Archiv der Kategorie: Konzertrezension

Musikalisches Gipfeltreffen – Impressionen vom Enescu-Festival in Bukarest 2025

George Enescu ist nicht zu übersehen. Wer dieser Tage durch die prächtigen Straßen Bukarests flaniert, begegnet ihm an allen Ecken und Enden. Denn das Konterfei des berühmtesten nationalen Komponisten hängt an Wimpeln in der ganzen Stadt, markante Plakate – ein leuchtend orangener Kreis vor blauem Hintergrund – werben für Konzerte des „Internationalen George Enescu Festival“. Der Spätsommer 2025, genauer die Wochen zwischen dem 24. August und dem 21. September, steht ganz im Zeichen der größten Festspiele für klassische Musik in Rumänien. In Zahlen: rund 4000 Kunstschaffende aus 28 Nationen sind in über 100 Konzerten zu hören. Finanziert wird das Ganze zu etwa 90 % vom Staat, den Rest decken private Sponsoren ab. Die Tickets sind im Vergleich zu ähnlichen Festivitäten moderat, die günstigsten kosten 5 Euro, Studierende haben freien Eintritt und es gibt Rabatte für Senioren. Auch außerhalb der Hauptstadt werden Konzerte angeboten, etwa in Timișoara oder Sibiu.

Gegründet wurde das Internationale George Enescu Festival 1958, es fand zunächst mit Unterbrechung alle drei Jahre statt, seit 2001 sind es nur zwei. Doch wer ist der 1881 geborene Musiker? In Rumänien kennt ihn jedes Kind, er ziert die Vorderseite der Fünf-Lei-Banknote und seine folkloristisch inspirierten Stücke, etwa die beiden Rhapsodies Roumaines, sind populäres Allgemeingut. Enescu studierte in Paris, machte als Geiger und Dirigent Karriere und prägte das rumänische Musikleben bis Mitte der 40er Jahre. Das kommunistische Regime aber lehnte er ab, deshalb emigrierte er 1946 nach Frankreich, wo er 1955 starb. Als Komponist hinterlässt er ein vielseitiges, zwischen Spätromantik und Moderne stilistisch weitgefächertes Oeuvre, das mit wenigen Ausnahmen außerhalb Rumäniens immer noch eine Außenreiterrolle einnimmt. Das will das Festival ändern und Enescu über die Grenzen hinaus bekannter machen. Rund 50 seiner Werke werden gespielt, ein Höhepunkt wird die Inszenierung der einzigen Oper Oedipe sein. Doch die Festwochen bieten weit mehr als eine Enescu-Schau, sie sind gleichzeitig ein Gipfeltreffen künstlerischer Eminenzen. In einem Monat geben sich die Stars der klassischen Musikszene und internationale Spitzenorchester buchstäblich die Klinke in die Hand, gefühlt ist jeder von Rang und Namen vor Ort. Diesmal reisen beispielsweise Magdalena Kožená mit dem Orchestra dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia an, Martha Argerich mit dem Orchestre de Monte-Carlo (geleitet vom Exgatten Charles Dutoit) und Anne-Sophie Mutter mit dem Orchestre National de France.

Die 27. Ausgabe steht 2025 unter dem Motto „Celebration“. Gefeiert werden Jubiläen bedeutender Komponisten und einiger Ensembles: die runden Geburtstage von Ravel, Pierre Boulez und Luciano Berio, der 50. bzw. 70. Todestag von Enescu und Schostakowitsch spiegeln sich in den Programmen wieder. So wird etwa Lady Macbeth von Mzensk, multimedial aufbereitet, erstmals in Rumänien gespielt.

Ravel: L’heure espagnole / © Petrica Tanase

Beim besuchten zweiten Wochenende dominiert Vokalmusik. Zum Auftakt gibt es in der Oper Bukarest eine komödiantisch pralle Produktion aus Cluj-Napota von Maurice Ravels Buffa L’heure espagnole. Das Ensemble, darunter die peruanische Tenorhoffnung Iván Ayón-Rivas, der vor Kraft strotzende Bariton Armando Noguera und die sinnliche Gaëlle Arquez, trifft charmant den frivolen Geist des Einakters. Deftiger langt Dirigent James Gaffigan zu: er entfacht mit dem Orquestra de la comunitat Valenciana spanisches Temperament, französische Subtilität bekommt weniger Raum. Die hat am nächsten Tag die Alte Musik-Truppe Les Ambassadeurs – La Grande Écurie, die mit auffällig vielen Instrumentalistinnen besetzt ist, reichlich im Gepäck. Auf dem Programm steht Dardanus von Jean-Philippe Rameau. Die Vertonung der griechischen Sage um den titelgebenden Halbgott und seine Liebesbeziehung zur feindlichen Prinzessin Iphise bereitet musikalisch viel Plaisier. Der Geiger und Dirigent Emmanuel Resche-Caserta entfaltet eine mitreißende, farbige Klangpracht, der Chœur de Chambre de Namur setzt als Zauberwesen, Ungeheuer und höfisches Personal chorische Glanzlichter und das Gesangsquintett – Judith Van Wanroij , Benoit-Joseph Meier, Thomas Dolié und Stephan Macleod – zeichnet sich durch stilistisches Können und vokalgestalterische Delikatesse aus. Die Krone aber gebührt Marie Prevost: als Venus lässt sie reinste Jubeltöne hören, spinnt zauberhafte Bögen und nimmt durch ihre sympathische Ausstrahlung zusätzlich für sich ein.

Jean-Philippe Rameau: Dardanus / © Andrada Pavel

Dardanus findet im prachtvollen Athenäum, dem historischen Schmuckstück unter den Bukarester Konzertsälen, statt. Dort gibt auch Asmik Grigorian, die gerade in Salzburg für ihren Crossover-Liederabend bejubelt wurde, zu später Stunde einen Soloabend traditioneller Art. Romanzen von Tschaikowski und Rachmaninoff, dazu zwei Enescu-Songs als Liebeserklärung an das rumänische Publikum stehen auf dem Programm. Die Sopranistin singt sie glorios, mit fülliger Stimme, samtigen Höhen und dramatischem Ausdruck. Sie macht aus den melancholischen Melodien große Arien, was der Atmosphäre der Lieder zwar nicht entspricht, aber beeindruckt. Auf Effekt setzt auch ihr Pianist Lukas Geniušas. In Gestus und Mimik ähnelt er einem exzentrischen Tastenlöwen, doch wie er sich in die Klavierbegleitungen versenkt und seine Solostücke zelebriert, ist bezwingend.

Asmik Grigorian und Lukas Geniušas / © Andrada Pavel

In bestem Licht präsentiert sich die Sinfonia Varsovia. Unter Leitung von Constantin Grigore bringt sie zusammen mit dem Kammerchor PRELUDIU – Voicu Enăchescu das Requiem for My friend von Zbigniev Preisner zu ergreifender Wirkung. Der Filmkomponist schuf es im Gedenken an den Regisseur Krzysztof Kieślowski, er verbindet liturgische Sequenzen mit einer weltlich-meditativen Klanglandschaft. Zwei Tage später beweist das Orchester in einem klug konzipierten Programm erneut seine Höchstform. Diesmal wird es von Marta Gadolinska, derzeit noch GMD in Nancy, beflügelt. Mit präziser Zeichengebung und gestalterischer Kraft lässt sie schon die Ouvertüre von Grażyna Bacewicz vor Spannung vibrieren, tritt dafür im anschließenden Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin ganz zurück und ist aufmerksame Begleiterin für Rafał Blechacz bei seinem poetisch-sensiblen Ausflug in die Romantik. Nach der Pause entwickelt die Dirigentin dann eine enorme, stets kontrollierte Sogkraft für Wojciech Kilars Tondichtung Krzesany und Enescus‘ Chor-Symphonie Vox maris, der Sound ist geschmeidig und voll, dabei aber nie kompakt. Wunderbar! Das Gastspiel des Warschauer Orchesters ist Teil der rumänisch-polnischen Kultursaison 2024-2025 und setzt damit in zunehmend nationalistisch geprägten Zeiten ein wichtiges Zeichen zur Völkerverständigung. So wie es auch der Auftritt des Ukrainian Freedom Orchestra zur Eröffnung ist, der sowohl als Geste wie als politisches Statement verstanden werden kann.

Marta Gadolinska / © Maria Gindac

Was gibt es noch? Nicht alles kann erwähnt werden angesichts der Fülle von Veranstaltungen. Es gibt Kammermusik im Sala Auditorium, eine konzertante Zauberflöte und György Kurtags Fin de partie als Referenz an den fast 100-jährigen Komponisten. Und auch an junge Menschen wird gedacht. Eine phantasievoll gestaltete Matinee im altehrwürdigen Odeontheater vermittelt Kindern Enescus Biographie in einer Mischform aus Musikausschnitten und Texten. Das Jugendorchester Orchestra Sinfonietta unter Mihnea Ignat offenbart hohes Niveau, das Manuskript liest der omnipräsente künstlerische Leiter und Dirigent Cristian Măcelaru selbst. Es ist sein Anliegen, das Festival für die junge Generation zu öffnen. Und er hat Erfolg damit: „Enescu in Control“ heißt ein Projekt – es präsentiert Programme unterschiedlichster Couleur, von Bachbearbeitungen bis zum Jazz, im angesagten Club Control, die offenbar den Geschmack der Youngsters treffen. Die Karten sind heiß begehrt – ein gutes Omen für die Zukunft.

Mihnea Ignat, Orchestra Sinfonietta / © Maria Gindac

[Karin Coper, September 2025]

Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (III)

Abschließend die Besprechung der letzten drei Konzerte des diesjährigen Festivals „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum: Klavierabende von Mark Viner (21.8.), Illia Ovcharenko (22.8.) und Chiyan Wong (23.8.).

Wann immer der noch fast jugendlich wirkende Mark Viner in Husum auftritt, liegen die Erwartungen besonders hoch, weil er wie nur ganz wenige Künstler in geradezu idealer Weise das virtuose Kernrepertoire des Raritätenfestivals vertritt, vor allem mit Komponisten wie Leopold Godowsky oder Charles-Valentin Alkan. Viner ist zudem seit über 10 Jahren Vorsitzender der Alkan Society und arbeitet erfolgreich an der ersten Gesamtaufnahme von dessen Klavierwerk. Beide Hälften seines Konzerts am 21. 8. begann er jedoch mit Transkriptionen berühmter Melodien Charles Gounods durch Franz Liszt. Die klangliche und pianistische Souveränität des Pianisten erinnert sofort an Marc-André Hamelin, allerdings auch über weite Strecken an dessen gewisses – hier britisches – Understatement. Viners Darbietung von Les Adieux S 409 über ein Motiv aus „Roméo et Juliette“ erschien durchaus gehaltvoll; noch besser gelang die glitzernd klare Hymne à Sainte Cécile S 491 mit konsequent aufgebauter Steigerung. Dennoch vermisste man in seinem Klavierspiel echten Tiefgang: Emotional offensichtlich selbst absolut unbeteiligt, gehört er eben nicht zu den musikalischen „Deutern“, überlässt dies ganz seiner Hörerschaft. Ignaz Paderewskis Nocturne op. 16,4 erwies sich als gefällige Petitesse. Als Rarität interessanter das diesem 1926 gewidmete Nocturne „Ragusa“ (historischer Name Dubrovniks) seines amerikanischen Schülers Ernest Schelling, das über einem Barkarolen-Rhythmus zumeist hemiolische Melodik entwickelt, mit exquisiter Harmonik und atmosphärischem Klaviersatz.

Vom nach wie vor unterbelichteten Klavierschaffen Cécile Chaminades präsentierte Viner drei Stücke, die sich ebenfalls See-Motiven widmeten: Marine op. 38, nicht sonderlich charakteristisch; L’Ondine, mögliches Vorbild für Ravels gleichnamiges Stück, beides schlicht zu laut vorgetragen; schließlich die dankbaren Pêcheurs de nuit aus den Poèmes provençaux. Die großen pianistischen Herausforderungen des Abends waren erwartungsgemäß zum einen zwei perfekt beleuchtete „Phonoramas“ aus Godowskys Java-Suite: Wayang-Purwa und The Bromo Volcano – mit großartiger Durchsichtigkeit des komplexen, feinsinnigen musikalischen Geflechts und eindringlicher Bildhaftigkeit der vorjährigen Aufführung des kompletten Zyklus durch Patrick Hemmerlé nach einhelligem Bekunden des Publikums weit überlegen. Zum anderen überzeugten Alkans nettes Nocturne Nr. 4 „Le grillon“, Posement aus den 12 Dur-Etüden op. 35, wo Viner aus den dicken Akkorden gekonnt die Mittelstimmen herausarbeitete, und schließlich die Trois petites fantaisies op. 41: Zwar geriet ihm das Alla-breve von Nr. 2 etwas zu langsam und man erkannte nie, dass dessen Thema stets auftaktig beginnt, dafür gelang die typisch Alkansche, absolut verrückte Presto-Orgie von Nr. 3 – primitiv, aber gut – wirklich hinreißend. Was Alkan angeht, ist Viner momentan eindeutig der Platzhirsch. Die Bravos für diese Leistung waren redlich verdient. Trotzdem wäre wohl zumindest ein Werk mit gewichtigerer musikalischer Substanz für ein solches Programm wünschenswert.

Warum man sich vom Ukrainer Illia Ovcharenko, in diesem Jahr der jüngste Pianist in Husum, ausgerechnet Robert Schumanns erst 1976 veröffentlichte Exercises WoO 31 – über das Allegretto-Thema aus Beethovens Siebter – gewünscht hatte, blieb schleierhaft. Das eh‘ sehr unreife Werk erklang im Rittersaal bereits 2007 (Piers Lane), und Ovcharenko hatte sich für den 22. 8. aus den in drei Quellen überlieferten 15 Variationen eine dramaturgisch völlig misslungene Mischfassung zurechtgebastelt. Die rein technischen Schwierigkeiten meisterte er ordentlich, spielte aber durchwegs viel zu laut, was im Schloss vor Husum sofort Missfallen beim anspruchsvollen Publikum hervorrief. Ferruccio Busonis Elegie Nr. 3 „Meine Seele bangt und hofft zu dir“ gehört trotz enormer technischer Anforderungen zu den introvertiertesten Werken des Deutsch-Italieners. Leider agierte Ovcharenko auch hier zu massiv, kaum geheimnisvoll; die erzitternde Zartheit einer im Innersten verunsicherten Seele wurde so nicht deutlich.

Vieles am übrigen Programm – Werke von in der heutigen Ukraine gebürtigen Komponisten – gefiel dem Rezensenten dann sehr wohl. Für die rückwärtsgewandte, jedoch beim Raritätenfestival immer beliebte Salonmusik Sergej Bortkiewiczs traf Ovcharenko genau den richtigen Tonfall, etwa beim schönen Nocturne „Diana“ op. 24,1. Zwei Stücke Paderewskis erhielten von ihm die nötige Eleganz, ohne perfekt zu sein. Als Frühwerk Levko Revutskys (1889–1977) lehnt sich die Sonate h-Moll op. 1 recht uneigenständig an Liszt und Rachmaninow an, wirkte unter Ovcharenkos Händen allzu bombastisch: Selbst mit Gewalt lässt sich daraus kein Meisterwerk machen. Dies nivellierte die ausgezeichneten Wiedergaben von dessen Préludes zuvor. Insbesondere die beiden unkonventionellen Stücke op. 7 – das zweite haarsträubend brillant die gesamte Tastatur in Besitz nehmend – machten Eindruck. Noch faszinierender gelangen am Schluss die nicht nur harmonisch bemerkenswerten Cinq Préludes op. 44 seines Landsmanns Boris Ljatoschinsky, dessen fabelhafte Symphonien endlich mal in deutschen Konzertsälen erklingen sollten.

Das letzte Konzert am 23. 8. spielte der mittlerweile in Berlin lebende Hongkonger Chiyan Wong. Die in Details miteinander verflochtenen sechs Sätze der 1902 entstandenen Suite des von Kind an musikalisch gut vernetzten Gustave Samazeuilh (1877–1967) analysierte Wong geradezu in all ihren Feinheiten. Melodische Oberstimmen knallte er jedoch unverhältnismäßig spitz heraus: auf Dauer nervig. Dies störte bei den Variations sur «Auprès de ma blonde» des berühmten Pariser Organisten Naji Hakim (*1955) – an der Église de la Saint-Trinité Nachfolger Olivier Messiaens – weniger, da schon das Thema sehr staccato-mäßig daherkommt. Das ganz traditionell strukturierte Variationswerk mit unverhohlener Nähe zur französischen Unterhaltungsmusik endete mit einem ansprechenden Finale. Was Wong von seinem Kompositionslehrer Hakim wirklich mitgenommen hat, ließ sich allerdings anhand seines eigenen ganz kurzen Klavierstücks ‚tch‘ kaum festmachen. Etwas sinnlicher erklang immerhin Sergej Prokofjews Amoroso-Finale op. 102,6 aus der Cinderella-Suite.

Nach der Pause versuchte der in England ausgebildete Pianist den Zuhörern Busonis „Konzertfassung“ der Bachschen Goldberg-Variationen nahezubringen, die er vor 6 Jahren beeindruckend eingespielt hat. In Husum übertrieb er dabei freilich gnadenlos: Busoni empfahl den Wegfall sämtlicher Wiederholungen und den Verzicht auf neun der 30 Variationen, erstellte dafür eine klanglich wirkungsvolle Version der letzten Variationen – gerade hier schwächelte Wong kurz – und der Wiederholung der Aria ohne Verzierungen. Wong nahm die romantisierenden Vortragsangaben Busonis allzu ernst, überbetonte zudem die Entwicklung der Basslinie auf verstörend manierierte Art und Weise inklusive unmotivierter Tempomodifikationen. Schließlich entkleidete er die abschließende Aria nicht nur bis auf die Knochen, sondern ließ von ihr quasi überhaupt nichts mehr übrig – ein intellektuelles Experiment sehr zur Verärgerung des Publikums, das mehrheitlich keine Zugabe einforderte. So kam Ferruccio Busoni dieses Jahr in Husum insgesamt nicht gut weg. Neben selbst für den als Vielhörer berüchtigten Rezensenten inspirierenden Neuentdeckungen waren hingegen vor allem die Abende von Aline Piboule und Daniel Grimwood unvergessliche Höhepunkte der durchgehend erstklassigen Raritäten der Klaviermusik 2025.

[Martin Blaumeiser, 27. August 2025]

Hier geht es zu den beiden ersten Teilen des Berichts:

Teil 1

Teil 2

Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (II)

In Fortsetzung unseres ersten Beitrags über das diesjährige Festival „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum bespricht unser Rezensent die drei Konzerte vom 18.–20. August 2025:

Der schwedische Pianist Roland Pöntinen – schon mehrfach Gast des Husumer Festivals –konzentrierte sich in seinem Klavierabend am 18. 8. auf selten zu hörende Werke der 1890er Jahre. Otilie Suková (1878–1905) war eine Tochter Antonín Dvořáks und spätere Ehefrau seines Meisterschülers Josef Suk. Die Trauer über ihren frühen Tod verarbeitete dieser in seiner berühmten Asrael-Symphonie. Ihre einzigen eigenen Kompositionen, 4 kleine Klavierstücke, hatte Suk notiert; drei davon erschienen 1909 als Zeitschriftenbeilage, das wohl dem Vater gewidmete „Dem teuren Papa“ erst 2018 bei Bärenreiter. Bei Sukovás Humoreske wirkte Pöntinen noch etwas steif, trug dafür die drei übrigen, einfallsreicheren Stücke durchaus mit Feingefühl vor.

Wilhelm Stenhammar (1871–1927) war selbst ein exzellenter Pianist mit einer riesigen „Pranke“ wie Brahms, was man nicht nur seinem 2. Klavierkonzert anmerkt, welches zuletzt wieder gerne von Herbert Blomstedt zur Diskussion gestellt wurde. Die Sonate g-Moll (1890) ist hingegen noch ein Frühwerk, das stark an Brahms (Scherzo) und, unverkennbar im Finale, konkret an Schumanns Sonate in derselben Tonart anknüpft. Nur die Romanza verströmt bereits ansatzweise typisch nordische Melancholie. Pöntinen gestaltete im gesamten Stück die Tempi flexibel, hätte stellenweise aber rhythmisch noch prägnanter sein können. Er brachte die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Themen auf den Punkt, überzeugte gerade bei den lyrischeren Momenten. Nur den vierten Satz begann er deutlich zu laut. Nach Noten spielte er danach drei der späten 18 Klavierstücke op. 72 Peter Tschaikowskys und hinterließ hier einen eher zwiespältigen Eindruck. Sehr geschmackvoll gelang die Berceuse (Nr. 2), über erstaunlich eisernem Rhythmus; allerdings pfuschte Pöntinen schon hier bei schnellen Wechseln in die hohe Lage – manches wirkte zu unpräzise. Der Rhythmus von Tendres reproches (Nr. 3) erschien leicht missverstanden, und bei Scherzo-Fantaisie (Nr. 10) – nach Skizzen zur abgebrochenen 7. Symphonie entstanden und zugegebenermaßen im korrekt gewählten Tempo fast unspielbar schwer – ließ der Pianist manches unter den Tisch fallen, so dass das Stück tatsächlich wie ein vom Komponisten aus einer Orchesterpartitur improvisierter Auszug erklang.

Im zweiten Teil vermochte Pöntinen zum Glück, sich mächtig zu steigern. Richtig gut war schon die Auswahl von je drei Préludes (aus opp. 15 und 16) und Etüden (aus op. 8) Alexander Skrjabins, berückend schön Cécile ChaminadesLes Sylvains“ op. 60. Ihre Faune – in gekonntem, effektiven und harmonisch reichen Klaviersatz – schienen allerdings an diesem Abend eher mit nordischen Trollen Griegs verwandt als in mediterranen Gefilden angesiedelt. Drei der 6 Études op. 111 von Camille Saint-Saëns (Nr. 1; Nr. 4 mit durchdachten Glocken-Illusionen, Nr. 6 über Material aus dem Finale seines 5. Klavierkonzerts) beeindruckten ebenfalls. Zum Höhepunkt wurde jedoch zuvor ein makelloser, bis ins letzte Detail ausgeloteter Vortrag von Claude Debussys frühen Images oubliées: Anschlag, Pedalisierung und Nutzung des Resonanzraumes unter perfekter Kontrolle. Dieses Niveau wurde nochmals mit der ersten Zugabe, Ravels Pavane pour une infante defunté, bestätigt. Pöntinen entließ das Publikum mit seiner Bearbeitung von Vladimir Cosmas leitmotivischem Thema Sentimental Walk (frei nach Satie) aus der Filmmusik zu Jean-Jacques Beineix‘ „Diva“ (1981).

Am 19. August war der einzige heutzutage wirklich „exotische“ Programmpunkt die letzte der sechs Klaviersonaten (g-Moll op. 39, 1806) des Wiener Komponisten Anton Eberl (1765–1807), der anscheinend Schüler W. A. Mozarts war und noch nach dessen Tod der Familie verbunden blieb. Sein auch pianistisch recht anspruchsvolles, dreisätziges Stück nimmt sich bereits mehr Beethoven als seinen Lehrer zum Vorbild und erreicht im ausladenden langsamen Satz fast gleiches Niveau. Das Thema des Finales im 2/4-Takt scheint gar dem Hauptmotiv aus dessen „Sturm-Sonate“ op. 31,2 teils „abgekupfert“ zu sein. Herbert Schuch näherte sich dem tiefsinnigen Werk mit der gebotenen Gelassenheit und enormer klanglicher Sensibilität: Während des gesamten Konzerts wagte er das Risiko, ein Pianissimo bis an die Grenze dessen anzubieten, wo ein Steinway-D überhaupt noch reagiert: faszinierend. Bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes baute er ein paar stilistisch korrekte Verzierungen ein und nahm sich auch die Freiheit für ganz kleine formale Eingriffe an Eberls manchmal zu „quadratischer“ Periodenbildung. Dies alles vermochte das Publikum zu begeistern.

Ferruccio Busonis (1866–1924) späte Toccata (Preludio – Fantasia – Ciaccona) von 1922 gilt trotz ihrer relativen Kürze von gut 10 Minuten zu Recht als eines seiner Hauptwerke für Soloklavier: pianistisch vertrackt, harmonisch schon recht kompromisslos und von einer den Hörer geradezu erschlagenden Ausdrucksintensität – eigentlich. Der Komponist gibt zwar keine Metronomzahlen vor, dennoch verfehlte Schuch zum einen in allen Teilen die hier erwartbaren Tempi etwas nach unten und vereitelte so in den schnellen Abschnitten das in Lisztschem Sinne angestrebte Transzendieren kompositorischer und instrumentaler Virtuosität. Zum anderen müsste man sich klarmachen, welche Rollen verschiedene Motive nur wenig später in Busonis Opus summum, der nicht mehr ganz vollendeten Oper Doktor Faust spielen. Das Staccatissimo des Beginns geriet zu weich, das zugleich geforderte Arditamente oder das con calore aufblühende Thema in der Fantasia zu unterkühlt etc. Damit konnten Busoni-Kenner nicht wirklich zufrieden sein.

Ganz hervorragend dann wieder Busonis phänomenale Bearbeitung des Trauermarschs aus Richard Wagners „Götterdämmerung“. Erneut zahlte sich Schuchs Mut zu extrem leisem Spiel bei der Gestaltung einer dynamischen, quasi plastischen Illusion des hier weitgehend düsteren Klangbilds eines riesigen Orchesterapparats aus, wodurch klar modellierte (Leit-)Motive durch flächige Elemente sinnhaft unterfüttert erschienen.

Julius Reubkes (1834–1858) Orgelsonate Der 94. Psalm“ sowie seine von Umfang und Schwierigkeit her dem Vorbild seines Lehrers Liszt kaum nachstehende Klaviersonate b-Moll entstanden kurz hintereinander Anfang 1857, als sich bereits die damals unheilbare „Schwindsucht“ abzeichnete, die ein Jahr später zum Tod des jungen Komponisten führte. Während die Orgelsonate sich, heute unbestritten, schnell als eine der großartigsten Orgelwerke des gesamten 19. Jahrhunderts herumsprach, geriet die Klaviersonate – da lange nicht mehr in Druck – bald in Vergessenheit und erweckte erst ab den 1980ern wieder das Interesse der Pianisten. Sie gehört aber längst noch nicht zum Standardrepertoire, stand dafür in Husum schon mehrfach auf dem Programm. Leider gelang es Herbert Schuch nicht, an das Niveau der besten Darbietungen des Werkes heranzukommen. Die drei miteinander verbundenen Sätze bilden eine Liszts h-Moll-Sonate vergleichbare bogenförmige Großform mit überbordender Energie. Schon beim Hauptthema des Kopfsatzes nahm Schuch dessen Wucht zu früh heraus, phrasierte die einzelnen Perioden zu deutlich ab. Ähnlich relativierte der Pianist andere Stellen, etwa nur wenig später das più forte e stringendo kurz vor dem quasi recitativo. Natürlich war Schuch den technischen Anforderungen des Werks gewachsen und beeindruckte wieder durch klanglich hervorragende Gestaltung der lyrischeren Momente, so beim choralartigen Seitenthema und durchgängig im Andante sostenuto. Leider folgte er nicht nur im ersten Satz Reubkes vorgeschlagenem Strich, sondern nahm auch im Finale, in dem der Komponist sich fraglos ein wenig wiederholt, einige kleine Kürzungen vor, die in diesem Fall unverzeihlich erschienen. Der Hauptkritikpunkt hier richtet sich jedoch an die Kleinteiligkeit von Schuchs Vortrag, die über größere Strecken laufende Entwicklungen für den Hörer nicht nachvollziehbar machte. Offenkundig unterschätzte der Pianist die Dramatik der gesamten Sonate mit ihrem bis zur Manie gesteigerten Zur-Schau-Stellen noch vorhandenen Überlebenswillens, wo hingegen in der wenig späteren Orgelsonate am Schluss bereits jedwede Hoffnung – die zumindest noch im ansonsten äußerst brutalen Psalmtext steckt – musikalisch negiert wird. So verkaufte er das Stück spürbar unter Wert, was dann selbst die wirkungsvollen Zugaben nicht mehr wettmachen konnten.

Eine wiederum andere Künstlerpersönlichkeit betrat am 20. 8. das Husumer Podium: Aline Piboule. Rein pianistisch mit konventioneller, grundsolider Technik und ohne irgendwelche Allüren, durch Extravaganzen aufzufallen, stellte sie sich ganz in den Dienst der von ihr vortrefflich präsentierten, wirklich weit jenseits des Mainstreams angesiedelten Klavier-Preziosen. Vom ersten Augenblick an erwies sich die Französin als wahre Poetin am Flügel, die es verstand, das Publikum unmittelbar zu fesseln. Cyril Scott (1879–1970) folgte als junger Komponist den französischen Impressionisten, bis hin zur Reanimation barocker Formen wie in der viersätzigen Pastoral Suite. Gerade der Rigaudon mochte manchen Hörer vielleicht an den entsprechenden Satz aus Ravels Le Tombeau de Couperin „erinnern“; tatsächlich ist Scotts Zyklus der ältere. Die für den Briten typischen, zahlreichen Taktwechsel erschweren manchmal, größere Zusammenhänge zu erkennen, was Piboule jedoch geschickt löste. Auffallend ihr hierbei äußerst sparsames Pedal, als wollte sie die Harmonik keinesfalls zusätzlich aufweichen. Schon beim liebenswerten Konzertwalzer Ernst von Dohnányis über ein Thema aus Leo Delibes Ballett Coppelia zeigte sie, dass sie natürlich Pedalisierung optimal einsetzen kann; ein durchaus virtuoses Stück, dafür ohne die Überdrehtheit ähnlicher Bearbeitungen etwa Godowskys oder Schulz-Evlers.

Frank Bridge (1897–1941) kennt man eher als Lehrer Benjamin Brittens als durch seine eigene Musik: wohl der immer noch meistunterschätzte britische Komponist des 20. Jahrhunderts. Dabei ist insbesondere die Kammermusik sensationell (Klavierquintett, 2. Klaviertrio, 4. Streichquartett) und wird über die Jahre immer moderner. Die Three Sketches von 1906 sind noch ganz tonal und absolut romantisch. Piboule erfasste deren Tiefgang perfekt und brachte sämtliche Feinheiten unprätentiös zum Tragen. Mel Bonis‘ (1858–1937) Kammermusik fand zuletzt zunehmend Beachtung auf dem Tonträgermarkt. Dass ihre Klavierwerke genauso anspruchsvoll, zugleich dankbar sind, bewies Aline Piboule mit zwei Beispielen aus einer ganzen Reihe von Stücken, die mythologische bzw. literarische Frauengestalten porträtieren. Ophélia – nachdenklich, mit tollen Klavierfarben, lediglich etwas zu lang – und Desdémona hinterließen einen starken Eindruck.

Der Rezensent hatte immer schon gewisse Probleme mit dem Spätwerk Gabriel Faurés. So begeisterte am Mittwoch allenfalls dessen Barcarolle Nr. 3 von 1885, während die späten Stücke – die 13. und damit jeweils letzten seiner Barcarolles bzw. Nocturnes (1921) – mal wieder langweilten. Keinesfalls die Schuld der Pianistin, die sich mit ein wenig übertriebener Dynamik leider vergebens bemühte, mehr Leben in diese Musik zu bringen. Das Beste kam an diesem Abend zum Schluss, mit Musik der beiden bretonischen Komponisten Guy Ropartz (1864–1955), dessen tolle Symphonien man unbedingt kennen sollte, und einem – wie Albert Roussel – seefahrenden Komponisten: Jean Cras (1879–1932). Dieser brachte es bis zum Konteradmiral und führte immer ein Klavier mit an Bord. In Deutschland noch nahezu unbekannt, sind seine Werke auf dem CD-Label timpani mittlerweile gut dokumentiert. Sehr interessant bei Ropartz‘ Nocturnes Nr. 1 & 3 ist z. B. deren rhythmische Binnenstruktur. So finden sich in beiden Stücken 7er-Rhythmen: In Nr. 1 im 7/4 bzw. 21/8-Takt (=7×3); Nr. 3 steht durchgehend im 21/16-Takt (=3×7) – auch sonst großartige Musik. Cras‘ Deux Paysages spielen mit Exotismen (I) bzw. einer von Tempo und Agogik ungemein flexibel behandelten, eingängig schlichten Melodie (II). Für diese Werke ist sicherlich noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten. Piboule traf mit ihren exzellenten Darbietungen beim Husumer Publikum damit schon mal voll ins Schwarze.

(Zum dritten und abschließenden Teil siehe hier!)

[Martin Blaumeiser, 22. August 2025]

Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (I)

Das diesjährige Husumer Festival „Raritäten der Klaviermusik“ bot vom 16. bis 23. 8. 2025 erneut eine hochinteressante Auswahl an hörenswerten, dabei weitgehend unbekannten Werken. Für 2025 eingeladen hatten der künstlerische Leiter, Peter Froundjian– siehe unser Interview – und die Stiftung Nordfriesland: Saskia Giorgini, Daniel Grimwood, Roland Pöntinen, Herbert Schuch, Aline Piboule, Mark Viner, Illia Ovcharenko und Chiyan Wong. Zusätzlich zur angeschlossenen diesjährigen Ausstellung – „Ronald Stevenson (1928–2015): Der schottische Franz Liszt“ – gab es, wie immer, am 17. 8. eine Matinee: Kenneth Hamilton gedachte in seinem Gesprächskonzert des 10. Todestages seines ehemaligen Lehrers. Hier der erste Teil des Berichts unseres Rezensenten Martin Blaumeiser:

Der Rezensent besuchte zum ersten Mal das Husumer Festival, und generell muss man die für derartige Klaviervorträge wirklich optimale Atmosphäre und Akustik des schönen Rittersaals samt immer glänzend eingerichtetem Steinway-D Flügel loben, besucht von einem höchst aufmerksamen, fachkundigen und dankbaren Publikum, das anscheinend keine Huster kennt.

Saskia Giorgini / © Nicolai Froundjian

Die Konzertreihe eröffnete am Samstag, 16. 8., die italienische Pianistin Saskia Giorgini, die bei Leonid Margarius, Enrico Pace und Pavel Gililov studiert und u. a. 2016 den Internationalen Mozart-Wettbewerb in Salzburg gewonnen hat. Ihre letzten beiden CDs mit Klavierwerken Franz Liszts erhielten je einen Diapason d’Or, und der erste Teil ihres Programms widmete sich ausschließlich einer Reihe von natürlich eher selten zu hörenden Werken der späten Reifezeit des Komponisten, namentlich aus den Jahren 1865 bis 1885. Noch am bekanntesten davon dürfte das 6. Stück aus den Années de pelerinage (Troisième année) sein: Wie in ihrer gesamten Darbietung glänzte Giorgini in Sunt lacrimae rerum mit einer geradezu perfekten Balance zwischen Haupt- und Nebenstimmen sowie großartigem dramaturgischen Überblick über die zumeist von tiefem Ernst, Trauer und Melancholie oder gar Selbstzweifel getragene Musik. Ebenso lobenswert erschien ihre sehr geschickte Pedalisierungskunst, gerade auch bei rezitativischen Stellen: eine vollkommene Illusion von Legato-Kantabilität. Liszt verzichtet in den hier dargebotenen Stücken trotz des erwartbar hohen technischen Anspruchs – abgesehen vom bewusst einfach gesetzten Kleinen Klavierstück As-Dur aus S.192 – komplett auf äußerliche Virtuosität, selbst bei der 3. Trauerode „Le triomphe funèbre de Tasse“ über Material aus seiner symphonischen Dichtung Tasso. Umso mehr freute man sich über klar vermittelte Emotionen.

Der Rest von Giorginis Vortrag beschäftigte sich – Liszts 5 Ungarische Volkslieder eingeschlossen– mit kunstvollen Bearbeitungen zumeist folkloristischer Gesänge, im zweiten Teil von Amy Beach und Percy Grainger. Beachs Zyklus von vier Inuit-Gesängen, Eskimos op. 64, darf als Rarität gelten; ihre westliche Harmonisierung würde man heute wohl als „kulturelle Aneignung“ brandmarken. Giorgini spürte hierbei, wie auch im folgenden Omaha Tribal Dance (aus op. 83) jedoch ganz dem Gehalt der Melodien nach, arbeitete deren unterschiedliche Charaktere und unverstellte, schlichte Schönheit heraus. A Hermit Trush at Eve op. 92,1 mit seinem das Gefühl von Freiheit verströmendem Drosselgesang in der rechten Hand wurde zu einem der Höhepunkte des Abends. Aus der sehr detaillierten Notation Graingers – insbesondere im Lullaby (aus Tribute to Foster“) mit fein ziselierten „Glasharmonikaklängen“ als Begleitung, wo die beiden Hände teils asynchron, aber eben gleichzeitig beschleunigen und abbremsen – zauberte Giorgini ein wohliges Klangbad, vermied aber die ebenfalls vom Komponisten angestrebten extremen Dynamikunterschiede.

Geniale Volksliedbearbeitungen und intelligente Opernparaphrasen nahmen im bedeutenden Klavierwerk des Schotten Ronald Stevenson (1928–2015) einen breiten Raum ein und setzten so bis ins 21. Jahrhundert die Transkriptionskunst Liszts fort. Für die diesjährige kleine Ausstellung „Der schottische Franz Liszt“ hatte Prof. Monika Hennemann (Cardiff) u. a. von Stevensons Witwe einige ganz besondere Leihgaben erhalten, und Kenneth Hamilton trug in seiner Matinee am 17. 8. nicht nur – zweisprachig – einige recht humorvolle Anekdoten vor, sondern selbstredend typische Kostproben aus Stevensons vielschichtigem Schaffen. Hamilton demonstrierte etwa die Verwendung von Obertoneffekten in den Three Scottish Ballads und dem Heroic Song for Hugh MacDiarmid sowie eine der Referenzen Stevensons an Henry Purcell (Little Jazz Variations on Purcell’s „New Scotch Tune“). Wirklich begeistert aufgenommen wurden dann zwei pianistische Schwergewichte: Die zum 100. Todesjahr Liszts entstandene Symphonic Elegy – mit zahlreichen Allusionen auf Liszt, Chopin usw. – sowie das auf einer pentatonischen keltischen Melodie aufbauende Stück Beltan Bonfire mit vielfältigen Bezügen, darunter einer feinen Anspielung auf die Feuer-/Wasserprobe aus der Zauberflöte. Insgesamt geriet Hamiltons kräftig entschiedener Vortrag etwas zu sehr in den Forte-Bereich; und waren die Stevenson-Bearbeitungen von Novellos „We’ll Gather Lilacs“ und Richard Taubers Erfolgsschnulze „My Heart and I“ eigentlich bereits programmierte, hinreißend effektvolle Zugaben, enttäuschte der Pianist mit Busonis Bearbeitung von Chopins As-Dur-Polonaise: viel zu schnell, nervös und die Absichten Busonis fast schon bösartig entstellend – völlig unnötig.

Daniel Grimwood / © Thomas Lorenzen

Im Konzert des Briten Daniel Grimwood am Sonntagabend erklang zunächst ein recht einfältiges, ganz in der Tradition der Wiener Klassik stehendes Rondo der aus dem heutigen Bad Tölz stammenden Komponistin Josepha von Fladt (geb. Kanzler, 1778–1843), die – zusammen mit C. M. von Weber und Meyerbeer – noch beim berühmten Abbé Georg Joseph Vogler ausgebildet worden war. Dies war wohl als Einstimmung auf die folgenden Kompositionen ihres berühmtesten Schülers, Adolph Henselt (1814–1889), gedacht: Nach dessen ersten kompositorischen Gehversuchen bei Fladt führte der Weg des hochbegabten Pianisten über Studien bei Johann Nepomuk Hummel (Weimar) und Sigismund Thalberg (Wien) 1838 bis zur Position des Hofpianisten beim russischen Zaren. Henselts Klavierkonzert galt bis um 1910 als wegweisender Gattungsbeitrag. Schon bei den drei Beispielen seiner gefälligen Salonmusik überzeugte Grimwood mit einem enormen, immer zielführend eingesetzten Dynamikumfang und einer auffallend individuellen, dabei schlüssig die harmonischen Verläufe unterstützenden Agogik, noch mehr bei Henselts Deux Romances, zwei in jeder Hinsicht fein gearbeiteten Transkriptionen von Liedern des damals in Russland beliebten Grafen Michail Wielhorsky.

Nach dem kurzen Dreaming op. 15,3 von Amy Beach dann eine echte Entdeckung: die noch völlig unbekannte Klaviermusik von Carl Baermann junior (1839–1913), einem Sohn des gleichnamigen berühmten Münchner Klarinettisten, dem u. a. Mendelssohn Konzertstücke für Klarinette & Bassetthorn gewidmet hatte. Carl jr. wirkte erfolgreich im Liszt-Umfeld und ging 1881 nach Boston, war dort etwa ein Lehrer von Amy Beach. Grimwoods Darbietung von fünf seiner 12 Etüden op. 4 (1877) – musikalisch hochwertig und technisch auf einem Niveau zwischen Chopin und Rachmaninow angesiedelt – hinterließ bereits größeres Erstaunen. Die späte, auch formal recht komplexe Polonaise pathétique (1913) erwies sich gar als, freilich rückwärtsgewandtes, Meisterwerk; mit geschicktem, anspruchsvollem Klaviersatz und dramatischer Emotionalität, deren weitgespannten Entwicklungsprozess der Brite mit großer Übersicht absolut faszinierend nachzeichnete.

Vom Dirigenten und Pianisten Eduard Schütt (1856–1933) kennt man allenfalls einige Paraphrasen von Walzern Johann Strauß‘. Im dreisätzigen, empfindungsreichen Au bal op. 75 (ca. 1905) begegnet der Komponist der gesellschaftlichen Institution des Tanzsaals schon fast wie einem Relikt einer untergehenden Epoche. Charles-Marie Widor (1844–1937) beschränkte sich keineswegs nur auf Orgelwerke, sondern schrieb Musik aller Gattungen. Sein Carnaval op. 61 ist ein umfangreicher (65 Partiturseiten!) 12-teiliger Klavierzyklus von Charakterstücken, thematisch jedoch nicht so geschlossen wie Schumanns gleichnamiges Opus. So könnte man aus diesem Werk fraglos Nummern einzeln aufführen. Technisch schwierig, auch weil pianistisch ungeschickter als etwa Liszt oder gar Godowsky, sind die mittleren Sätze 4-10 quasi in Tanzformen gegossene Nationalporträts, leider eher stereotyp und allesamt zu lang geraten; Grimwood erlaubte sich hier zwei, drei kleine Kürzungen. Bei den äußeren Stücken – von eigenwilligem, bisweilen bizarrem Charme, zudem klanglich beeindruckend – gelang dem Pianisten, den Funken aufrichtig überspringen zu lassen: mehr als nur anerkennender Applaus für einen wahren Kraftakt. Obwohl Liszts Transkription von Isoldes Liebestod in seiner orchestralen Wirkung nach wie vor stärker sein mag, gelang es Grimwood mit seiner Zugabe der Wagner-Bearbeitung von Moritz Moszkowski, deren Qualitäten – sie ist pianistisch deutlich virtuoser und strukturell enorm klar – optimal herauszuarbeiten: ein bemerkenswerter Abend.

(Zur Fortsetzung siehe hier!)

[Martin Blaumeiser, 19. August 2025]

Richard-Strauss-Tage 2025 [2]: Symphonische Italienreisen von Mendelssohn und Strauss

Wie der Strauss-Wolf-Liederabend (siehe den ersten Teil dieses Beitrags) nach Italien führte, so stand auch das zweite Symphoniekonzert der Richard-Strauss-Tage 2025 im Zeichen des Landes, „wo die Zitronen blühn“. Unter der Leitung von Rémy Ballot spielte das Münchner Rundfunkorchester die Italienische Symphonie op. 90 von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Symphonische Fantasie Aus Italien op. 16 von Richard Strauss. Dazwischen waren fünf Orchesterlieder von Strauss zu hören, gesungen von der Sopranistin Joo-Anne Bitter.

Italien, das Sehnsuchtsland der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, hat so manchen ausländischen Komponisten dazu angeregt, ihm musikalisch Tribut zu erstatten. Mendelssohns Italienische Symphonie, 1831 bis 1833 während und nach seiner großen Italienreise komponiert, kann als das erste große symphonische Werk eines Nicht-Italieners der romantischen Epoche gelten, welches den Geist und die Atmosphäre Italiens in Tönen festzuhalten sucht. Unter den zahlreichen in den folgenden Jahrzehnten entstandenen orchestralen Italienhuldigungen finden sich Werke wie Hector Berlioz‘ Harold en Italie, Pjotr Tschaikowskijs Capriccio Italien, die Italienische Suite von Joachim Raff, die wunderbar atmosphärischen Impressions d’Italie von Gustave Charpentier und Edward Elgars groß angelegte Ouvertüre In the South (Alassio). Auch der zeitgleich mit Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen ansässige Franz Mikorey, dessen Kammermusik in den ersten Konzerten der diesjährigen Strauss-Tage zu hören war, findet sich mit einer Symphonie namens Adria in dieser Reihe. Richard Strauss selbst besuchte Italien erstmals 1886. Die lebhaften Eindrücke, die er Auf der Campagna, In Roms Ruinen, Am Strande von Sorrent und vom Neapolitanischen Volksleben empfing, lieferten ihm die Inspiration zu vier entsprechend betitelten symphonischen Sätzen, die er unter dem Titel Aus Italien zusammenfasste. Mit diesem Werk betrat Strauss zum ersten Mal das Gebiet orchestraler Programmmusik, ohne bereits eine Symphonische Dichtung im Sinne seiner späteren Werke vorzulegen. Als Gattungsbezeichnung für die gut dreiviertelstündige Komposition wählte er den Begriff „Symphonische Fantasie“.

Aus Italien lässt sich als das Übergangswerk schlechthin zwischen Straussens frühem Schaffen und seiner mit Macbeth und Don Juan einsetzenden Periode der symphonischen Hauptwerke bezeichnen. Wie in keinem anderen seiner Stücke aus dieser Zeit begegnen einander hier Altes und Neues. Die einstige Orientierung an Brahms wirkt besonders im zweiten Satz nach, der in Tempo und Rhythmik stark an den Kopfsatz der Brahmsschen Dritten Symphonie gemahnt. Dagegen steht eine große Zahl an Stellen, die spätere Strausssche Einfälle anklingen lassen. So erscheinen die Anfangstakte rückblickend wie eine Vorstudie zu den Eröffnungen von Macbeth und Also sprach Zarathustra. Auch taucht im Kopfsatz ein Begleitmotiv auf, das im Don Juan nahezu wörtlich als einer der Kontrastgedanken wiederkehrt. Im dritten Satz malt Strauss die Wellen vor Sorrent mit jenen chromatischen Terzenläufen, die ab nun eines seiner Markenzeichen werden. Allgemein behandelt Strauss das Orchester in Aus Italien mit einer Geschicklichkeit, die der Virtuosität späterer Jahre schon äußerst nahe kommt. Hinsichtlich der ersten Takte mit ihrer räumlichen Tiefe, und auch vieler weiterer Stellen der Partitur, kann man schon von einem typischen Strauss-Klang sprechen.

Was Aus Italien von den späteren Tondichtungen trennt, ist namentlich die Art und Weise der musikalischen Bewegung. In den beiden Allegro-Sätzen befindet sich Strauss diesbezüglich noch im Fahrwasser von Brahms und Berlioz. Die breite Grundströmung der Musikdramen Wagners, die ab dem Macbeth seine symphonischen Werke grundiert und ihnen zu ihrem charakteristischen langen Atem verhilft, hat hier noch nicht völlig von ihm Besitz ergriffen. Der Wille, aus dem gewohnten klassisch-frühromantischen Temporahmen auszubrechen, zeigt sich gerade im Finale sehr deutlich, doch bleibt es letztlich bei Ansätzen, sodass in diesem Satz Abschnitte unterschiedlicher stilistischer Prägung kurios nebeneinander stehen. Auch wenn man diesen Umstand durch das Programm des Satzes legitimieren kann – auf den Straßen Neapels mag es wohl zuweilen etwas konfus zugehen –, lässt sich kaum leugnen, dass die Stärken dieser Symphonischen Fantasie vor allem in den beiden langsamen Sätzen liegen. Nichtsdestoweniger muss man Rémy Ballot Recht geben, wenn er am Tag vor dem Konzert im Podiumsgespräch mit Dominik Šedivý, dem künstlerischen Leiter der Strauss-Tage, äußerte, Aus Italien sei gut genug, um die Erinnerung an Richard Strauss zu rechtfertigen, auch wenn er nach diesem Werk nichts mehr komponiert hätte. Und so freut man sich, diese selten gespielte Komposition einmal im Konzert zu hören – zumal in einer solch kultivierten Aufführung.

Ballots Herangehensweise an die Straussschen Orchesterwerke ist nicht pittoresk motiviert. „Wenn man bei Aus Italien zu sehr an Italien denkt“, so der Dirigent weiter im oben erwähnten Gespräch, „läuft man Gefahr, dass es nicht italienisch klingt!“ Ebenso verhalte es sich im Falle des Heldenlebens, das er letztes Jahr in Garmisch dirigierte: „Wenn man sich allzu sehr darauf versteift, es möglichst heroisch klingen zu lassen, wird man den vielen Teilen des 45-Minuten-Stücks nicht gerecht, die eben nicht heroisch klingen. Es ist eine Landschaft mit vielen verschiedenen Konturen.“ Ballot hält sich an die Vorgaben der Partitur, die er genauestens zu realisieren sucht. Er ist ein Dirigent, der die Noten liest – und sie nicht bloß buchstabiert. Er dirigiert musikalische Sinneinheiten, nicht beziehungslos aufeinander folgende Töne. Wenn er musikalische Werke mit Landschaften vergleicht, so muss man hinzufügen, dass die große Tugend dieses Musikers darin besteht, sich eine phänomenale – nämlich phänomenologische – Ortskenntnis innerhalb dieser Landschaften zu verschaffen. So überlässt man sich als Hörer gern diesem Cicerone, wenn es darum geht, Strauss auf seinen Gängen durch Roms Ruinen und Neapels Gassen zu folgen. Namentlich der Gefahr, dass es im zweiten Satz gar zu verwinkelt und schwerfällig zugeht, verstand Ballot erfolgreich entgegenzuwirken. Nominell ist In Roms Ruinen ein „Allegro molto con brio“, allerdings vermittelt der Satz nicht den Eindruck einer besonders hohen Geschwindigkeit. Strauss dürfte diese Bezeichnung wohl vor allem gewählt haben, um einem zu breiten und spannungslosen Vortrag entgegenzuwirken. Ballot, unter dessen Leitung das ganze Werk ziemlich genau die in der Partitur vermerkten 47 Minuten dauerte, versuchte nicht, aus dem Stück krampfhaft das Presto zu machen, das es nicht ist. Er scheuchte das Orchester nicht hindurch, sondern hielt es durch Liebe zum Detail dazu an, die Musik zu beleben. Besonders konnte man sich über jedes neue Erklingen des Hauptthemas freuen, in dem der Kontrast zwischen der 6/4- und der 3/2-Betonung durch spannungsvollen Vortrag der Überbindung in der Mitte des ersten Taktes trefflich herausgearbeitet wurde.

Ballot hatte sich bereits vor zwei Jahren in Garmisch mit der Schottischen Symphonie als vorzüglicher Mendelssohn-Dirigent empfohlen, mit der Italienischen bestätigte er den damaligen Eindruck aufs neue. In Mendelssohns weitgespannter, sanglicher Melodik fühlt er sich offensichtlich ebenso wohl wie in dessen immer elegant und virtuos gesetztem Kontrapunkt. Die Fähigkeit des Dirigenten, in parallel ablaufenden melodischen Schichten zu denken – was seinen Strauss so fasslich und fesselnd macht –, bewährt sich hier aufs Schönste, nicht zuletzt an den Knotenpunkten der musikalischen Entwicklung, den Kadenzen, die er stets in der belebenden Schwebe zwischen Zielpunkt und Atemschöpfen vor dem Weiterschreiten hält.

Zwischen den beiden italienischen Symphonien standen fünf Strausssche Orchesterlieder: Ich liebe dich, Meinem Kinde und Mein Auge op. 37/2–4, Winterweihe op. 48/4 und Morgen op. 27/4. Dem Münchner Rundfunkorchester gesellte sich hier die Sopranistin Joo-Anne Bitter hinzu, was man durchaus einen Glücksfall nennen kann. Sie agierte nicht als dominante Solistin, sondern als gleichrangige Partnerin des Orchesters, strebte weniger danach möglichst die Instrumente zu überstrahlen, denn als führende Stimme aus ihrer Menge hervorzuleuchten. Damit fügte sie sich in Ballots Arbeitsweise gut ein, der danach trachtete, möglichst jede Schicht des klanglichen Gefüges zu ihrem Recht kommen zu lassen. Man hatte also im Grunde Kammermusik für Gesang und Orchester vor sich. Besonders gut tat diese Art der Darbietung dem Morgen, einem Lied, das von seinen Interpreten oft genug zur Schnulze degradiert worden ist. Hier hörte man es als ein schlichtes, anmutiges Stück, völlig unprätentiös und ohne falsche Exaltiertheit. Bei der Textdeutlichkeit der Sängerin, den sich ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge bewussten Orchestermusikern, der vokal und instrumental auf die Kadenzen hin entwickelten Melodik war gar kein Boden gegeben, auf dem Kitsch hätte entstehen können. So sollte es immer sein!

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Robin Hood bei den Zisterziensern: Innsbrucks geheimer GMD mit historisch signifikanten Premièren

Das Orchester der Akademie St. Blasius spielte unter der Leitung von Karlheinz Siessl im Zisterzienserstift Stams die Uraufführung von Elias Praxmarers Orgelkonzert Die Heilige Stadt (Solist: der Komponist) sowie die Tiroler Erstaufführungen der Musik für Orchester von Rudi Stephan und der Symphonie Nr. 2 von Alfredo Casella.

In Deutschland wüsste ich derzeit keinen Dirigenten, der sich unter derart unwägbaren finanziellen Bedingungen und entsprechend knapp bemessenen Einstudierungszeiten das traut, was Karlheinz Siessl mit seinem freiberuflichen Orchester der Akademie St. Blasius in Innsbruck nun schon seit weit mehr als einem Jahrzehnt unbeirrbar verfolgt. Ich habe Siessls Wirken kennengelernt, als er – auf Initiative von Peter Kislinger und in Anwesenheit des Komponisten – die musikalisch hoch anspruchsvolle Sinfonia per archi von Anders Eliasson zur mitteleuropäischen Erstaufführung brachte. Seither bewundere ich die unersättliche Erkundungslust, getragen von solidem Kapellmeisterhandwerk und immer offenen Ohren für alle historischen und aktuellen Phänomene des Dirigierens, mit welcher Siessl regelmäßig Unbekanntes, Vergessenes und vor allem sehr viel ganz Neues ganz ohne ideologische Scheuklappen einem treuen und mittlerweile längst auch genau das von ihm erwartenden Publikum in der tirolischen Landeshauptstadt und im Tiroler Umland präsentiert, darunter bereits drei der vertrackten Solokonzerte des herausragenden lebenden finnischen Komponisten Kalevi Aho und die stets eigentümliche und urwüchsig querständige Musik seines Landsmanns Michael F. P. Huber. Mit Karlheinz Siessl hat Innsbruck seinen essenziellen Pfeiler wider das träge musikalische Establishment, und nicht ohne Grund genießt er unter seinen Orchestermusikern und weiteren Anhängern eine Art Heldenstatus, so als eine Art Robin Hood der Komponisten.

Diesmal lud die Akademie St.Blasius zum Festkonzert am 19. Juli in die prachtvoll renovierte Basilica minor im Zisterzienserstift Stams im Oberinntal. Trotz oder wegen des widrigen Wetters war das Publikum zahlreich erschienen, und nach knapp zwei Stunden Musik ohne Pause herrschte spürbar eine allgemeine Atmosphäre des ehrfürchtigen Staunens und heiterer Erfülltheit.

Zu Beginn erklang als Uraufführungsheimspiel ein Concertino für Orgel und Streicher von Elias Praxmarer, dem Stiftsorganisten von Stams, das Die Heilige Stadt in der Johannes-Offenbarung in Tönen zu malen beabsichtigte. Ein orthodox dreisätzig gegliedertes Werk im Windschatten des offenkundig verehrten Olivier Messiaen, eine ganz unverhohlene Huldigung an den französischen Kultkomponisten einer Majorität heutiger Organisten. Um ungestört Synchronisation zu erreichen, befand sich das Streichorchester mit Dirigent oben bei der Orgel, außerhalb des Sichtbereichs des Publikums, das dem Solisten auf einem großen Bildschirm auf die Finger schauen, Kontrabässe besichtigen und gelegentlich von der Seite einen Blick auf die Gestik des Dirigenten erhaschen durfte.

Dann kamen die Musiker nach unten, und das eigentliche Konzert begann. Siessl hatte es gewagt, zwei herausfordernde Werke für großes Orchester aufs Programm zu setzen, die leider fast nie zu hören sind und innerhalb von fünf Jahren entstanden. Dies war für einige Zuhörer Grund genug, hunderte Kilometer weit nach Stams zu pilgern.

Zunächst erklang als äußerst überfällige Tiroler Première das orchestrale Hauptwerk von Rudi Stephan (1887–1915), dem viel zu jung an der galizischen Ostfront gefallenen Wormser Meister, der seinerzeit als die „große Hoffnung der deutschen Musik“ betrauert wurde. Seine Musik für Orchester (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, weit umfangreicheren ersten Musik für Orchester, aus der dieses endgültige Werk hervorging) ist 1912 entstanden und bildet einen absoluten Gipfelpunkt des frühen Expressionismus. Es muss nicht gesagt werden, dass Stephan als 25jähriger bereits sein Handwerk vollendet beherrschte und zu einer unverkennbar eigenen Tonsprache gefunden hatte; dass die einsätzig kompakte Komposition zwei extrem kontrastierende Welten – die eine schicksalhaft dunkel lastend und sehr breit, die andere dramatisch gezackt, auffahrend und sehr rasch – in immer wieder übergangslos aneinandergeschnittenem Wechsel gegeneinander agieren lässt, bis eine Art lakonische Euphorie dem wild sich aufbäumenden Geschehen ein rasches Ende bereitet. Die Aufführung bestach mit identifikatorischer Kraft und dem Willen zu sachlich gebändigter Expressivität. Lediglich bezüglich der Temporelationen gab es einige pragmatisch nachvollziehbare, jedoch rein musikalisch einigermaßen willkürliche Entscheidungen des Dirigenten.

Dies gilt auch für das abschließende Werk, fiel hier, in den weiten Gefilden der ausufernden Form, jedoch naturgemäß nicht so offenkundig ins Gewicht. Alfredo Casellas 1908–09 in Paris entstandene und unumwunden Gustav Mahler huldigende Zweite Symphonie, ein recht gigantisch dimensioniertes Opus ultimum eines 25jährigen, der bereits die Kunst der Orchestration in einer schwindelerregenden Vollendung beherrschte, die seine russischen Vorbilder gerne vergessen lässt, führt uns in vier Sätzen ein bombastisch imponierendes Panorama der Ausdrucksvielfalt und ins Extrem gesteigerten Klangpracht des großen Orchesterapparats vor. Zum Schluss tritt schließlich auch noch die große Orgel hinzu und verwandelt, zusammen mit vor allem dem massiven Blech und dem luxuriös betrauten Schlagzeug, den hohen Raum in ein panharmonisch tosendes Universum. Man muss nun hervorheben, dass für die Aufführenden vor den Kirchenbänken eigentlich viel zu wenig Platz ist; dass deshalb das Orchester maximal in die ersatzweise verfügbare Breite gezerrt werden musste, dass es dadurch sehr schwierig war, Holzbläser und Blechbläser, die sich gegenseitig niemals rechtzeitig hätten hören können, in Abstimmung zu halten (das einzige, was hier zusammenhält, ist die glücklicherweise sehr ökonomische und entschiedene Zeichengebung Siessls, der man anmerkt, dass er mit seiner stürmischen Truppe schon so manches Wagnis bestanden hat); dass die Raumakustik ab einer bestimmten Massierung der Klanggewalten keine Transparenz mehr ermöglicht und auch der überschattende Nachhalleffekt nicht gering ist; dass angesichts der großen Bläserbesetzung – aus Kosten- und Raumgründen – eigentlich viel zu wenige Streichinstrumente mitwirkten, die überdies in der heute in Mode gekommenen Aufstellung mit auf rechts und links verteilten ersten und zweiten Geigen die Struktur eher zerstreuend abbilden; dass also die Bedingungen für eine erfolgreiche Aufführungen äußerst riskant und schwierig waren. All dessen eingedenk, ist Siessl und seinem Orchester ein exzellentes Gelingen einer heroischen Tat zu bescheinigen, und man darf annehmen, dass fast alle Anwesenden sehr berührt von dem gewaltigen Werk waren und sich über eine baldige Wiederbegegnung mit demselben freuen würden – obwohl Casella auch in diesem Werk, einem seiner besten und substanziellsten, nicht durchgehend edelste Erfindung und geistige Tiefe offenbart, jedoch stets hypnotische Klangwirkungen und zündendes Musikantentum, zugleich auch klar orientierende Formgebung mit unmissverständlicher Dramaturgie des großen Aufbaus. Es spricht also überhaupt nichts dagegen, dass sich in Österreich – oder überhaupt im deutschsprachigen Raum und natürlich auch in Italien und Frankreich – bald Nachahmer finden, gerne auch im Bereich der sogenannten Toporchester, die sich auf dieses monumentale Spektakel einlassen. Ganz besonders gelungen sind das Scherzo und der langsame Satz, doch auch der Kopfsatz ist mit vollendetem Aufbau und glänzender Erfindung gesegnet, und lediglich im Finale mag sich die Frage stellen, die ja auch Mahler regelmäßig zu stellen ist: Hält es letzten Endes wirklich zusammen? Um diese zu beantworten, wären weitere Aufführungen nach dieser so verdienstvollen späten österreichischen Erstaufführung die besten Gelegenheiten. Fürs Orchester und für die Zuhörer ist es jedenfalls ganz besonders dankbare Musik, die mit Ovationen gefeiert wurde. Und Innsbruck darf dann irgendwann getrost Karlheinz Siessl ein Denkmal errichten, tut er doch mehr für die Sache der Musik und dies nachhaltiger als jeder Generalmusikdirektor und andere offiziell bestallte Würdenträger von Land und Landeshauptstadt. Mut und Interesse an der Musik hat er ohnehin mehr als alle anderen.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Große Welt im kleinen Dorf: Das Quatuor Arod mit Attahirs „Al Asr“ in Feldafing

Was soll man dazu sagen? Die kulturelle Asymmetrie ist frappierend: Wo die Geldbeutel noch einigermaßen voll sind (soweit das bei den heutigen Zuständen noch zutrifft), wird entweder eingehegt lobbyistisch organisierte Nischenkultur gepflegt (musica viva usw.) oder überwiegend ein vermeintlicher Mehrheitsgeschmack mit PR-gestütztem Mainstream versorgt.

Feldafing ist ein kleines, äußerst beschauliches Dorf – mit einer Anmutung wie ein Städtchen von langer Tradition – am Starnberger See. Seit vielen Jahren finden dort im Juli die Musiktage Feldafing statt, derzeit unter der künstlerischen Leitung der Geigerin Franziska Hölscher und des mittlerweile weltbekannten Pianisten Kit Armstrong. Für das diesjährige Eröffnungskonzert haben sie sich mit dem französischen Quatuor Arod das überragende Streichquartett unserer Zeit an die Seite geholt, mit einem rein französischen Programm. Das Quatuor Arod hat zuletzt mit einem phänomenalen Album der Quartette von Debussy und Ravel sowie des Quartetts Al Asr von Benjamin Attahir (erschienen bei Erato/Warner Classics) die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nie zuvor habe ich beispielsweise die Mittelsätze von Ravel und Debussy so großartig musiziert gehört (eine unbedingte Empfehlung für jeden Interessierten!).

Diesmal brachten sie das Quartett von Attahir mit. Davor spielten Franziska Hölscher, Cellist Jérémy Garbarg und Kit Armstrong als Continuo das erste Concert Royal von François Couperin – eine elegante, freundlich kurzweilige Eröffnung. Dann Attahir: keine Beschreibung wird hinreichen, um die Größe und Intensität dieser Musik zu charakterisieren. Unverkennbar ein Werk des neuen Jahrtausends, ist es – zumindest in der unüberfrefflichen Aufführung des Quatuor Arod – von absolut bezwingendem Zusammenhang in einem einzigen großen, die stark kontrastierenden Abschnitte überspannenden Bogen. Schon früh wird jenes markante Motiv eingeführt, welches dann die gewaltige Schlussfuge bestimmt. Seit dem späten Beethoven hat niemand eine so revolutionäre, unaufhaltsam über Stock und Stein jagende Fuge geschrieben, die zugleich absolut frei und trotzdem eine wirkliche Fuge ist.

Diese Musik ist nicht nur von physisch spürbarer Sprengkraft, extremer Spannung und Dichte, sondern auch ein fortwährend unvorhersehbares Abenteuer, dabei aber unbeirrbar zusammenhängend geformt. Im weitesten Sinne ist sie ‚freitonal‘, das heißt stets im Spannungsbezug erlebbar um harmonische Zentren herum aufgebaut und sich kontinuierlich entwickelnd; in konventionellem Kritikersprech freilich würde dies als ‚atonal‘ bezeichnet, was nur der Beweis wäre, dass man das Wesentliche nicht hört. Ich kenne jedenfalls keinen Komponisten der jüngeren Generationen heute, der auch nur entfernt die Größe erreicht, die für Benjamin Attahir den Ausgangspunkt seines Schaffens bildet, in welchem (wohl auch, obwohl in Toulouse geboren, auf seine marokkanisch-libanesische Herkunft zurückweisend) Einflüsse arabischer Musik erkennbar sind, jedoch niemals klischeehaft oder einengend. Ein Genie, mit einem Wort, und auf Augenhöhe serviert. Man muss sich denn auch nicht wundern, dass das gänzlich ‚undressierte‘, unvoreingenommene Publikum mit überbordender Begeisterung reagierte.

Danach spielte das Quartett zusammen mit Kit Armstrong das recht selten im Konzert zu hörende, wunderbare 1. Klavierquintett von Gabriel Fauré, ein sowohl abgeklärtes als auch leidenschaftliches Spätwerk. Die eigentlich makellose Aufführung litt lediglich unter den deutlich zu raschen Tempi, die der Pianist in allen drei Sätzen anschlug und durchzog. Diese Entscheidung liegt bei solch spontaner Zusammenkunft klar bei ihm, und er spielte mit edler Klangkultur und klarer Struktur, wie gewünscht ‚harfengleich‘, und mit durch nichts ablenkbarem Fokus.

Dann folgte das 1890-91 entstandene Concert für Violine, Klavier und Streichquartett von Ernest Chausson, das große Meisterwerk seiner wenig Konkurrenz bietenden Gattung – eine Musik von so überbordend ekstatischer Leidenschaftlichkeit in vier glanzvollen, auch dem Tragischen und Melancholischen und sowieso dem Stürmischen immensen Raum gebenden Sätzen, dass mir als beste Kurzcharakterisierung erscheint: Sie ist das historische Bindeglied zwischen Wagners Tristan und Scriabins Poème de l’extase, ein Stück Bekenntnismusik ohnegleichen, nicht nur in der französischen Literatur ohne Pendant. Wie schade, dass Chausson 1899 mit gerade einmal 44 Jahren einem Unfall zum Opfer fiel!

In diesem hochkarätigen Monumentalwerk, das auch klanglich die Besetzung maximal ausschöpft, durften alle Beteiligten glänzen und sich ihres Musikerschicksals erfreuen. Und welch ein Luxus es ist, als Solisten von einem solchen Streichquartett sekundiert zu werden, kann sich jeder denken.

Wunderschön dann die Zugabe: Faurés früher, in seiner gemütvollen Versonnenheit erstaunlich Brahms-naher Cantique de Jean Racine, das Gesangsquartett schlicht aufs Streichquartett übertragen und getragen von Kit Armstrongs Klaviergewebe – hier auch tempomäßig ideal. Ein sensationelles Konzert hinsichtlich Programm und Ausführung, für dessen Abwesenheit sich die ‚Weltstadt‘ München schämen und auf dessen Ausrichtung das kleine Feldafing stolz sein darf, zumal die kleine, wunderschöne Alte Pfarrkirche St. Peter und Paul ein idealer akustischer und optischer Rahmen ist.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Richard-Strauss-Tage 2025 [1]: Bläsermusik und Liebeslieder

Wie in den vergangenen Jahren boten die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen auch 2025 ein Programm, das man ob seiner Reichhaltigkeit nur loben kann. Verschiedene Schwerpunkte ließen sich erkennen. So fiel auf, dass der Großteil der dargebotenen Werke von Richard Strauss entweder seiner frühesten oder seiner spätesten Schaffensperiode angehörte. Bläsermusik war auffallend präsent, wobei die beiden Sonatinen für 16 Bläser, die Strauss in den 1940er Jahren komponierte (und die ihrem Diminutivtitel zum Trotz ziemlich umfangreiche Werke sind), in einen größeren musikgeschichtlichen Kontext gestellt wurden. Das zweite Symphoniekonzert stand ganz im Zeichen Italiens, dem auch in einem Liederabend und einer musikalischen Lesung ausgiebig gehuldigt wurde. Außerdem wurden in zwei Kammerkonzerten Werke des Komponisten Franz Mikorey (1873–1947) zu neuem Leben erweckt, der zur gleichen Zeit wie Strauss in Garmisch-Partenkirchen wohnte. Der Verfasser dieser Zeilen hätte gern diesen beiden Konzerten, wie auch anderen Veranstaltungen in der ersten Hälfte des einwöchigen Musikfestes, beigewohnt, musste sich aus terminlichen Gründen aber auf die folgenden Konzerte vom 26. bis 28. Juni beschränken:

26. Juni: Kammerkonzert III (Werke von Richard Strauss und Richard Wagner), Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr, Major Rudolf Piehlmayer

27. Juni: Liederabend (Werke von Richard Strauss und Hugo Wolf), Chelsea Zurflüh (Sopran), Gerrit Illenberger (Bariton), Gerold Huber (Klavier)

28. Juni: Sinfoniekonzert II (Werke von Richard Strauss und Felix Mendelssohn Bartholdy), Joo-Anne Bitter (Sopran), Münchner Rundfunkorchester, Rémy Ballot

Der Auftritt des Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr war als „Kammerkonzert“ ausgewiesen, da als Hauptwerk des Abends Straussens Bläsersonatine Nr. 2, die Fröhliche Werkstatt, fungierte. Auch der anschließende Feierliche Einzug der Ritter des Johanniter-Ordens ist nicht für volles Blasorchester, sondern nur für Blechbläser und Pauken geschrieben. Bei den übrigen Stücken jedoch war das Musikkorps in seiner vollen Besetzung zu hören. Zu Beginn erklang der Festmarsch C-Dur, den Strauss 1888 für das Münchner Orchester Wilde Gungl komponierte, in einer Bearbeitung von Gottfried Veit. Am Ende des Programms standen der Einzug der Gäste aus Richard Wagners Tannhäuser, bearbeitet von Stephan Ametsbichler, und Gestatten Strauss, ein Werk des Garmisch-Partenkirchener Komponisten Friedrich Szepansky. Man fragt sich, was Richard Strauss, der bekanntlich ein Gegner von Potpourri-Arrangements war, zu letzterem Stück gesagt hätte. Es handelt sich nämlich um ein Potpourri, das sich aus Auszügen verschiedener Straussscher Kompositionen zusammensetzt, wobei der Bearbeiter eine Meisterschaft besonderer Art an den Tag legte: Szepansky hat keinen Takt eigener Musik hinzugefügt, sondern die Strauss-Exzerpte so ausgewählt, dass keines mit dem anderen in Konflikt gerät – angesichts des weiten Atems, der die originalen Kompositionen prägt, kein leichtes Unterfangen. Das Potpourri hebt an mit der Einleitung aus Also sprach Zarathustra, führt dann mittels des „Anstiegs“ aus der Alpensinfonie zum Hauptthema des Don Juan, dem sich (stark gekürzt) weitere Abschnitte des gleichen Werkes anschließen, und mündet in den Marsch aus Schlagobers, dessen klopfende Anfangstakte direkt aus den Schlusstakten des Don Juan hervorgehen.

Die Wiedergabe der Werke rief mir die Erinnerung an Berichte aus dem 19. Jahrhundert wach, als die Dirigenten der städtischen Musikvereine häufig die örtlichen Militärkapellen zu Konzerten heranzogen, weil man von diesen Ensembles überdurchschnittliche Leistungen erwarten konnte. Das Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr zeigte, dass Erwartungen dieser Art auch heute ihre Berechtigung haben. Mit Major Rudolf Piehlmayer verfügt es über einen feinsinnigen Dirigenten, der sich in den individuellen Charakter der jeweiligen Werke einzufühlen weiß, sodass bei einem vielseitigen Programm, wie es an diesem Abend geboten wurde, Abwechslung garantiert ist. Die anmutigen, oft verwinkelten polyphonen Spiele der Fröhlichen Werkstatt waren bei ihm in ebenso guten Händen wie die monumentale Schlichtheit des sich in weiten Bögen entfaltenden Johanniter-Einzugs. Er scheute sich durchaus nicht, seinen Musikern in der sehr effektvoll mit auf der Empore aufgestellten Fernfanfaren dargebotenen Tannhäuser-Festmusik eine gewisse Schmissigkeit zu entlocken, doch vermied er sorgsam jeden Eindruck undifferenzierten Lärmens. Die Disziplin des Orchesters, das zum größten Teil aus Militärangehörigen, aber auch einer Anzahl Zivilisten besteht, wurde gleich im eröffnenden Straussschen Festmarsch deutlich, der dynamisch fein abgestuft dargeboten wurde. Erst in den letzten Takten, wo es sehr wohl am Platze war, gestatte man sich als markante Schlussgeste ein donnerndes „Tschingbumm“. Nachdem mit den Schlagobers-Klängen das offizielle Programm zu Ende war, boten die Musiker als Zugabe eines ihrer Paradestücke, den Kaisermarsch. Als das Trio erreicht war, drehte sich der Dirigent zum Publikum, dirigierte mit über dem Kopf gehaltenen Taktstock weiter und sang gemeinsam mit der Mehrzahl des Orchesters, nur noch vom tiefen Blech begleitet, die Liedmelodie, wodurch deutlich wurde, dass das Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr auch als Chor zu überzeugen versteht.

Am Tag darauf gaben die Sopranistin Chelsea Zurflüh und der Bariton Gerrit Illenberger gemeinsam mit dem Pianisten Gerold Huber einen Strauss-Wolf-Liederabend. Dichterisch zusammengehalten wurde das Programm durch das Thema der Liebe, das sich durch sämtliche vorgetragene Gesänge zog. Die Lieder waren dabei geschickt angeordnet: Traten die Gesangsolisten in den 13 Strauss-Liedern der ersten Programmhälfte noch als gewöhnliche Vortragende getrennt voneinander auf, standen sie in der zweiten Hälfte gemeinsam auf der Bühne, um durch abwechselnden Vortrag von 18 Liedern aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch in die Rollen eines Liebespaares zu schlüpfen. Der Strauss- und der Wolf-Teil waren also wie Vorspiel und Haupthandlung aufeinander bezogen. In den Strauss-Liedern stellten sich Chelsea Zurflüh und Gerrit Illenberger jeweils mit einem Block von mehreren Gesängen vor. Illenberger – ein Sänger mit einer ebenmäßig ausgebildeten Stimme, die auch in höheren Lagen ihre baritonale Färbung nicht einbüßt – wirkte dabei zunächst präsenter, weil ihm mit Liedern wie Ich trage meine Minne op. 32/1 und Ach weh, mir unglücklichem Mann op. 21/4 schlicht die zugkräftigeren Stücke zugeteilt waren, die die für Straussens Verhältnisse auffallend dezenten Mädchenblumen op. 22, mit denen Zurflüh den Abend eröffnet hatte, in den Schatten stellten. Im Gesamtzusammenhang jedoch erschien dieser Beginn letztlich sinnvoll, als sanfte Vorbereitung zu den viel leidenschaftlicheren, hocherotischen Brentano-Liedern aus op. 68, die die Sopranistin am Ende des ersten Teiles sang. Mit hörbarer Freude stürzte sie sich in die Koloraturen des abschließenden Amor und verlieh dem Lied einen sirenenhaft lockenden Tonfall.

Hatte sich bereits im ersten Teil sowohl bei Zurflüh, als auch bei Illenberger eine deutliche Begabung zur Textausdeutung namentlich dort gezeigt, wo sie in erzählenden Liedern wörtliche Rede handelnder Personen wiederzugeben hatten, so verstärkte sich das mimische Element im zweiten Teil deutlich. Die Auswahl aus Wolfs Italienischem Liederbuch war so zusammengestellt worden, dass jeweils ein Frauenlied und ein Männerlied einander abwechselten und sich eine Liebesgeschichte in Dialogform ergab. Der das Liederbuch durchziehende humoristische Grundton ließ die gestischen Interaktionen zwischen Sopran und Bariton, die teils stärker, teils dezenter, aber immer im Einklang mit der Stimmung der jeweiligen Lieder ausfielen, durchaus nicht fehl am Platze erscheinen.

Zurflüh und Illenberger konnten sich in jedem Moment des Abends auf ihren Klavierbegleiter Gerold Huber verlassen, der es verstand, zur Grundierung des Gesangs stets die richtige Atmosphäre zu schaffen. Huber ist ein grandioser musikalischer Kurzgeschichtenerzähler. Hellwach wechselt er den Tonfall, wie es die jeweilige Situation erfordert, ohne den Überblick über das Geschehen zu verliehen. Als besonders schönes Beispiel seiner Kunst sei das „Violin“-Nachspiel im Wolf-Lied Nr. XI genannt, in dem er karikierende Akzente und Tempoverzögerungen anbrachte, bevor er in den letzten Tönen, gleichsam von der Rollenfigur zurück zur Erzählerperspektive wechselnd, wieder in den zurückhaltenden Grundduktus des Liedes einbog und damit den Vorhang der kleinen Szene schloss.

(Zur Fortsetzung siehe hier.)

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Busonis monumentales Klavierkonzert mit Igor Levit

An Fronleichnam (19. Juni 2025) erklang in der Isarphilharmonie erstmals Ferruccio Busonis gewaltiges Klavierkonzert von 1904. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, im fünften Satz verstärkt durch die Herren des Chors des Bayerischen Rundfunks, wurde von Sir Antonio Pappano geleitet, der für Esa-Pekka Salonen eingesprungen war. An den höllisch anstrengenden Klavierpart wagte sich Igor Levit.

Sir Antonio Pappano und Igor Levit © BR/Severin Vogl

Das Klavierkonzert op. 39 des italienisch-deutschen Komponisten Ferruccio Busoni (1866–1924) ist ein Unikum, nicht nur wegen seiner abendfüllenden Länge von ca. 75 Minuten. Ebenso die Fünfsätzigkeit und der Männerchor am Schluss – eine Hymne an Allah aus dem Versdrama Aladdin des dänischen Goethe-Zeitgenossen Adam Oehlenschläger – sind jeweils für sich genommen fast schon Alleinstellungsmerkmale. Die Uraufführung 1904 in Berlin war ein veritabler Konzertskandal. Obwohl Busoni seinerzeit unangefochten als einer der besten Pianisten weltweit galt, warnte er das Publikum in seinem Einführungstext , wo er die Funktion des Orchesters im bisherigen Solokonzert als mehr oder weniger bloßen Begleiters eines auf Selbstdarstellung bedachten Pianisten verurteilte: „Das Virtuosenthum ist im Sinken begriffen und damit verliert die Caricatur der Symphonie, Concert benannt, das letzte bisschen von Daseinsberechtigung.“ Der Solopart seines Konzerts übertrifft an technischer Vertracktheit, Kraftaufwand und differenzierter Klanglichkeit zwar sämtliche zeitgenössischen Gattungsbeiträge nochmals deutlich, gilt jedoch als höchst undankbar, da Busoni gewissermaßen eine Art „Rollentausch“ vollzieht: Fast immer präsentiert das Orchester die zahlreichen, durchaus prägnanten melodischen Einfälle; das Klavier darf diese allenfalls paraphrasieren bzw. kommentieren und wirkt über weite Strecken wie ein überdimensionales „obligates“ Instrument. Frei nach John Adams könnte man fragen: „Must the Orchestra Have All the Good Tunes?“. Dass sich etwa das Thema des Chores – welches dieser erst eine gute Stunde später singen wird – bereits in den allerersten Akkordkaskaden des Solisten verbirgt, dürfte kaum ein Hörer auf Anhieb erkennen. Selbst ein erfahrener Kritiker wie Joachim Kaiser hat das Busoni-Konzert noch 1966 – die Aufführung mit Scarpini unter Kubelik – anscheinend gründlich missverstanden und mit einigermaßen dümmlichen Prädikaten belegt.

Nicht nur deswegen verlangt dieses monumentale Werk – das dicke Buch, das Igor Levit auf den Flügel hievte, war nur der Klavierauszug – denn auch insbesondere vom Dirigenten eine völlige intellektuelle Durchdringung der symmetrischen Gesamtstruktur und absolute Klarheit bei der Disposition der oft komplexen Schichtungen des überbordenden motivischen Materials. Levit hat das Busoni-Konzert – nachdem 2021 eine geplante Aufführung mit dem Bayerischen Staatsorchester corona- und krankheitsbedingt ausfiel – später überhaupt erstmals unter Sir Antonio Pappano gespielt: schon mal ein vertrautes Team. Die letzte Beschäftigung des BRSO mit dem herausfordernden Stück reicht wohl bis 1986 zurück: mit Volker Banfield unter Lutz Herbig (nur für eine CD-Produktion?); also für fast alle Musiker eher komplettes Neuland.

Pappano merkte man bereits während der Einführung an, wieviel Lust er auf dieses Event hatte und wie genau er sich mit dieser weit unterschätzten Musik auskennt. So realisierte er vor allem den melodischen Schmelz und den Schwung des Italieners Busoni kongenial, bis hin zur aberwitzigen Tarantella des 4. Satzes von gut 950 Takten (!), die in einem fröhlichen „Vulkanausbruch“ (Busoni) kulminiert und deren Sog man sich kaum entziehen kann. Diese war vom Tempo her freilich selbst für den sich im akustisch hierfür suboptimalen HP8 tapfer schlagenden Levit schon grenzwertig. So waren einige Fehlgriffe beim unglaublichen Akkordwerk, das Busoni nicht nur dort fordert, unvermeidlich, schlugen aber nicht ins Gewicht. Levit – hochkonzentriert und ebenso auf den rein körperlichen Kraftakt voll eingestellt – verblüffte gerade beim schnellen Umschalten zu delikaten Arabesken, die er an den entsprechenden Stellen unerhört leise und enorm klangschön zelebrierte. Der sechsstimmige Herrenchor des Bayerischen Rundfunks, von Howard Arman exzellent einstudiert, war stets textverständlich und ebenso engagiert wie das neugierige Orchester. Hier überzeugten gerade auch die dunklen Farben – etwa der Klarinette beim zitierten „Fenesta ca lucive“ im 2. Satz: sensationell. Dort agierte Levit wie eine unzähmbare, mal verspielte, mal bedrohliche Raubkatze. Klassisch strenge Kontrapunktik à la Bach – Busonis größtes Vorbild – gibt es in diesem Stück zwar nicht. Dennoch könnte man Pappano vorwerfen, dass er die Melodielinien fast durchgehend zu sehr in den Vordergrund stellte – damit zeitweise sogar den Flügel völlig überdeckte – und den raffinierten Nebenstimmen dieser für ein Klavierkonzert um 1900 ungewöhnlich farbig orchestrierten Partitur nicht genügend Bedeutung beimaß.

Die größte Leistung an diesem Abend war allerdings der mit 25 Minuten sperrige Mittelsatz (Pezzo serioso): Dieses architektonische Meisterstück mit zahlreichen Themen – darunter ein gregorianisches Ave Maria – droht regelmäßig schnell zu langweilen. Es dramaturgisch schlüssig und spannend zusammenzuhalten, gelingt selten so bewegend. Wie Levit nach dem dynamischen Höhepunkt mit seinem brutalen, wörtlich zu nehmenden Gedonnere (tempestuoso, tuonando) – im Orchester ähnlich kompromisslos wie Strauss‘ gewagteste Passagen im Heldenleben oder Don Quixote – die Stimmung wieder herunterkühlte, so dass für den Hörer das folgende improvvisando absolut glaubwürdig erschien und von teutonischer Architektur nach Italien herüberblickte, – der Rest des Satzes klingt beinahe wie ein Vorgriff auf Respighis Pini di Roma – war zutiefst beeindruckend.

Man folgte der lebendigen Darbietung gebannt: Auch vom Publikum verlangt das Busoni-Konzert eine hohe intellektuelle Aufnahmebereitschaft und widerspricht zunächst allen gewohnten Erwartungen. Es erwies sich als richtig, das Monumentalwerk alleine aufs Programm zu setzen, so dass es ohne Ablenkung für sich sprechen durfte. Die Begeisterung – mit langanhaltendem Applaus für alle Musiker – war dann sicher ehrlich. Am Schluss wurde allen klar, dass hier selbst eine Zugabe eher fehl am Platze gewesen wäre.

[Martin Blaumeiser, 21. Juni 2025]

Nicolas Hodges überwältigt den Herkulessaal mit Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert

Das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 am 23. Mai brachte Claude Viviers spätes Ensemblestück „Et je reverrai cette ville étrange“, Helmut Lachenmanns „Klangschatten – mein Saitenspiel“ und Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert „To An Utterance“ mit einem überragenden Nicolas Hodges. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete Matthias Hermann.

Matthias Hermann und Nicolas Hodges mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Nicht ganz so gut besucht wie die Veranstaltungen zuvor, hatte das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 im Herkulessaal doch ein paar Schmankerl parat, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Zweifellos war der gebürtige Kanadier Claude Vivier (1948–83) ein höchst unkonventioneller Künstler, der – zeitweise Schüler von Karlheinz Stockhausen – avantgardistische Moden oder Darmstädter Prämissen mutig über den Haufen warf und bald einem ganz eigenen Stil vertraute, der seinem Primat der Melodie in aufregender Weise Raum gab und damit auch seinen Hörern oft zu mystischer Versenkung verhalf.

Als Dirigenten hat man den Lachenmann-Schüler Matthias Hermann eingeladen, der vor zwei Jahren bei der Neufassung von My Melodies für den bereits erkrankten Peter Eötvös eingesprungen war (siehe unsere Kritik). Für Viviers Et je reverrai cette ville étrange von 1982 muss er kunstvoll verschnörkelte Monodien, die von sieben Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks meist quasi im Unisono – im ersten und da capo im letzten der sechs Abschnitte mal in Terzen – vorgetragen und von fernöstlichem Schlagwerk fast rituell untermalt werden, klanglich fein abstimmen. Dies gelingt z. B. bei einigen sehr hübschen Mixturen äußerst ansprechend, aber etliche Stellen könnten präziser zusammen sein.

Man könnte Hermann auch mangelnde Präzision bei den zunächst zeitlich recht vereinzelten, harten Knalleffekten, vor allem Bartók-Pizzicati, in Helmut Lachenmanns (*1935) Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) vorwerfen – zumindest da, wo sie tatsächlich punktgenau zusammen sein sollten. Zum Glück werden diese für die 48 solistisch agierenden Streicher schnell vom Komponisten mit zunehmenden Unschärfen versehen, bis in der Mitte des Stücks alles flächiger wird, was sofort eine ungeahnte Sogwirkung erzeugt und erstaunlich farbig und fantastisch klingt. Die drei Klaviere wirken hier entgegen ihrer Natur meist wie klangverlängernde Echokammern, aber keinesfalls solistisch – trotzdem großes Lob für Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und Alexander Waite, die sich wie die enorm konzentrierten Streicher des BRSO natürlich mit allen erdenklichen, ungewöhnlichen Spieltechniken auseinandersetzen müssen. Faszinierend etwa, wie gegen Schluss einige der Cellistinnen ein instabiles Bassfundament auf dem mit Bogen gestrichenen Saitenhalter erzeugen. Hermanns Timing und sein Überblick über die gesamte Vielfalt der Geräuschentwicklung kann jedenfalls überzeugen. Zu Recht erfährt das Stück, das heutzutage natürlich niemanden mehr zu provozieren vermag, allgemeine Zustimmung.

Für ihr Klavierkonzert To An Utterance (2020) mit nicht nur im Schlagzeug riesiger Orchesterbesetzung musste sich die britische Komponistin Rebecca Saunders – Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019 – schon etwas Besonderes ausdenken, um dem Solisten ein klangliches Gegengewicht zu ermöglichen. Jede Menge Cluster, vor allem jedoch allgegenwärtige Glissandi, oft über die gesamte Tastatur und in teils derart atemberaubender Geschwindigkeit und Dynamik, dass man fast glaubt, einem Player Piano von Conlon Nancarrow zuzuhören. Was hier die Hände von Nicolas Hodges – durch fingerfreie Handschuhe vor Abschürfungen geschützt – leisten, geht weit über das hinaus, was etwa Stockhausen in seinem berüchtigten Klavierstück X fordert, gerade auch an emotionaler Energie. Die geht hier tatsächlich meist vom Klavier aus; das grandios instrumentierte Orchester der lange auf kammermusikalische Besetzungen spezialisierten Komponistin – immer spannungsvoll, dabei wie der drohende Abgrund für den hyperaktiven Pianisten – nimmt dessen Anregungen auf und transformiert dessen häufig als Haltepunkt genutzten Resonanzraum zu wilden und schönen Klängen: z. B. enorm differenzierten Streicherflageoletts, die dann noch mit Akkordeon in höchster Lage bekrönt werden. Das an sich sehr gelungene Werk zerfasert formal allerdings durch zu schnelle Wechsel zwischen ungezähmter Brutalität und deutlich gemäßigterem Material – gibt es da eine Anspielung auf Tristan? – und bringt dramaturgisch daher nicht nur den Pianisten im Sinne der weniger geläufigen Bedeutung des Titels bis „zum bitteren Ende“. Hodges ist mit seiner phänomenalen Technik und unermüdlichen Präsenz einmal mehr ein Erlebnis im Herkulessaal, und Orchester und Dirigent fühlen sich in Saunders‘ kalkulierter Klangorgie sichtlich wohl: tosender Applaus.

[Martin Blaumeiser, 24. Mai 2025]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an Sir Simon Rattle

Bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an den Chefdirigenten des BRSO, Sir Simon Rattle, wurden wie üblich auch die diesjährigen Förderpreisträger geehrt: für Komposition Ashkan Behzadi, Bastien David und Kristine Tjøgersen. Die Preise für Ensembles gingen an collective lovemusic aus Strasbourg bzw. das Tacet(i) Ensemble aus Bangkok. Drei Stücke der Nachwuchskomponisten wurden vom Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum vorgestellt. Für Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 dirigierte Simon Rattle 15 Mitglieder des BRSO.

V.l.n.r.: Sir Willard White, Ilona Schmiel, Sir Simon Rattle, Bastien David, Tabea Zimmermann, Kristine Tjøgersen, Ashkan Behzadi © EvS-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Auch die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung fand im Münchner Herkulessaal statt, erneut moderiert von Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk. Offensichtlich hatte man aus der für die Anwesenden fast unerträglichen Überlänge der Veranstaltung im vorigen Jahr gelernt und kam mit perfekt durchorganisierten 130 Minuten aus, so dass die Gäste beim anschließenden Empfang nicht schon todmüde waren. Die Vorsitzende des Stiftungsrats, Tabea Zimmermann, durfte trotzdem stolz eine noch nie dagewesene Summe von gut 4 Mio. € eingesetzter Fördermittel für diverse Projekte in mittlerweile über 30 Ländern verkünden. Und sie schien ebenfalls erleichtert über die – vorerst – abgewendete geplante GEMA-Reform mit absehbar katastrophalen Folgen für den Bereich der klassischen Musik. Die kurzen Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List konnten nach den etwas infantilen Ausrutschern nun wieder an das gewohnte Niveau von vor 2024 anknüpfen. Sie machten Lust auf die geförderten Ensembles collective lovemusic aus Straßburg bzw. Tacet(i) aus Bangkok – von Neuer Musik aus Südostasien hört man bei uns ja so gut wie nie etwas – und trugen nicht unwesentlich zum Verständnis der dann folgenden Live-Beiträge mit Musik der jungen Komponisten bei. Insgesamt hatte man sich für den Nachwuchs – falls diese Bezeichnung bei teils schon über 40-jährigen Künstlern überhaupt noch angemessen ist – mehr Zeit genommen als für den Hauptpreisträger, aber zum Glück die Rituale der Preisverleihung etwas eingedampft.

Die Stücke der Förderpreisträger Komposition wurden vom kleinen, in den Niederlanden ansässigen Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum dargeboten: Bei Carnivalesque (iii) (2014/17) des gebürtigen Iraners Ashkan Behzadi (*1983), der später in Montreal und New York ausgebildet wurde, wo er nun lebt und selbst an der Manhattan School of Music lehrt, durften die Musiker noch weitgehend auf zumindest halbwegs vertraute Spielweisen zurückgreifen: unterschiedliche Texturen mit spannenden Kontrasten, kaleidoskopartig und dennoch verbunden, handwerklich kunstvoll ausgearbeitet. Nur warum die Musik kurz vor Schluss beinahe auf der Stelle trat, verstand man beim ersten Hören überhaupt nicht.

Die Musik des Franzosen Bastien David (*1990), der u. a. bei José Manuel López López und Gérard Pesson studierte, ist hinsichtlich der Klangerzeugung dagegen völlig kompromisslos: In Six chansons laissées sans voix (2020) werden stimmliche Lautäußerungen ganz ungewöhnlich auf Instrumente übertragen: Bogen auf Holzlamellen, – allenfalls hier erkennt man Tonhöhen – Reiben eines Luftballons mit einem feuchten Schwamm, Ziehen einer Angelschnur über eine Harfensaite etc. Dies wirkte vor allem erst einmal hübsch perkussiv, und man fühlte sich an afrikanische Musik erinnert, aber dann vermittelte sich über dieser Basis leider so gut wie nichts: Den Rezensenten langweilte diese erschreckend dünne Substanz recht bald. Vor ein paar Jahren hat David ein kreisförmiges Metallophon mit 216 im Abstand von jeweils einem Zwölftelton gestimmten Lamellen erfunden. Sowas ist eigentlich ebenfalls ein alter Hut: Man denke an das Instrumentarium eines Harry Partch und das in diesem Zusammenhang von Dean Drummond entwickelte Zoomoozophone

Die Norwegerin Kristine Tjøgersen – zunächst Klarinettistin, erst relativ spät in Linz bei Carola Bauckholt zur Komponistin ausgebildet – vertraut ebenfalls kaum noch traditioneller Handhabung ihres fantasiereichen Instrumentariums: So wird in ihrem preisgekrönten Klavierkonzert keine einzige Taste gedrückt. Sie entdeckt ihre Klangwelten und die zur Produktion nötigen Utensilien vielmehr in der Natur, sei dies unmittelbar im Wald oder in Forschungsergebnissen von Biologen – so wie den Unterwasseraufnahmen singender Fische am Great Barrier Reef, die sie zu Seafloor Dawn Chorus (2018, rev. 2025) inspiriert haben und die sie für dieses Stück quasi transkribiert hat. Auch wenn dies keine simple Mimesis darstellt, beeindruckte Tjøgersens Musik durch Natürlichkeit, fassliche Schönheit und vermittelte durchaus etwas von der – hier sei der altmodische Begriff erlaubt – Erhabenheit der Schöpfung, die es zu bewahren gilt. Der dahinterstehende Aufruf zum politischen Handeln erinnerte den Rezensenten – nicht nur wegen des Titels – an Liza Lims „Extinction Events and Dawn Chorus“; tatsächlich entstand Tjøgersens Werk jedoch gleichzeitig und rief im Herkulessaal allgemeine Bewunderung hervor.

Den diesjährigen Hauptpreisträger Sir Simon Rattle muss man an dieser Stelle sicherlich nicht mehr vorstellen. Kaum ein Dirigent hat sich schon in ganz jungen Jahren so energisch für die Aufführung zeitgenössischer Musik eingesetzt wie er und ist mittlerweile von seinem Repertoire her derart breit aufgestellt. Und wenn man beobachtet, wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach dem Tod Mariss Jansons‘ und der nachfolgenden, lähmenden Pandemie seit seinem Amtsantritt erst vor zwei Jahren wieder zu einem der am hinreißendsten musizierenden Klangkörper weltweit aufgeblüht ist, ist dies allein schon Hochachtung wert, verbunden mit der Hoffnung, dass er München als Dirigent noch möglichst lange erhalten bleiben möge. Die warmherzige Laudatio hielt der Bariton Sir Willard White, Rattles Weggefährte seit fast 45 Jahren – und mit solch wunderbarer Stimme, die als Porgy oder Wotan wohl jedermann zutiefst bewegt, geriet dessen Verneigung vor einem großen Künstler umso eindringlicher und glaubwürdiger.

Simon Rattle selbst wollte sich in seinen Dankesworten bewusst kurz halten und lieber musizieren, und so soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass Sir Simon das Preisgeld für ein ins BRSO eingebettetes Ensemble mit historischen Instrumenten einsetzen möchte – man darf gespannt sein. Zum Ausklang der Veranstaltung hatte Rattle dann Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 ausgewählt, ein schon historisch geradezu ideales Vorzeigestück für 15 Instrumentalisten, und erwähnte mit Respekt, dass sein anwesender Lehrer John Carewe diese schon seit 70 Jahren draufhat. Rattle leitete das Schönberg-Stück natürlich auswendig und mit feinster handwerklicher Virtuosität. Seine Solisten aus dem BRSO folgten dem energischen und bis ins Detail stimmigen Konzept mit Freude und Engagement, und so wurde aus einem recht komplexen, etwas sperrigen Werk ein emotional vielschichtiges und begeisterndes Erlebnis, für das sich der Saal mit starkem Beifall bedankte.

[Martin Blaumeiser, 19. Mai 2024]

Hochemotional und kultiviert: Simone Young dirigiert beim BRSO Werke der Zweiten Wiener Schule

Im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am 15. Mai 2025 erklangen in der Isarphilharmonie unter Leitung der exzellent vorbereiteten Simone Young drei Meilensteine der Neuen Wiener Schule: Anton Weberns „Fünf Stücke für Orchester op. 10“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücke op. 6“ und Alexander Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ – mit der Sopranistin Maria Bengtsson sowie dem Bariton Michael Volle.

Maria Bengtsson, Simone Young und Michael Volle mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Christopher Mann nennt in seiner Einführung mit der schon dabei gut aufgelegten australischen Dirigentin Simone Young sogleich den Namen, der über allen folgenden Darbietungen schwebt: Arnold Schönberg. Als Schüler und späterer Schwager Alexander Zemlinskys (1871–1942) gilt er ja als Begründer der Zweiten Wiener Schule; und er war wiederum Lehrer von Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935). Die drei Werke des Abends entstanden innerhalb von nur 12 Jahren – zwischen 1911 und 1923 – und sind relativ selten zu hören: Weberns Fünf Stücke für Orchester op. 10 wegen ihrer minimalistischen Besetzung kaum in Programmen mit großen Klangkörpern, Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 genau umgekehrt wegen des geforderten Riesenapparats, und Zemlinskys Lyrische Symphonie hat an diesem Donnerstag gar ihre Erstaufführung beim BRSO.

Weberns Orchesterminiaturen op. 10 (1911/13) sind quasi ein Gegenentwurf zu seinen großbesetzten 6 Orchesterstücken op. 6, die wiederum Vorbild für Berg waren. Von den gut 20 Instrumenten – darunter allerdings Exoten wie Mandoline, Celesta oder Röhrenglocken – erklingen oft nur wenige gleichzeitig. Der klangliche Reichtum und die Konzentration des Ausdrucks der insgesamt (!) nur etwa fünf Minuten dauernden Stücke verlangt von den Musikern höchste Präzision und in einem so großen Saal extrem gutes Aufeinander-Hören. Simone Young – u. a. zehn Jahre GMD an der Hamburgischen Staatsoper – zeigt, nur hier ohne Taktstock, alles genauestens an, insbesondere die sehr delikat auf den Raum abzustimmende Dynamik. Die erstaunlich phantasievollen, knappen musikalischen Gesten werden so zu echten Kabinettstückchen. Einfach grandios, wie man in der Isarphilharmonie etwa am Schluss des dritten Stücks die große Trommel im ppp mehr über den Solarplexus als über das Gehör wahrzunehmen glaubt. Aber verglichen mit dem, was danach kommt, ist dies natürlich nur ein Appetizer.

Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 – vollendet unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – warten nun mit einem Orchester auf, das selbst Mahlersche Dimensionen zu sprengen scheint. Sie sind vielleicht der Inbegriff des musikalischen Expressionismus, von ihrer emotionalen Intensität wie von der strukturellen Komplexität her, die keine „Füllstimmen“ kennt: Alles hat thematisch-motivisches Gewicht und stellt Dirigenten bei der Herstellung einer dynamischen Balance, die sowohl die Details hörbar macht, zugleich die Schichtungen von Haupt- und Nebenstimmen verständlich abbildet, vor bis dato völlig unbekannte Probleme. Zudem sind schon die rein instrumentalen Anforderungen an sämtliche Spieler exorbitant: Die 1. Posaune z. B. beginnt direkt mit einem hohen es“. Rhythmisch wird es ebenfalls dicht, obwohl keine Orgie an Taktwechseln notiert ist, wie etwa in Strawinskys Sacre. Frau Young koordiniert dies alles nicht nur perfekt, sondern geht auch emotional mit, ohne je übers Ziel hinauszuschießen: zutiefst beeindruckend. Alles bleibt klar, sieht immer geschmeidig aus, und mit der linken Hand gibt die Dirigentin nicht nur alle wichtigen Einsätze, sondern klug disponierend stets sehr deutliche dynamische Impulse. Die instrumentale Virtuosität und Empathie der Musiker des BRSO wird dem in jeder Weise gerecht. Vom anfangs noch wie in Schleier gehüllten Präludium über den unwirklichen Reigen streift der Zuhörer fast wie ein Voyeur in einem von Wänden unbehinderten Flug quer durch verschiedenste morbide Tanzböden, wo Walzer- und Ländler-Fetzen nur momentweise und perspektivisch verzerrt erscheinen, dabei längst keine fin-de-siècle Hochstimmung mehr aufkommen mag. Der Marsch schließlich wird zum reinen, gewalttätigen Horrortrip: wie eine Vision der noch ungeahnten Gräuel des beginnenden Krieges. Und hier darf der mörderische Holzhammer aus Mahlers Sechster tatsächlich dreimal aktiv werden – bis zum bitteren Ende. Wie kultiviert und farbig das dann trotzdem klingt, ist an diesem Abend schon ein kleines Wunder, das sofort erste Bravorufe provoziert.

Vor gut einem Jahr litt das Münchner Rundfunkorchester bei Zemlinskys Lyrischer Symphoniewir berichteten – unter Sänger-Absagen und unglücklichem Timing: nur einen Tag nach dem Jubiläumskonzert des BRSO. Dieses konnte nun unter optimalen Bedingungen seine erste Bekanntschaft mit dem lange unterschätzten Stück machen, das erst seit den 1980er Jahren als gleichrangig zu Mahlers Lied von der Erde anerkannt wird. Liegt die Gemeinsamkeit in der Verwendung asiatischer Dichtung, – hier des Bengalen Rabindranath Tagore – zielt Mahlers Vertonung mehr auf Weltschmerz, Zemlinskys imaginäre Liebesgeschichte hingegen auf ein wenig stereotype psychologische Innenwelten von Mann und Frau, jedoch als Individuen. Zemlinsky ging indes nicht den Weg Schönbergs und seiner Schüler in die Zwölftontechnik mit. Das BRSO unter Simone Young bringt den orchestralen Farbreichtum der tonalen, harmonisch zwischen Modalität und sensibler Chromatik pendelnden Partitur, an faszinierend schönen Details noch über Mahler oder Berg hinausgehend, in voller Pracht zur Geltung. Dabei trägt der große symphonische Bogen über das gesamte Werk. Ausdruck, Tempi, sehr differenzierte, bewusste Agogik und Balance stimmen auf den Punkt. Das übertrifft die gute Aufführung des Rundfunkorchesters dann doch nochmals spürbar.

Michael Volle erfasst als Heldenbariton ohne Sentimentalität und Pathos, aber mit Bestimmtheit und guter Textverständlichkeit, die Vorgaben des Komponisten exakt: Bis zum Schluss „ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche [!] Ton des ersten Gesanges festzuhalten.“ Die Ausdruckswelten der Frau sind vielschichtiger und extremer. Dafür reicht der von Zemlinsky angedachte jugendlich-dramatische Sopran der jungen Schwedin Maria Bengtsson nicht ganz aus. Bei „Mutter, der junge Prinz…“ fehlt ihr schlicht das stimmliche Fundament und die Genauigkeit der Artikulation, um über das schillernde Orchester herüberzukommen. Hierzu bräuchte es wohl doch eine Strauss-Stimme, die eher Salome oder die Kaiserin als die Marschallin beherrscht. Da dem Rezensenten Michael Volles Stimme von Opern- und Konzertbühne gut vertraut ist, und dessen Timbre hier ebenso heller wirkt als „normal“, mag daran freilich die Akustik des HP8 mal wieder eine gewisse Mitschuld haben. Im musikhistorisch nachwirkenden vierten Gesang „Sprich zu mir, Geliebter“ wird sowohl der Sopranpart als auch das Violinsolo besonders zärtlich und mit Wärme gestaltet, vielleicht ein wenig zu passiv und verhalten. Das ist jedoch anscheinend das Konzept der Dirigentin, die bei der umsichtigen Begleitung der Gesangssolisten ihre lange Opernerfahrung gekonnt einbringt. Absolut ergreifend gelingt Bengtsson dann ihr letzter Gesang „Vollende denn das letzte Lied“ mit seinen bereits nicht mehr tonalen, eiskalten Linien, wo sie glaubwürdig voll aus sich herausgeht. Die nächtlichen Klangfarben des einsamen Endes in ihrer fantastischen Instrumentation – die letzte Partiturseite ist ein Wunderwerk – gelangen mit der großen Streicherbesetzung wirklich zauberhaft ans Publikum.

Insgesamt ein selbst für BRSO-Verhältnisse außergewöhnlich gelungener Abend, der mit begeistertem Applaus für alle Ausführenden honoriert wird. Diejenigen Abonnenten, die dem Konzert – wegen des vermeintlich anstrengenden Repertoires? – ferngeblieben waren, haben da leider eine Weltklasse-Leistung verpasst.

[Martin Blaumeiser, 16. Mai 2025]

Porträtkonzert für Pascal Dusapin bei der musica viva

Am 25. April 2025 widmete die musica viva im Münchner Herkulessaal ein gesamtes Konzert dem großartigen französischen Komponisten Pascal Dusapin (*1955), der Ende Mai einen runden Geburtstag feiert. Unter Leitung der Dirigentin Ariane Matiakh spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben den Soli Nr. 6 und 7 für Orchester und dem Violinkonzert „Aufgang“ mit dem Uraufführungssolisten Renaud Capuçon noch „Wenn du dem Wind…“ – drei Szenen aus der Oper Penthesilea mit der Mezzosopranistin Christel Loetzsch.

Loetzsch, Capuçon, Dusapin, Matiakh © Astrid Ackermann/BR

Zugegebenermaßen mag der Rezensent musica viva Konzerte, in denen Kompositionen von nur einem zeitgenössischen Komponisten erklingen, mit am liebsten, weil man sich dabei – zumeist – auf nur einen Stil und eine dann hoffentlich individuelle Klangwelt einstellen muss als von oft sehr heterogenen Programmen quasi durchgeschüttelt zu werden. Der Franzose Pascal Dusapin feiert Ende Mai seinen siebzigsten Geburtstag und ist in seiner Heimat seit über 30 Jahren ein echter Star, in Deutschland mit seinen Werken noch ein wenig unterrepräsentiert, wenn auch gerade in München kein Unbekannter mehr: Zuletzt war vor knapp zwei Jahren im Herkulessaal sein sehr kontemplatives Orchesterwerk „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island zu erleben – siehe unsere Rezension. Als einziger Schüler Iannis Xenakis‘ ist seine Musik zwar von mathematischen Konzepten durchdrungen, im Vordergrund steht aber immer vermittelbare Emotionalität an oberster Stelle: Der vor allem von Literatur und bildender Kunst geprägte Dusapin legt stets Wert darauf, sein Publikum tatsächlich zu erreichen; sicher mit ein Grund seines Erfolges.

Die beiden Orchesterstücke Reverso (Solo Nr. 6, 2006) und Uncut (Solo Nr. 7, 2009) sind die beiden letzten Teile eines fast 20 Jahre währenden Projekts einer Art Symphonie, die sich zwar „wie russische Babuschkas“ (Dusapin) aus einzelnen Kompositionsaufträgen zusammensetzt, die jedoch im Hinblick auf ein großes Ganzes konzipiert wurden. Eine Gesamtaufführung aller sieben „Sätze“ am Stück (~ 100 Min.) hat indes bisher nicht stattgefunden, und auch die obigen Stücke erklangen am Freitag nicht hintereinander, weil dies ein zu großes zeitliches Ungleichgewicht der beiden Konzerthälften zur Folge gehabt hätte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Konzerten für Orchester der letzten 100 Jahre, wo dann einzelne Gruppen bzw. Solisten besonders hervortreten dürfen, versteht Dusapin den Gesamtapparat als ein Instrument, was deutlich wahrnehmbar vor allem die Holzbläser eher entindividualisiert. Trotzdem zeigen Reverso und Uncut höchst unterschiedliche Charaktere. So erscheint Reverso als in den Raum zusammengefaltete Klangfläche, – wie ein skulpturales Objekt, etwa ein sich dynamisch verändernder Torus – bei der nicht einmal mehr der zeitliche Verlauf linear wahrgenommen wird, trotzdem mit einer sehr harmonischen Hüllkurve. Hier sind in den Feinstrukturen Einflüsse des Minimalismus hörbar, die ohne Aleatorik auskommen, zugleich die dynamische Energie eines Edgar Varèse, dessen Arcana ein musikalisches Schlüsselerlebnis für Dusapin war. Die vor allem in Wien ausgebildete französische Dirigentin Ariane Matiakh schlägt deutlich, leider meist parallel – die linke Hand gibt fast nur Einsätze – und durchweg zu groß, überzeugt durch sehr klares und organisches Timing, hervorragenden Überblick sowohl bei den übergeordneten dramatischen Verläufen als auch der Agogik im Detail. Weniger Kontrolle hat sie freilich über die Feindynamik: Wenn sie selten mal mit Links etwas anzeigt, schaut da schon niemand mehr hin. Das funktioniert bei den Soli noch ganz gut, erstaunlicherweise sogar bei den drei Opernszenen, rächt sich jedoch später im Violinkonzert. Uncut ist deutlich schärfer konturiert, farbiger, in den Extremlagen intensiver, beginnt mit einer Art Blechbläserfanfare – am Schluss gibt es für die Gruppe und das Schlagwerk Extra-Applaus – und wirkt schon aufgrund des rascheren Grundtempos eben überhaupt nicht statisch: große Begeisterung dafür beim Publikum.

Dusapin schreibt momentan bereits an seiner elften Oper, und seine Penthesilea (2015) – nach Kleists bizarrer Umdichtung des Mythos – gehört sicher zu seinen beeindruckendsten Werken. Aus dem kurzen Prolog und den Szenen 2 und 4 schuf der Komponist eine dreisätzige Suite für den Konzertgebrauch ‒ lediglich mit der Hauptprotagonistin als Vokalpartie. Die Mezzosopranistin Christel Loetzsch hat die im wahrsten Sinne des Wortes „mörderische“ Partie konzertant schon komplett mit Frau Matiakh aufgeführt, verfügt über eine außergewöhnlich präsente Höhe und beherrscht alle stimmlichen Facetten, die vom „normalen“ Operngesang über Sprechgesang, Sprechen, Geschrei bis zu animalischeren Lautäußerungen reichen ‒ dies zum Glück eher im tieferen Register ‒ gemäß den hochdifferenzierten Anweisungen der Partitur; und so werfen sich hier mit der souverän vermittelnden Dirigentin die Solistin und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einem hochdramatischen Rausch gekonnt die Bälle zu. Wie vereinzelt bei manchen Ensemblewerken Xenakis‘ kommt der Harfe fast die Rolle eines Mediums zu, das ein gewisses Maß an Selbstreflexion bei der furienhaften Penthesilea ermöglicht. Was Frau Loetzsch gänzlich fehlt, ist leider ein für einen so großen Saal ausreichendes Fundament in der Mittellage und damit leider einhergehend jegliche stimmliche Wärme: Selbst mit der teils manierierten Überartikulation mancher Konsonanten ist nicht auszugleichen, was den Vokalen an Klangfarben mangelt. So bleibt die einstudierte Exaltiertheit streckenweise unglaubwürdig und ihr Vortrag geht doch stellenweise unter ‒ ohne Schuld des Orchesters. Trotzdem erntet die Sängerin am Schluss dieser emotionalen tour de force wahre Beifallsstürme.

Dusapins deutsch betiteltes Violinkonzert Aufgang von 2011 ist ein Musterbeispiel für sein Vermögen, zeitgemäße Klangwelten selbst in für viele Kollegen „überkommenen“ Formen kompromisslos zur Geltung zu bringen. Das Stück wird mit seiner traditionellen Dreisätzigkeit ‒ schnell, langsam, schnell ‒ schon äußerlich üblichen Hörerwartungen gerecht. Renaud Capuçon, bereits der Uraufführungsinterpret, hat den klangfarblichen Reichtum und die virtuos darzubietende Ausdrucksstärke des Werks in jeder Hinsicht verinnerlicht und kann die Schönheit und Energie des Violinparts mühelos aufs Publikum übertragen. Dieser erfordert Sanglichkeit in der Höhe, zupackende Verve, aber auch kontemplative Innigkeit in zahlreichen Solopassagen und extrem präzises Aufeinander-Reagieren zwischen Violinisten und Orchester. Diesem fehlt hier nun die erwähnte Kontrolle Frau Matiakhs über die Feindynamik, und so muss Capuçon leider – insbesondere bei Laufwerk – zu oft vergeblich um eine angemessene Balance kämpfen. Der sehr lange langsame Satz hat eine bemerkenswerte Steigerung nach der Mitte und endet dann in typisch Dusapinscher Melancholie. Das Finale ist absolut hinreißend und rundet ein vielschichtiges Konzert zu aller Zufriedenheit ab. Capuçon verzichtet trotz lautstarker Zustimmung allerdings auf die von manchem erwartete Zugabe.

[Martin Blaumeiser, 27. April 2025]

Simon Rattle dirigiert exemplarisch Boulez, Berio und Lachenmann

Diesmal – ungewohnt an einem Samstag: 22. März – leitete Simon Rattle „sein“ musica viva Konzert der Saison im Herkulessaal, das ausschließlich älteren Werken von Jubilaren des Jahres 2025 gewidmet war: Pierre Boulez‘ „Cummings ist der Dichter“, Luciano Berios „Laborintus II“ sowie Helmut Lachenmanns „Harmonica“ – mit dem Tubisten Stefan Tischler. Neben dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirkte auch wieder der Chor mit, teilweise solistisch.

Simon Rattle, Stefan Tischler, Helmut Lachenmann © Astrid Ackermann; BR

Im sehr gut besuchten Herkulessaal gab es letzten Samstag ein außergewöhnliches Symphoniekonzert der musica viva: zwar keine Uraufführung, dafür jedoch gleich drei Klassiker der Neuen Musik, die trotz ihres Nimbus eigentlich sehr selten gespielt werden. Damit sollten wohl deren Komponisten als Jubilare des Jahres 2025 besonders geehrt werden.

Cummings ist der Dichter (1970) von Pierre Boulez (1925–2016) war in München zuletzt 2016 im Prinzregententheater unter der Leitung George Benjamins zu hören – mit dem gerade noch bestehenden SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie dem SWR Vokalensemble. Damals erklang die Fassung mit 16 Solostimmen. Zum Glück hat sich Sir Simon Rattle für die dreifache Besetzung – bei den in der Partitur von 1986 als solchen gekennzeichneten Tutti-Passagen – entschieden, die dem Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung hierfür: Max Hanft) viel besser das nötige chorische Atmen bei den zahlreichen sehr lange liegenden Klängen in dieser Vertonung eines Gedichts des Amerikaners Edward Estlin Cummings erlaubt. Ebenso erreicht der bei diesem Stück ausnahmsweise ohne Taktstock dirigierende Sir Simon so eine deutlich bessere Balance mit dem nie aufdringlich werdenden Orchester. Und zum Glück betont er überhaupt nicht die vielen an- und abschwellenden Triller der Partitur, die den Rezensenten bei anderen Darbietungen auf Dauer nervten und an diesem Abend öfter als Ausschwingvorgänge verstanden werden. Rattle widmet sich mehr der Feindynamik innerhalb des höchst anspruchsvollen Chorsatzes und darf dem in dieser Hinsicht enorm selbstständigen Agieren seiner nur 27 Spieler des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks – ohne Schlagzeug! – voll vertrauen. Insgesamt erstaunt die Lebendigkeit, Natürlichkeit und Transparenz des Klanges dieser unter der Motorhaube freilich seriellen, zugleich irgendwie frühlingshaften Musik, die auch das Publikum anspricht.

Vielschichtiger und eher Musiktheater als ein konzertantes Werk, präsentiert sich Luciano Berios (1925–2003) gut halbstündiges Laborintus II von 1965, auf einen collage-ähnlichen Text Edoardo Sanguinetis, deutlich experimenteller. Eine Sprecherin – als Gast und nicht wirklich überzeugend: Marie Goyette – sowie aus dem Chor des BR drei singende Frauenstimmen und acht mit Sprechgesang im weitesten Sinne befasste Solisten (alle exzellent!) müssen sich also mit einem Dschungel an Texten – von der Bibel über Dante, Ezra Pound, T. S. Eliot und natürlich Sanguineti selbst – auseinandersetzen (Einstudierung: Stellario Fagone). Dazu kommt dann wiederum ein ähnlich dimensioniertes Orchester wie bei Boulez, diesmal allerdings mit äußerst effektivem Schlagzeug, plus ein 2-Kanal-Zuspielband. Für alle Stimmen fordert Berio Mikros, und einmal mehr schafft die Klangregie Norbert Ommers optimale Voraussetzungen für eine immer stimmige Balance, so dass Rattle hier souverän extrem unterschiedliche Klangräume bedienen kann. Vieles kommt aus historischen Kontexten mittelalterlicher Musik, aber dagegen gibt es gelenkte Aleatorik à la Lutosławski, wiederholte Patterns wie im Musical, eine Stelle mit Jazzimprovisationen, Agitprop der 1960er Jahre und dann im letzten Drittel noch das unerbittliche Tonband. Wie Rattle – völlig klar in seiner konzentrierten Zeichengebung – dieses komplexe Geflecht zu einem durchaus unterhaltsamen, faszinierenden Organismus verschmilzt, ist eine wirkliche Glanzleistung und weil Berio trotzdem immer auch eine Prise italienischen Humors einfließen ließ, letztlich echt begeisternd.

Helmut Lachenmann, der im November 90 Jahre alt wird, hat neben einer gewissen Verweigerungsästhetik oft vermocht, klangliche Opulenz mit einer unglaublichen Palette ganz neuartiger Klänge des immer ganzheitlich betrachteten Instrumentariums zu erzeugen. Ein Musterbeispiel dafür ist Harmonica (1981/83): Nach der Pause spielt so das volle Orchester mit seinem praktisch durchgehend beschäftigtem Solo-Tubisten: Stefan Tischler. Man gönnt ihm natürlich, das Stück als eines der wenigen vorzeigbaren Konzerte für sein Instrument aufzufassen. Doch trotz der ungeheuren physisch-technischen Anforderungen, die Tischler sensationell bewältigt, der enormen Vielfalt an Spielanweisungen und Ausdruckscharakteren: Harmonica ist ebenso wenig ein Solokonzert im herkömmlichen Sinn wie das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, das beim BRSO im Juni gespielt werden wird. Der Solist erscheint fast nie als Auslöser des gleichermaßen hochdifferenzierten Geschehens im Orchester, sondern eher als der neunmalkluge Kommentator im Hintergrund, der vielleicht sogar emotional vieles steuert, gleichzeitig jedoch hinterfragt. Lachenmann hat den Solopart übrigens nachträglich komponiert. Ein geistreiches Spiel und ein überwältigendes Klangbad, schon an der Grenze zur Überinstrumentierung, das jedoch zweifellos seinesgleichen sucht. Hier scheinen Rattle und sein Orchester endgültig in ihrem Element zu sein: Lachenmanns Musik hat, gerade auch wegen dessen kritischer Grundhaltung, nach über 40 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren. Der Komponist, der am Schluss auf die Bühne kommt, und alle Mitwirkenden dürfen hochverdient minutenlangen Applaus entgegennehmen.

[Martin Blaumeiser, 23. März 2025]

Roland Leistner-Mayer – eine Würdigung zu seinem 80. Geburtstag

Roland Leistner-Mayer, der am 20. Februar sein 80. Lebensjahr vollendet, kann mittlerweile auf ein Schaffen von 159 Opuszahlen zurückblicken, hinter denen sich Werke unterschiedlichster Gattungen und Besetzungen, von einminütigen Miniaturen für Soloinstrumente bis zur abendfüllenden Chorsymphonie, verbergen. So vielgestaltig dieses Gesamtwerk ist, eines bleibt in ihm immer konstant: die hohe Qualität der Kompositionen. Man kann sich ein beliebiges Stück Leistner-Mayers heraussuchen, und man wird auf ein Meisterwerk stoßen, auf eine mit echter Hingabe geschaffene Arbeit, in welcher der Komponist hinter jedem Ton steht, den er geschrieben hat. Kurz vor Eintritt in sein neuntes Lebensjahrzehnt hat Leistner-Mayer mit seinem Streichquartett Nr. 8 aufs schönste bestätigt, dass er zu den schätzenswertesten Tondichtern unserer Zeit gehört. Das Werk wurde am 27. Januar 2025 durch das Sojka-Quartett Pilsen im Jüdischen Gemeindezentrum Regensburg uraufgeführt und am folgenden Tag im Sudetendeutschen Haus in München ein zweites Mal gespielt. Dort hörte es der Komponist zum ersten Mal.

Roland Leistner-Mayer studierte in München bei Harald Genzmer und Günter Bialas, ohne dass einer dieser Lehrer einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübte. Eine gewisse Nähe zu Bialas lässt sich in seinem Frühwerk wohl feststellen, doch wurde sein Kompositionsstil schließlich durch ganz andere Eindrücke entscheidend geprägt. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im böhmischen Graslitz an der Grenze zu Sachsen geboren (heute Kraslice in Tschechien), hatte Leistner-Mayer die Heimat seiner Eltern bereits als Kleinkind verlassen müssen. Tschechien wurde für ihn zu einem Sehnsuchtsort, den zu bereisen ihm erst als Erwachsener möglich war. Er lernte die Musik Leoš Janáčeks kennen, die ihn mit elementarer Kraft in ihren Bann zog und seitdem nicht mehr losgelassen hat. „Wahrheit“ lautet das Wort, mit dem Leistner-Mayer auf die Frage antwortet, was ihm Janáček bedeute. Stets skeptisch gegenüber vorgefertigten Kompositionssystemen und der Idee, der Wert eines musikalischen Werkes lasse sich an seinem „Materialstand“ ablesen, fand Leistner-Mayer in Janáček den künstlerischen Rückhalt, der ihm den endgültigen Durchbruch zu seinem persönlichen Idiom ermöglichte.

Leistner-Mayers Musik lebt von der Einfachheit der tonalen Grundspannungen. Die Melodik basiert auf diatonischen Skalen, die aber selten reines Moll oder Dur sind und in der Regel durch modale Wendungen, häufig phrygische, angereichert werden. Von demonstrativer Handwerkskontrapunktik, hat Leistner-Mayer stets Abstand gehalten, dennoch ist er ein polyphon denkender Komponist, für den sich die Harmonik aus dem Aufeinandertreffen der Stimmen, nicht aus einem System von Akkordfunktionen, ergibt. Seine dissonanten Akkorde erhalten ihre Wucht dadurch, dass sich in ihnen lineare Bewegungen der Stimmen zum gleichzeitigen Erklingen zusammenballen. Der „eingefrorene Vorhalt“ ist fester Bestandteil seines Stiles. An eine Haupttonart fühlt sich Leistner-Mayer häufig nicht gebunden. Es gibt Stücke, die tonal zu ihrem Ausgangspunkt zurückfinden – so kann die Zweite Symphonie als Werk in as-Moll, das Zweite Streichtrio als in d-Moll stehend gelten –, doch meist wechselt das tonale Zentrum im Verlauf des Werkes. Diesen Prozessen hat Leistner-Mayer viel Aufmerksamkeit gewidmet und jedem seiner großen, zyklischen Werke diesbezüglich ein individuelles Erscheinungsbild gegeben. So wird etwa im Siebten Streichquartett eine gewisse Geschlossenheit erzielt, indem beide Ecksätze in Fis schließen. Das Werk beginnt allerdings in C. Eine weitere Spezialität Leistner-Mayers besteht darin, Tonarten anzudeuten, ohne dass sich die Musik entscheidet. Der Kopfsatz des Zweiten Streichquartetts schwankt zwischen G und Es, wobei sich im Es-Bereich Dur und Moll mischen. Zwar wird G anfangs von Es nach wenigen Takten verdrängt, doch schließt der Satz letztlich in G.

Die spezifische Art der Harmonik Leistner-Mayers lässt seine Musik einerseits fest, hart und entschlossen klingen, doch ist dem immer ein melancholischer Gegensatz beigemischt. Sehr deutlich zutage treten die zwei Seiten seines Wesens in dem Streichquartett Nr. 6, das aus Sieben untapferen Bagatellen besteht. In diesen kurzen Sätzen münden kraftvolle Klänge regelmäßig in Zweifel und Unentschiedenheit. Hier findet sich eine künstlerische Gestaltung des Scheiterns, wie sie nur ein großer Formkünstler unternehmen kann. Dass Leistner-Mayer im Übrigen die Kunst, ein Werk zum Ende hin energisch zu steigern, glänzend beherrscht, hat er in zahlreichen seiner Finalsätze eindrucksvoll bewiesen. Überhaupt ist er ein Meister des Allegros, wie sie heutzutage selten sind. Er schreibt Musik, die sich – in schnellen wie in langsamen Tempi und häufig unter Verwendung unregelmäßiger Metren und Rhythmen – tatsächlich bewegt und die immer eine nachvollziehbare Handlung besitzt. In diesem Sinne waltet in seinem Schaffen ein klassischer Geist.

Wie gesagt, umfasst Leistner-Mayers Schaffen Kompositionen zahlreicher Gattungen und Besetzungen. Mit seinen Werken für großes Orchester hat der Komponist weniger Erfolg gehabt als man angesichts ihres offenkundigen Wertes glauben möchte. Zwar existieren Rundfunkproduktionen seiner drei Symphonien, aber keines dieser Werke hat in den letzten 30 Jahren eine weitere Aufführung erlebt. Die Dirigenten und Konzertveranstalter, die diese Zeilen hier lesen, seien deshalb ausdrücklich auf Leistner-Mayers symphonisches Schaffen aufmerksam gemacht. Die ersten beiden Symphonien sind rein instrumentale Stücke von jeweils etwa 23 Minuten Spieldauer. Die Erste op. 14 (1975) besteht aus einem großen Satz, in welchem deklamatorische Themen mehrfach zu heftigen Ausbrüchen gesteigert werden. Die Zweite op. 31 (1984) ist zweisätzig. Nach einem forsch vorandrängenden Kopfsatz beginnt der zweite Satz zunächst langsam, lässt aber dann einen lebhaften Schlussteil folgen, der die Klänge des ersten Satzes aufgreift. Was die Behandlung des Orchesters betrifft, zieht Leistner-Mayer den schroffen Kontrast dem geschmeidigen Mischklang vor. Die Dritte Symphonie op. 81 (1994) kommt als Werk für Sopran- und Bariton-Solo, Chor und Orchester (mit einem prominenten Altsaxophon-Solo, geschrieben für den großen Saxophonisten John-Edward Kelly) einem Oratorium nahe. Auf einen Text Rudolf Mayer-Freiwaldaus komponiert, trägt sie den Titel Das weiße Requiem. Die Farbe weiß symbolisiert dabei die Sphäre der Seligen, mit deren Tanz – im Kontrast zum eröffnenden schwarzen Tanz des Todes – das achtsätzige Werk nach etwa 70 Minuten schließt. Die Vokalstimmen, die im Laufe der Handlung die Toten, die Diesseitigen, die Überirdischen, die Überlebenden und die Seligen verkörpern, sind durchweg präsent, dennoch ist der Stil der Komposition, ähnlich anderen großen Chorsymphonien wie Schostakowitschs Dreizehnter, Petterssons Zwölfter oder Eliassons Quo Vadis, mit denen Leistner-Mayers Werk die Gegenüberstellung nicht zu scheuen braucht, echt symphonisch. Es gibt übrigens mit der Musik für Kontrabass und Orchester op. 38 und dem Konzert für Flöte, Harfe und Streichorchester op. 137 zwei gewichtige Kompositionen Leistner-Mayers, die noch ihrer Uraufführung harren. Welche Musiker möchten sich die Ehre erwerben?

Am stärksten im Schaffen des Komponisten vertreten ist die Kammermusik. Die Vielfalt der Kombinationen, für die Leistner-Mayer geschrieben hat, ist kaum zu überblicken. So hat er mittlerweile acht Streichquartette, drei Streichtrios, ein Nonett für Bläser und Streicher, jeweils ein Quintett für Klavier, Gitarre, Klarinette und Streichquartett, ein Bläserquintett, ein Flötenquartett, ein Quartett für vier Hörner, verschiedene Trios für Klavier in Kombination mit Streichern und/oder Bläsern komponiert. Unter den Duos finden sich große Sonaten für Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klarinette, jeweils mit Klavier. Dazu kommen unzählige kleinere Werke vom Solo bis zum Quartett. Eine gesonderte Gruppe stellen die bislang zehn Poeme dar, kleine Tondichtungen in freier Form für verschiedene Besetzungen. Mit Ausnahme von Nr. 10, die für Violine, Horn und Klavier geschrieben ist, handelt es sich um Duos. Im siebten und achten dieser Stücke ist das Hackbrett zu hören. Mit diesem Instrument verbindet Leistner-Mayer, der mit der Hackbrett-Virtuosin Heidi Ilgenfritz verheiratet ist, eine besondere Beziehung. Für seine Frau hat er eine ganze Hackbrett-Literatur verfasst: Solostücke, Duos für zwei Hackbretter, Kammermusik für ein, zwei oder vier Hackbretter mit anderen Instrumenten, sowie ein Konzert für Hackbrett und Streichorchester. Jedes dieser Werke beweist, dass das Hackbrett ein vollwertiges Konzertinstrument ist, dessen klangliches Potential in hochpoetischer Musik trefflich entfaltet werden kann.

Von zahlreichen kammermusikalisch oder kammerorchestral besetzten Werken Leistner-Mayers liegen CD-Aufnahmen vor, von denen die meisten beim Verlag Vogt & Fritz erschienen sind, der auch den Großteil seiner Partituren veröffentlicht hat. Sie sind entweder vom Verlag oder beim Komponisten selbst zu beziehen. In den vergangenen Jahren hat auch TYXart drei CDs mit Kammermusik Leistner-Mayers herausgebracht. Die erste ist ganz seinem Schaffen gewidmet und enthält die Streichquartette Nr. 5–7, gespielt vom Sojka-Quartett. Die beiden anderen kombinieren jeweils eines seiner Werke mit Stücken anderer Komponisten. So sind auf dem Album des Duos Maiss-You (Burkhard Maiss, Violine und Viola, und Ji-Yeoun You, Klavier) neben Leistner-Mayers Sonate für Viola und Klavier noch Violinsonaten von Béla Bartók (Nr. 2) und Leoš Janáček zu hören. Das Deutsche Streichtrio präsentiert als Streichtrios aus Böhmen Leistner-Mayers Streichtrio Nr. 3 gemeinsam mit dem Trio Nr. 2 von Bohuslav Martinů und stellt diesen beiden modernen Stücken Trios aus dem 18. Jahrhundert von Johann Baptist Vanhal und Vaclav Pichl gegenüber. Alle drei Alben sind nicht nur dazu geeignet, den Kompositionen Leistner-Mayers, sondern auch den anderen Werken Freunde hinzuzugewinnen, und können wärmstens empfohlen werden.

Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag ist nun Leistner-Mayers jüngstes Werk in die Öffentlichkeit getreten, das Streichquartett Nr. 8 op. 159. Wie man aus einer Notiz des Komponisten im Programmheft der Münchner Aufführung vom 28. Januar erfahren konnte, nennt er es Das Wirbelquartett. Der Titel greift die Bemerkung eines ungenannten Komponistenkollegen auf, der meinte, im Finalsatz des Werkes würden die Taktarten „ganz schön durcheinander wirbeln“, denn jeder Takt steht in einer anderen. Mit etwa 35 Minuten Spieldauer ist das viersätzige Werk nicht nur das bislang umfangreichste Streichquartett Leistner-Mayers, sondern auch eines seiner ausgedehntesten zyklischen Werke überhaupt. (Die meisten sonatenartigen Stücke des Komponisten dauern zwischen 15 und 30 Minuten. Die Dritte Symphonie ist eine Ausnahme.) Der äußeren Ausdehnung entspricht das innere Gewicht des Quartetts. Der erste Satz ist ein unruhiges, nervös gespanntes Stück, das ständig zwischen langsamen und raschen Tempi hin und her wechselt. Ihm schließt sich ein Scherzo feurig-tänzerischen Charakters an. Der langsame Satz schlägt in der Stimmung die Brücke zum den Kopfsatz. Ungefähr die Mitte zwischen einer Elegie und einem Trauermarsch haltend, steigert er sich zu einem machtvollen Höhepunkt und verklingt schließlich still. Das bereits erwähnte „Wirbel“-Finale bildet den Abschluss: ein energisch voran stürmender Satz, der Leistner-Mayers Fähigkeit, auch bei ständig wechselnden Takten die Musik in Fluss und Schwung zu halten, das beste Zeugnis ausstellt. Dem Sojka-Quartett (Martin Kos, Martin Kaplan, Tomáš Hanousek und Hana Vítková), das in dem zuvor gespielten Beethoven-Quartett op. 18/4 etwas schwächelte, namentlich im zu rasch genommenen Finale, gelang in diesem Werk eine Darbietung, die von den Qualitäten der Komposition vollends überzeugen konnte. Ist es vermessen zu hoffen, dass auch dieses neueste Streichquartett von Roland Leistner-Mayer bald in einer angemessenen Wiedergabe den Weg auf den Tonträger finden möge? Quartett-Ensembles, die nach guter zeitgenössischer Musik für ihre Konzerte suchen, sollten jedenfalls nicht an ihm vorüber gehen. Erschienen ist es bei edition 49, über welchen Verlag mittlerweile auch die bei Vogt & Fritz publizierten Werke zu beziehen sind.

Dem Komponisten sei zu seinem bald anstehenden 80. Geburtstag gewünscht, dass ihm seine kräftig fließende Inspiration möglichst lange erhalten bleibe, auf dass er der stattlichen Reihe seiner Werke noch zahlreiche Meisterstücke hinzufügen kann. Seine Musik, die sich nie der Mode gebeugt hat und Ausdruck einer leidenschaftlichen, empfindsamen Seele ist, wird schwerlich veralten können und – die Prognose möchte ich wagen – in ferner Zukunft noch so frisch und unverbraucht dastehen wie heute die Musik seines Vorbilds Janáček. Die Musiker brauchen nur hineinzugreifen in diese Fülle.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2025]