludwig van Beethoven: Andante favori & ‚Für Elise’; Robert Schumann: Arabeske op. 18 & Romanze op. 28/2; Franz Liszt: Liebesträume Nr. 3 & Les jeux d’eau à la Villa d’Este; Frédéric Chopin: Polonaise A-Dur op. 53, Fantaisie-Impromptu op. 66, Valses op. 64/1&2, Mazurka op. 7/1, Nocturne op. 32/1, Préludes op. 28/9&10, Étude op. 10/12; Pjotr Tschaikowsky: Juni & November aus ‚Jahreszeiten’ op. 37b; Sergey Rachmaninoff: Prélude cis-moll op. 3/2; Ignace Paderewski: Menuett G-Dur op. 14/1; Filip Lazar: Marche funèbre aus der Sonate a-moll op. 15; Camille Saint-Saëns: Allegro appassionato op. 70; Claude Debussy: Clair de lune, Rêverie, Arabesques Nr. 1&2 (in 2 Versionen), Jardins sous la pluie; Isaac Albéniz: Sevilla op. 47/3, Córdoba op. 232/4, Malagueña op. 165/3; Enrique Granados: Das Mädchen und die Nachtigall aus ‚Goyescas’, Spanische Tänze Nr. 2 ‚Oriental’, Nr. 5 Andaluza & Nr. 10 ‚Danza triste; Eduardo López-Chavarri: Das alte maurische Schloss aus ‚Cuentos y fantasias’; Manuel de Falla: Tanz des Schreckens & Ritueller Feuertanz aus ‚El amor brujo’; Manuel Infante: Sevillañas; José Iturbi: Canción de cuna & Pequeña Danza Española; Morton Gould: Blues No. 3 aus ‚Interplay’ & Boogie Woogie Etude

José Iturbi (1896-1980) war bis in die 1970er Jahre jedermann, der sich ein wenig auskannte, ein Begriff, doch heute kennen ihn nur noch wenige, obwohl er nicht nur zu den bedeutendsten Musikern des 20. Jahrhunderts zählte, sondern seinerzeit bereits das war, was man einen ‚Star’ nennt – wie es das amerikanische Musikleben so mit sich brachte, wenn man dafür geeignet war. Und er war geradezu prädestiniert für Popularität: als so virtuoser wie lebenssprühender und natürlich musikalischer Pianist und Dirigent wie auch als ausgesprochen gut aussehender, charimatischer Bühnenzauberer. Der exzellent informierende Booklet-Essay von Jed Distler lässt uns wissen, dass Thelonious Monk 1961 vom Metronome-Magazin befragt, Iturbi als seinen Favoriten unter den klassischen Pianisten nannte. Und als es 1936 um die Nachfolge Leopold Stokowskis beim Philadelphia Orchestra gegangen war, wäre Iturbi die Wahl des Orchesters gewesen, falls Eugene Ormandy nicht zugesagt hätte. Dafür wurde er dann für ein Jahrzehnt Chefdirigent des Rochester Philharmonic und leitete in der Folge weitere Orchester. Außerdem machte er eine Musical-Karriere in Hollywood. Doch als Musiker ist Iturbi als unfehlbarer Pianist in Erinnerung geblieben. Die Zusammenstellung seiner sämtlichen kommerziellen Soloaufnahmen für RCA Victor und für His Master’s Voice (EMI) auf drei CDs in sensationellem neuen Remastering von Mark Obert-Thorn für APR ist denn auch ein Ereignis, auf welches viele wirkliche Kenner gewartet haben. Um es vorwegzunehmen: Iturbi bildet nicht nur die unbestrittene Spitze der spanische Klavierkunst, er war einer der ganz großen Musiker, und dies ist vielleicht aus ähnlichen Gründen wie bei Leopold Stokowski nie entsprechend allgemein gewürdigt worden, da er sich nicht scheute, das amerikanische Showbiz mitzumachen – allerdings, in beiden Fällen, nicht auf Kosten der musikalischen Qualität. Sein Spiel ist schlicht makellos, wie Klavierspiel überhaupt nur sein kann. Man höre sich nur die unglaublich klare, bestimmte, herrliche groovende Eleganz und niemals auch nur minimal verwischende Geschwindheit des perlenden Figurenwerks im Finale von Mozarts F-Dur-Sonate KV 332 an: es kann eigentlich kaum mozartischer sein in der Quicklebendigkeit, der auch im Intrikaten wunderbar sanglichen Phrasierung, der durchgehenden Gegenwärtigkeit, der Vielseitigkeit und tonlich flexiblen Brillanz der Artikulation, der – einem guten Komponisten und Dirigenten angemessenen – unbestechlichen Intuition für die Spannungsverhältnisse der kadenzierenden Kräfte, der niemals ins Mechanische abgleitenden und durch kein technisches Hindernis auch nur ein wenig ins Hektische, Strikte oder Zögernde sich verspannenden Geläufigkeit, und der immer körperlich spürbaren Liebe zur Musik, und eben nicht narzisstischen Selbstliebe des Elite-Interpreten. Auch hat man nie das Gefühl, hier ginge es um eine Demonstration von Professionalität oder den Beweis irgendeiner Ideologie. Er spielt alles mit chamäleonhafter Anpassungsgabe an die spezifischen Anforderungen des Stils und der formenden Dynamik, und gerade darin offenbart sich in glücklicher Weise seine lichte, stets lebensbejahende, gelöst animierende Individualität. Ganz besonders gefallen mir sowohl seine Scarlatti- als auch seine Mozart-Sonaten, auch wenn ich dort die Rubati für übertrieben halte. Sie sind jedenfalls nicht konventionell, sondern aus dem Zusammenhang empfunden, und das Resultat ist lebendiger, geschmackvoller und unsentimental innig berührender als fast alle stilistisch korrekteren Wiedergaben. Er kann es sich leisten, Akkorde (etwa im Menuett der A-Dur-Sonate) schwungvoll frei zu arpeggieren, ohne dass die den geringsten Ruch der Entstellung bedeutete. Das ist Freiheit im Dienst der Musik. Und sein Alla Turca, gemessen im Tempo und überwältigend in der janitscheranhaften Wucht, dabei niemals vergewaltigend und grob, steht wie ein Leuchtturm über allen originalitätsbeflissenen Versuchen unserer Gegenwart. Auch ist sein Spiel stets vielstimmig vom Bass aus gestaltet, mit orchestraler Farbigkeit und Differenzierung, was sowohl seinem Bach als auch Schumann, Chopin, Liszt oder Tschaikowsky in substanzfördernder Weise zugute kommt. Nein, der ist niemals ein Oberstimmenträumer, aber auch kein gelehrter Prinzipienreiter. Was für ein innerlich reicher, natürlich tiefgründiger Tschaikowsky! Und wie herrlich sein Beethoven – da ist zwar (leider) keine Sonate dabei, aber das großartig durchgestaltete Andante favori (eine echte Referenz) und die niemals den Klischees nahe Miniatur ‚Für Elise’ genügen vollauf, um ihn als großartigen Beethoven-Spieler auszuweisen. Besonders freute mich, den Trauermarsch aus der a-moll-Sonate des früh verstorbenen, in Frankreich heimisch gewordenen rumänischen Komponisten Filip Lazar (1894-1936) in einer so vortrefflichen Aufführung hören zu können! Chopin und Schumann sind auch vorbildhaft, und mit für einer Vielseitigkeit der Einfühlungskraft und Kontinuität des ernsthaften Entwickelns in kleinen Formen. Ja, kein Wunder auch, dass gerade Thelonious Monk ihn so bewunderte, war Iturbi doch stets ein wunderbar federnder, elastischer, mit natürlichem Groove gesegneter Rhythmiker. Bei Debussy bin ich mir bei aller unbestreitbaren Klasse nicht so sicher – hier bedürfte es vor allem einer besseren Aufnahmequalität als damals möglich – was ja auch für die legendären Casadesus-Einspielungen gilt. Hier haben Musiker wie insbesondere Michelangeli ein Maß gesetzt, das einfach unerreicht bleibt. Hingegen ist auch Rachmaninoffs großer Hit, sein cis-moll-Prélude unter Iturbis Händen von einer vollendet feinsinnig geformten Naturgewalt, die heute als zeitloses Vorbild gelten kann.

Natürlich ist er in der spanischen Musik ganz zuhause. Sein Albéniz ist von zauberhafter Grazie und unwiderstehlicher Verve, und mit jenem authentischen Stolz des Ausdrucks, der eine durch alle Dehnungen hindurch tragende rhythmische Kraft beinhaltet, die auch dann noch verhalten feuersprühend ist, wenn die Gegenkräfte der Morbidezza uns in einen Tagtraum-Abgrund ziehen wollen. Diese Musik lodert gefährlich, und auch hier bleibt die so klar durchdachte Darstellung stets unprätentiös spontan im Ausdruck. Großartig auch ganz besonders der 5. Spanische Tanz von Granados, die ‚Andaluza’, i ihren herrlich gezügelt wild züngelnden Bass-Vorschlägen. Manuel Infantes ausufernde ‚Sevillañas’ sind eine etwas schwächere Komposition, doch umso wilder, das Ekstatische klar manövrierende Tänze aus de Fallas ‚El amor brujo’. Iturbi selbst ist hier als Komponist nicht von allzu großem Tiefgang, aber schöne Unterhaltungsmusik ist es allemal, die er teilweise unter dem augenzwinkernden Pseudonym ‚J. Navarro’ veröffentlichen ließ. Und in Morton Goulds Blues- und Boogie Woogie-Charakterstücken ist das Idiom sozusagen todsicher getroffen. Für Pianisten, die wirklich ambitioniert sind, ist diese Box ohnehin ein Muss, ein Vitaminschub für die Seele eines jeden Musikers, die ich mit frischen Kräften ans Instrument zurückkehren lässt. Gewinnbringend ist sie für jedermann, und niemand sollte sich vom historischen Klangbild abschrecken lassen, denn erstens ist dieses grandios ins beste Licht gesetzt, und zweitens wiegt die musikalische und pianistische Substanz alle damit verbundenen Einbußen vielfach auf.

[Christoph Schlüren, September 2016]

Maximale Vitalität in den Sphären der Transzendenz

Die italienische Meisterpianistin Ottavia Maria Maceratini gab am 26. Juni im von Säulen durchzogenen Gewölbesaal der Mohr-Villa in München-Freimann ein Solo-Recital mit Ludwig van Beethovens ‚Mondschein’-Sonate, den jeweils ersten beiden Balladen von Johannes Brahms und Frédéric Chopin, der Sonatine von Maurice Ravel und der großen Phantasie ‚Guerrero Andino’ von Juan José Chuquisengo, die sie in diesem Jahr in der Zürcher Tonhalle uraufgeführt hatte.

Was für ein Ereignis! Ich bin kein Freund von Schwärmereien, doch hier fällt es mir schwer, einen nüchternen Tonfall anzuschlagen. Ottavia Maria Maceratini, die aus den Marche stammende, bei Lorenzo di Bella, Elisso Virsaladze und Christoph Schlüren ausgebildete Pianistin, soeben 30 Jahre alt geworden, hat zum wiederholten Male in München gespielt, nachdem sie als Solistin mit dem Deutschen Symphonieorchester in der Berliner Philharmonie und bei ihrem Debüt in der Zürcher Tonhalle bemerkenswerte Erfolge feiern konnte. Ich kannte bislang ihre beiden vorzüglichen, bei Aldilà Records erschienenen Solo-CDs, und so bedurfte es keinen großen Zuredens besser informierter Freunde, um sie mir endlich einmal live anzuhören.

Ich möchte es angemessen direkt angehen: Hier tritt eine der beeindruckendsten Musiker-Erscheinungen der jungen Generation vor uns, mit einer spürbaren, respektgebietenden Reife und Selbstbewusstheit, und vollkommen jenseits virtuosen und philosophierendes Beeindrucken-Wollens. Dieser jungen Künstlerin geht es überhaupt nicht um eine Karriere, sie schert sich nicht um das, was fast alle wollen, und sie versucht gar nicht erst, angepasst zu gefallen. Das Adagio von Beethovens Mondschein-Sonate ist in seiner durchlässigen Introspektion ein sehr heikler Einstieg, und sie ließ es so langsam angehen, dass der Kosmos geradezu herausgefordert wurde, mit Mut und Unerschrockenheit, und dabei mit einer sensitiven Gegenwärtigkeit, die Ehrfurcht einflößen kann. Das Finale dann hat das Publikum in ungeheurer Weise aufgeschreckt und erschüttert: was für eine Dichte, geballt dunkle Energie, gebündelte Wildheit. Sie spielt mit einer unglaublichen Kraft aus dem ganzen Körper, aus der Hüfte scheinen alle Klänge direkt übertragen, und egal wie wuchtig es klingt, ist es doch nie gefühllos geschlagen, der Klang wird nicht hart, sondern machtvoll kernig. Danach die beiden Brahms-Balladen, von wunderbarer Wärme und Empfindsamkeit, dabei herrlich klar strukturiert, so ganz organisch zusammenhängend verstanden, und mit einem ‚siebten Sinn’ für die hier so wichtigen tiefen Register. Ganz menschlich durchfühlt, und doch auf Transzendenz gerichtet. Chopin entfaltete eine überwältigende Kraft, vor allem in der g-moll-Ballade, die fast wie aus einem Guss entstand. Das Wunder ist, wie es zugleich aufs feinstrukturell Präziseste erarbeitet ist und doch mitreißend spontan wirkt. Und Ottavia Maria Maceratini ist das Gegenteil von einem Oberstimmen-Häschen! Sie hat stets den ganzen Umfang, die ganze Bandbreite des Tonsatzes im Blick, und selbst die Begleitfiguren sprühen vor Leben und – Wesentlichkeit!

Nicht weniger gelang die Zauberwelt Maurice Ravels, wobei man sich besonders hier eine besseren Flügel gewünscht hätte als das recht bescheidene Hohner-Modell, das kaum ein leises Spektrum zulässt, zumal in einer so halligen Akustik. Aber es sind ja auch die besonderen Herausforderungen, in denen sich wahre Qualität erweisen muss, und zweifellos hat sie eigentlich mehr daraus gemacht als „das Beste“ – sie hat uns völlig vergessen lassen, wie unzulänglich die zur Verfügung stehende Materie war. Dies gilt auch für den gut 20minütigen ‚Guerrero Andino’, den ‚Andenkrieger’ von Juan José Chuquisengo, der sich anschickt, nicht nur der substanziellste Komponist seiner peruanischen Heimat zu sein, sondern der lateinamerikanischen Musik eine neue kompositorische Klasse erschließt, die hoffentlich noch viele Früchte tragen wird. Ohne den geringsten Zweifel dürfen wir annehmen, dass dieses Stück bald ein Klassiker unserer Zeit sein wird. Und die Hypervirtuosität des Klaviersatzes ist in diesem Fall nicht abschreckend, sondern in völliger Übereinstimmung mit dem inneren Reichtum des Komponisten und dem weiten Spektrum instrumentalen Ausdrucks, der einfach notwendig ist, um diesen Reichtum einzufangen. Als Zugaben folgten danach noch Chopins Nocturne Opus 48. Nr. 2 in fis-Moll und Schumanns Arabeske, ein bisschen sehr geschwind, aber faszinierend organisch erarbeitet. Glücklich, wer hier dabei sein konnte. Und wir beobachten mit großer Spannung, wohin sich Ottavia Maria Maceratini noch bewegen und entwickeln wird. Schon jetzt ist sie ein leuchtendes Beispiel für junge Musiker, die Orientierung suchen in einer Klassikwelt, die immer mehr zum Business der Stars und Exoten degeneriert ist. Sie ist auf einem Weg, der Musik als spirituelle Erfahrung möglich macht, ohne dass dies irgendwie den Lustfaktor beeinträchtigen würde – tatsächlich ein Wunder: maximale Vitalität mitzunehmen in die Sphären der Transzendenz.

[Ernst Richter, Juni 2016]