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Kostbarkeiten für Hausmusik und Konzert: Sorbische Volkslieder von Bjarnat Krawc

Musikproduktion Jürgen Höflich (Beyond the Waves), Artikelnummer: 5456

Das in der sächsischen und brandenburgischen Lausitz ansässige Volk der Sorben, das heute ungefähr 60 000 Angehörige umfasst, hat sich über Jahrhunderte hinweg, zeitweise starken Anfechtungen zum Trotz, eine eigenständige Kultur, einschließlich zweier eigener Sprachen (Ober- und Niedersorbisch), bewahren können. Eine Stütze der sorbischen Identität bildeten seit jeher Volkslied, Volkstanz und Kirchengesang. Östlich und westlich der Spree, zwischen Bautzen (Budyšin) und Lübben (Lubin) entwickelte sich auf dieser Grundlage seit dem 19. Jahrhundert eine Kunstmusiktradition, die nicht nur aufgrund der Verschmelzung deutscher und slawischer Einflüsse ein besonderes historisch-ethnologisches Interesse beanspruchen kann, sondern auch mehrere Komponisten hervorbrachte, die als bedeutende Künstler eigenen Rechts gelten dürfen.

Eine wunderbare Einführung in die sorbische Musikkultur bieten, nicht nur aufgrund ihres künstlerischen Wertes, sondern weil sie auch von Laienmusikern ohne größere Schwierigkeiten bewältigt werden können, die 33 wendischen Volkslieder op. 52/1 für Gesang und Klavier von Bjarnat Krawc (1861–1948). Von dieser Sammlung ist nun in der Reihe Beyond the Waves (Musikproduktion Jürgen Höflich, München) ein Nachdruck der 1925 im Leipziger Steingräber-Verlag herausgekommenen Erstausgabe erschienen.

Bjarnat Krawc (ausgesprochen: „Krauz“) trug, zu einer Zeit aufgewachsen, als die sächsischen und preußischen Behörden den Sorben gegenüber eine strikte Germanisierungspolitik betrieben, offiziell den deutschen Namen „Bernhard Schneider“, und war im deutschsprachigen Gebiet unter diesem bekannt. Veröffentlichungen, die nicht speziell für ein sorbisches Publikum gedacht waren, ließ er unter seinem deutschen Namen erscheinen. Seine zweisprachigen Volksliedbearbeitungen, die auch Deutschsprachige mit der sorbischen Musikkultur vertraut machen sollten, unterzeichnete er mit dem Doppelnamen „Schneider-Krawc“ oder „Krawc-Schneider“. Bis heute taucht der Komponist deshalb in der Literatur teils unter seinem sorbischen, teils unter seinem deutschen Namen, teils unter Kombinationen beider auf.

In der Geschichte der sorbischen Musik kommt Bjarnat Krawc eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Zwar hatte es schon vor ihm sorbische Komponisten gegeben, die sich an anspruchsvolleren Formen der Kunstmusik versuchten – hier ist vor allem Korla Awgust Kocor (1822–1904) zu erwähnen –, auch existierte zum Zeitpunkt seiner Geburt in der Lausitz bereits ein sorbisches Musikleben mit gefestigten Strukturen in Form regelmäßiger Sängerfeste, doch war Krawc der erste Sorbe, der an einem deutschen Konservatorium eine umfassende kompositionstechnische Ausbildung erhielt und dessen Kompositionen in relativ großer Zahl von deutschen Verlagen vertrieben wurden. Mit ihm fand die sorbische Kunstmusik Anschluss an die zeitgenössischen Entwicklungen im übrigen Deutschland.

Mit seiner Übersiedelung nach Dresden 1883 wurde Krawc-Schneider zum Grenzgänger – und blieb es ein Leben lang. Als gefragter Musikpädagoge und Leiter mehrerer deutscher Chöre, darunter des angesehensten sächsischen Frauenchors, war er fest in das Musikleben der Hauptstadt des Königreichs Sachsen integriert. Aber er fuhr regelmäßig in die Lausitz zurück, um als Dirigent und Organisator seinen Beitrag zum Ausbau des sorbischen Musiklebens zu leisten. Bereits in jungen Jahren knüpfte er zudem enge Kontakte nach Böhmen, wo er, musizierend und Vorträge haltend, immer wieder für die sorbische Musik warb. Konzertreisen mit einem sorbischen Chor in die Tschechoslowakei, nach Polen und Jugoslawien wurden zu späten Höhepunkten seiner Laufbahn. Die Verbindungen des Komponisten nach Prag erwiesen sich letztlich als überlebensnotwendig für sein Schaffen: Während der Zeit des Nationalsozialismus, als ihm von den deutschen Behörden der Reisepass entzogen und er an der Ausübung seiner Dirigententätigkeit gehindert worden war, hatte er heimlich mit Unterstützung tschechischer Freunde in Prag ein Archiv seiner Kompositionen anlegen lassen. Dadurch blieben zahlreiche der musikalischen Werke Krawcs erhalten, während sein übriger Besitz durch den alliierten Bombenangriff auf Dresden 1945 in Flammen aufging. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der mittellos gewordene Komponist ein letztes Mal zum Grenzgänger, als er ein Angebot des wiedererstandenen tschechoslowakischen Staates annahm, ins nordböhmische Varnsdorf überzusiedeln. Dort starb er 1948.

Ein Exemplar der Erstausgabe, Leipzig 1925. Die Widmungsträgerin Ruth Krawcec-Rawp (1900-1979) war eine geschätzte Opernsängerin. Ihr Sohn Jan Rawp (1928-2007) wurde einer der wichtigsten sorbischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Schaffen Bjarnat Krawcs umfasst, mit Ausnahme von Bühnenwerken, Kompositionen aller Gattungen: von der Klavierminiatur bis zur Symphonischen Dichtung, vom Lied bis zur Missa solemnis. Bei einem zahlenmäßig nicht geringen Teil seiner Werke handelt es sich um Bearbeitungen sorbischer Volkslieder, teils mehrstimmig für chorische Besetzungen, teils für Sologesang mit Klavierbegleitung. Welche Bedeutung ihnen der Komponist selbst beimaß, zeigt sich darin, dass er ihnen sämtlich Opuszahlen gab.

In Krawcs Liedbearbeitungen treffen die beiden seinen Kompositionsstil prägenden Haupteinflüsse unmittelbar aufeinander: die sorbische Volksmusik und die satztechnische Meisterschaft seines Dresdner Kompositionslehrers Felix Draeseke. Von Draeseke, dem er sich sehr verbunden fühlte (er stellte zur Aufführung von Draesekes Großer Messe op. 85 1912 eigens einen Chor zusammen und dirigierte 1913 auf dessen Totenfeier), hat Krawc die kontrapunktische Strenge übernommen, das Denken in gegeneinander geführten Melodielinien. Ganz wie sein Lehrer lässt Krawc die Musik abwechslungsreich durch harmonische Nebenstufen wandern und bringt wirkungsvoll chromatische Durchgänge und Ausweichungen ins Spiel. Seine Sätze stehen dabei immer auf fester diatonischer Grundlage und wahren den Bezug zum tonalen Zentrum. Die Nebenstimmen schmiegen sich den zugrunde liegenden Volksliedern passend an; nie hat man den Eindruck, die einfachen Melodien würden durch die Bearbeitung überfrachtet werden. Wie fein der sorbische Meister bei seiner Arbeit zu Werke geht, möge statt vieler Worte eine Probe aus Krawc op. 52/1 zeigen. Es handelt sich um das erste Lied der Sammlung:

Das ganze Opus, das nach der damals im Deutschen bevorzugten Bezeichnung der Sorben als Wenden „wendische Volkslieder“ heißt, ist zweisprachig. Neben dem sorbischen Originaltext sind alle Lieder mit einer vom Komponisten herrührenden deutschen Übersetzung unterlegt. Dass die Volksweisen für jeden Laien singbar sind, liegt in der Natur der Sache, aber auch die Begleitung bietet keine Hindernisse, die sich nicht von einem fleißigen Amateurklavierspieler bewältigen ließen. Es handelt sich kurzum um vorzügliche Hausmusik! Aber ebenso sollten professionelle Künstler an der Sammlung nicht vorüber gehen. Die schlichte Schönheit der Melodien und die kunstreiche, dabei nie aufdringlich gekünstelte Einfassung, die ihnen Bjarnat Krawc gegeben hat, lassen diese Kostbarkeiten der Volksliedbearbeitung auch im Rahmen eines Liederabends ihre Wirkung entfalten.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2022]

Das Christus-Mysterium von Felix Draeseke

Das Fest der Auferstehung Jesu Christi ist ein idealer Anlass, auf das umfangreichste geistliche Werk hinzuweisen, das die Chorliteratur deutscher Sprache besitzt: Felix Draesekes Christus. Ein Mysterium in einem Vorspiele und drei Oratorien.

Felix Draeseke (1835–1913) gehört zu den herausragenden Kirchenkomponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dass er der geistlichen Musik einen wesentlichen Stellenwert in seinem Schaffen beimessen würde, schien ihm geradezu in die Wiege gelegt, waren doch sein Vater und beide Großväter hochrangige protestantische Kirchenmänner. Zwar stand für Draeseke spätestens seit seinem 17. Lebensjahr, als er Wagners Lohengrin zum ersten Mal gehört hatte, fest, dass er entgegen der Familientradition Musiker werden wollte, doch verfügte er aufgrund seiner Herkunft über ausgezeichnete Bibelkenntnisse, die sich durchaus mit denen eines Fachtheologen messen konnten.

In jungen Jahren fiel Draeseke nicht mit geistlichen Komposition auf. Er schloss sich als Schüler des Leipziger Konservatoriums dem Kreis der „Zukunftsmusiker“ um Franz Brendel an und wurde bald als „ultraradikaler“ Vertreter der später „Neudeutsche Schule“ genannten Richtung in Nachfolge Franz Liszts und Richard Wagners bekannt. Seine Aufmerksamkeit galt damals vor allem germanischen Stoffen (Oper König Sigurd, Ballade Helges Treue op. 1, Kantate Germania an ihre Kinder). Dass er sich zu dieser Zeit theoretisch mit kirchenmusikalischen Fragen beschäftigte, geht jedoch daraus hervor, dass er 1859 ankündigte, auf der Gründungsversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Leipzig einen Vortrag über „Die protestantische Kirchenmusik und die Gründung einer festen Form für dieselbe, analog der katholischen Messform“ zu halten. (Den Vortrag sagte er damals kurzfristig ab, publizierte die darin enthaltenen Gedanken aber 1885 in dem Aufsatz „Kirchenmusikalische Zeitfragen“, erschienen in den Kirchlichen Monatsschriften).

In den 1860er Jahren machte Draeseke während eines längeren Aufenthalts in der Schweiz eine stilistische Metamorphose durch. Er ging auf Distanz zu seinen Frühwerken und betrieb intensive kontrapunktische Studien. 1870 wurde mit dem Lacrimosa op. 10 zum ersten Mal ein Kirchenmusikwerk Draesekes aufgeführt. Ihm folgten 1878 das Adventlied op. 30 (nach Friedrich Rückert) und 1881 das Requiem h-Moll op. 22, in welches das Lacrimosa eingearbeitet wurde. Diese Werke bildeten den Auftakt zu einem im Hinblick auf Gattungen, Besetzungen und Textwahl vielseitigen geistlichen Schaffen. Draeseke war zwar bekennender Protestant, sah allerdings in den festen Formen der katholischen Gottesdienstmusik ein nachahmenswertes Vorbild. Er vertonte die katholische Messe und das Requiem jeweils einmal mit Orchesterbegleitung, einmal a cappella, und schrieb mehrere lateinische A-cappella-Motetten. Daneben entstanden in deutscher Sprache drei Psalmen (opp. 56, 59, WoO 31), eine Sammlung geistlicher Lieder mit Klavierbegleitung (op. 75), die Osterszene nach Goethes Faust op. 39, und als bei weitem umfangreichste Arbeit das Mysterium Christus, dessen vier Teile die Opuszahlen 70 bis 73 umfassen.

Felix Draeseke, 1905

Die ersten Ideen zum Christus reichen bis in eine Zeit zurück, als Draeseke noch gar nicht mit geistlichen Werken öffentlich in Erscheinung getreten war. In diesem Sinne steht Christus sogar am Beginn seiner Laufbahn als Kirchenkomponist. Bis 1864 stellte der Komponist zusammen mit seinem Schwager, dem Pastor Adolf Schollmeyer, aus Bibelstellen den Text zusammen, doch dauerte es ganze drei Jahrzehnte, ehe er sich an die Vertonung wagte. Eine wesentliche Stütze bei dieser Arbeit war ihm seine Ehefrau Frieda, die er 1894 geheiratet hatte, und die als seine ehemalige Schülerin über große musikalische Sachkenntnisse verfügte. Ihren fortgesetzten Ermutigungen dankte Draeseke es, dass es ihm gelang, das riesige Projekt innerhalb von viereinhalb Jahren (zwischen Ostern 1895 und dem 15. September 1899) zum Abschluss zu bringen. In einem Brief an den Musikkritiker Eugen Segnitz, der für das Musikalische Wochenblatt eine Einführung schreiben wollte, äußerte Draeseke sich am 4. Februar 1903 ausführlich zur Entstehung des Christus:

Die Idee fasste ich schon im Anfang der [18]60er Jahre, zu welcher Zeit ich mit meinem Schwager, Pastor Schollmeyer zusammen das Textbuch fertig stellte. Aus dieser Zeit stammen auch einige grosse Themen, die ich nie aufgeschrieben, aber auch nicht vergessen habe, und später dann verwendete. 1864, als der später verschiedenartig umgeänderte Text vor mir lag, war ich mir klar dass ich das Werk auf meinem damaligen Standpuncte nicht bewältigen konnte und sehr grosse contrapunctische Vorarbeiten vorhergehen mussten, ehe daran zu denken war. Ausser dem Requiem [op. 22] waren es besonders die 6, 7 und 8stimmigen bei Kistner erschienenen Canons (op. 37) die mir jene Freiheit gaben, den Contrapunct genau so wie den freien Styl zu gebrauchen, sodass ich zu Zeiten mich in den Banden des Contrapunctes behaglicher gefunden habe, als wenn ich auf ihn verzichtete. – Aber es grauste mir lange vor der grossen Arbeit, die ich in meinem öden Junggesellendasein wol nicht geleistet hätte, und die unternommen und bis zum Ende geführt zu haben, ich im wesentlichen meiner lieben Frau verdanke. Als sie Ostern 1895 in die Kirche gegangen war hatte ich den Text des letzten (9ten) Oratorienteils, der mit der Auferstehung beginnt, aufs Clavier gelegt und den Chor der Grabeswächter geschrieben. Meine Frau bat mich gleich in dieser Weise fortzufahren und so war bis Himmelfahrt der Teil, soweit ich ihn vorläufig fertigstellen wollte (mit Ausnahme der Himmelfahrt und des grossen Schluss-Chores), vollendet worden. Im Mai 1899 ist dann das ganze Werk in Partiturschrift abgeschlossen worden; die Clavierauszüge habe ich nebenher und bald nachher auch persönlich gefertigt. Um das schwierigste und weniger dankbare zuerst zu versuchen machte ich mich an das zweite Christi Lehrtätigkeit umfassende Oratorium, und dann, als ich gefunden, dass es mir nicht so schwer angekommen sei, damit fertig zu werden, als ich erwartet hatte, an die zweite Abteilung des ersten Oratoriums, in der mich besonders die Versuchung durch Satan, […], sehr reizte. Da ich immer das ganze vor Augen hatte, sorgte ich dann für den Rahmen indem ich den Schluss des letzten Teiles ausführte: Himmelfahrt und Endgesang des ganzen Werkes welchem ich sofort den Anfangschor desselben folgen liess mit dem daran sich anschliessenden Vorspiel. Ein dritter grosser Höhepunct war schon der Schluss-Chor des IIten Oratoriums, IIte Abteilung, nach Auferstehung des Lazarus geschaffen worden, […]. Dann machte ich mich an die Passion, und schliesslich an den Johannes den Täufer vor dem ich mich am meisten fürchtete, der aber, wie ich hoffe den andern Teilen nicht nachsteht. –

Das ganze ist entschieden aus religiösem Bedürfnisse hervorgegangen und ich habe die angenehme Genugtuung gehabt, dass speciell positiv christlich gesinnte Hörer mir kundgegeben haben, dass sie und ihr religiöses Empfinden woltuende Eindrücke vom ‚Christus‘ empfangen haben. Nach der musicalischen Seite hin waren mir diese Bekenntnisse deswegen so sehr wertvoll, weil ich, […], mich durchaus als moderner Musiker gerirt und unbedenklich die Ausdrucksmittel meiner Zeit zur Darlegung meiner Gedanken in Anspruch genommen habe. Mit irgendwelchem Academismus wäre da nichts lebenvolles zu erzielen gewesen und gerade die Behandlung des Contrapunctes die hier zu Tage tritt dürfte sich wol in vollem Einklange befinden mit den in der Einleitung meines […] theoretischen Buches [Der gebundene Styl, Hannover 1902] stehenden Worten: Anschauungen nach welchen der Contrapunct ein unveränderliches Ansehen bewahren müsse und die Verehrung einer alten wohlconservierten Mumie in Anspruch zu nehmen habe, werden von der belehrenden Luft der Gegenwart rettungslos fortgeweht werden.“

Draesekes Christus ist nicht der erste Oratorienzyklus, der das Leben Christi zum Thema hat. Bereits Jahrzehnte zuvor hatten Sigismund Neukomm und Friedrich Schneider ähnliche Vorhaben verwirklicht. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Kompositionen und Draesekes Mysterium besteht in der streng zyklisch angelegten musikalischen Gestaltung des letzteren. Zwar besteht Christus aus „einem Vorspiel und drei Oratorien“, doch werden diese vier Teile durch gemeinsame Leitmotive miteinander verknüpft, sodass das ganze Mysterium nicht als Folge von vier Werken, sondern tatsächlich als ein einziges großes Werk erscheint. Diese Idee ist ohne Richard Wagner nicht zu denken, den Komponisten, dessen Musik Draeseke einst dazu brachte, die Musikerlaufbahn einzuschlagen, und der ihm bis zuletzt als „einzig maßgebender“ unter den neueren Tonsetzern erschien. Der Einfluss Wagners zeigt sich auch in der Anlage des Textes: Es gibt bei Draeseke keinen Evangelisten, der in der dritten Person das Geschehen erzählt. Stattdessen haben der Komponist und sein Schwager die Bibel konsequent dramatisiert. Eine szenische Aufführung wurde von Draeseke allerdings stets abgelehnt. Er betrachtete Christus nicht als geistliche Oper, sondern als genuines Stück Kirchenmusik, wenn auch in modernster Gestalt.

Wer aber an das Mysterium herangeht in der Erwartung, es mit einer Art geistlichem Ring des Nibelungen zu tun zu haben, und entsprechend ein stilistisch Wagner sehr nahes Stück vermutet, wird wohl enttäuscht werden. Bei aller Verehrung, die er dem älteren Meister entgegenbrachte, griff er nur in begrenztem Maße auf dessen Stilmittel zurück. Vor allem fällt auf, dass Draesekes Musik kleingliedriger ist als diejenige Wagners, dass er die für Wagner insbesondere ab Tristan und Isolde charakteristischen außerordentlich langsamen Zeitmaße nicht für sich übernommen hat. Auch hat Draeseke kein Geheimnis daraus gemacht, dass ihm an klaren tonalen Zentrierungen sehr gelegen war. Es müssten, schrieb er 1907 in einem Aufsatz namens „Was tut der heutigen musikalischen Produktion not?“, „gewisse Töne als Haupttonarten für eine zeitlang festgehalten, darf besonders die Ruhe der Themen nicht durch flatternde Modulationen erschüttert werden, […]. Bereichern mag man die Haupttonart so viel man wünscht und durch Hereinziehen selbst der fremdesten Töne, – aber für eine gewisse Zeit und besonders in den Themen sie festhalten, vergesse man ebenfalls nicht, soll die Verständlichkeit des Ganzen nicht leiden und die Einheit der Schöpfung nicht in Gefahr geraten.“ Draeseke ist ein außerordentlich einfallsreicher Harmoniker mit einer auffallenden Vorliebe für subdominantische Wendungen (die Doppelsubdominante hat in seinem Vokabular einen festen Platz), doch vermeidet er mehrdeutige Harmonien, wie sie im Gefolge von Wagners Tristan-Akkord aufkamen. Ein festgefügtes harmonisches Fundament ist Draeseke nicht zuletzt deshalb wichtig, da seine Musik im Allgemeinen stärker auf kontrapunktische Techniken gegründet ist als diejenige Wagners. In der Vorrede zum Christus heißt es:

Gewissen Anschauungen gegenüber, nach welchen der Contrapunkt in der Kirchenmusik sehr zu beschränken, womöglich gar zu verbannen wäre, steht der Komponist auf dem alten Standpunkte, in dem ihm genanntes Kunstmittel für den kirchlichen Stil absolut so nötig dünkt, wie das Brot fürs tägliche Leben.“

Alle großen geistlichen Werke Draesekes sind nach diesem Grundsatz entstanden. Das Hauptgewicht liegt immer auf den Singstimmen, die sämtlich selbstständig geführt werden. Das Orchester, wenn vorhanden, lässt Draeseke betont zurückhaltend agieren. Über weite Strecken stützt es den Chor durch Colla-parte-Spiel. Der virtuose Instrumentator, als den man Draeseke aus seinen Symphonien und Tondichtungen kennt, zeigt sich auch in den kirchlichen Werken, stellt seine Kunst aber hier völlig in den Dienst der Hervorhebung melodischer Linien. Umso frappierender wirken die sicher angebrachten koloristischen Effekte in bestimmten herausgehobenen Momenten. Das Christus-Mysterium stellt aufgrund seines enormen Umfangs von etwa fünf Stunden einen besonderen kontrapunktischen Kraftakt dar, der auch von den Ausführenden als solcher bewältigt werden will. Solisten und Chorstimmen müssen es verstehen, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen und gut aufeinander zu hören. Der Dirigent muss ein sicheres Gefühl für Polyphonie besitzen, um alle Feinheiten des „gebundenen Styls“ in Chor und Orchester zur Geltung zu bringen. Kapellmeister, die lediglich die jeweilige Oberstimme hervorzuheben und die übrigen als undifferenzierte Begleitung zu behandeln pflegen, stehen in diesem Werk auf verlorenem Posten.

Der Christus gliedert sich in vier Hauptteile, die Leben und Wirken Christi von der Geburt bis zur Auferstehung schildern:

Vorspiel: Die Geburt des Herrn op.70

Erstes Oratorium: Christi Weihe op.71

Zweites Oratorium: Christus der Prophet op.72

Drittes Oratorium: Tod und Sieg des Herrn op.73

Jeder dieser Hauptteile übertrifft den vorangegangenen an Länge. Das Vorspiel dauert ungefähr 35 Minuten und eignet sich deshalb zu einer Aufführung mit dem etwa einstündigen Ersten Oratorium an einem Abend. Zweites und Drittes Oratorium sind dagegen mit rund anderthalb bzw. zwei Stunden abendfüllend. Der Komponist hat ausdrücklich betont, dass nicht nur jedes einzelne Opus der Tetralogie separat aufgeführt werden kann, sondern auch einzelne Abteilungen daraus. Insgesamt besteht das Mysterium aus neun Abteilungen, die jeweils einem Opernakt entsprechen. Das Erste Oratorium umfasst zwei, die beiden anderen jeweils drei, das Vorspiel ist eine Abteilung für sich. Aus dem Kontext gelöst, ergeben sich auf diese Weise neun Kantaten, die zu verschiedenen kirchlichen Anlässen verwendet werden können. Der Zusammenhang aller Teile miteinander wird freilich nur in einer Gesamtaufführung deutlich. Auch erschließt sich auf diese Weise die Bedeutung der drei Leitmotive besser, die das Werk durchziehen. Zwei davon sind Christus zugeordnet. Das erste Christus-Motiv, das wichtigste Motiv des Werkes, ist eine dem gregorianischen Choral entlehnte, im Rahmen einer Quarte ab- und wieder ansteigende Melodielinie:

Das zweite verdeutlicht Christus den Erlöser. Es handelt sich um eine auf Dreiklangstönen basierende Fanfare:

Diesen beiden Christus-Motiven steht das Satans-Motiv gegenüber, das nicht nur während des einzigen tatsächlichen Auftritts Satans (Oratorium I, Abteilung 2) erklingt, sondern auch andere Gegenspieler Jesu charakterisiert und sie damit als Satans Verbündete kennzeichnet. Im Gegensatz zu den Motiven Christi, ist das Satans-Motiv durch den Tritonusabstand zweier Moll-Harmonien in sich gespannt:

Draesekes Christus erregte seinerzeit große Aufmerksamkeit im Musikleben Deutschlands, doch kam es zunächst aufgrund der großen Ansprüche, die das Werk an die Ausführenden stellt, jahrelang nur zu Aufführungen einzelner Oratorien oder Abteilungen des Mysteriums. Erst 1912, verteilt auf den 6., 13. und 20. Februar, fand im Großen Saal der Berliner Musikhochschule durch den Bruno-Kittel-Chor und das Blüthner-Orchester unter Leitung von Bruno Kittel die erste Gesamtaufführung statt. Die Titelrolle sang der Bariton Albert Fischer. Kurz darauf, am 5., 12. und 16. Mai, folgte eine zweite Wiedergabe des kompletten Werkes in Dresden, der Heimatstadt des Komponisten. Auch hier dirigierte Bruno Kittel seinen Chor, der durch zwei Dresdner Vereine verstärkt wurde. Den Christus sang Karl Perron, die Instrumentalbegleitung übernahm die Städtische Kapelle Chemnitz. Als Reaktion auf diese Konzerte wurde Draeseke die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität verliehen, und die Stadt Dresden gestand ihm einen jährlichen Ehrensold von 3000 Mark auf Lebenszeit zu. Von letzterem konnte der Komponist nur noch die erste Zahlung in Empfang nehmen, da er wenige Monate später starb.

Auch wenn Teile des Christus weiterhin gelegentliche Darbietungen erfuhren, erklang das Werk in voller Länge erst 1990 wieder, als Udo-Rainer Follert es in Speyer dirigierte. Ein Jahr später folgte unter Hermann Rau in Heilbronn die vierte Gesamtaufführung. Draesekes Christus ist ein langes, ungemein anspruchsvolles Werk, aber auch das erklärte Magnum Opus eines Großmeisters der Chorpolyphonie. Dirigenten, Sängern, Instrumentalisten, die ein besonderes Vergnügen daran haben, vielstimmig ineinander verflochtene Linien zum klingenden Leben zu erwecken, bietet sich in dieser Tetralogie ein Schatz gewaltigsten Ausmaßes. Ihn gewinnt, wer ihn zu heben versteht!

Aufnahme und Noten

Von der Speyerer Aufführung 1990 existiert ein Mitschnitt, der bei Bayer Records auf fünf Cds veröffentlicht worden ist. Er stellt bislang das einzige Tondokument des Christus dar:

Bayer Records, BR 100 175–179; EAN: 4011563101758

Phillip Langshaw (Christus, Bariton), Carola Bischoff (Sopran), Adelheid Vogel (Sopran), Elvira Dreßen (Alt), Karl Markus (Tenor), Bernd Kämpf (Bass), Jürgen Sonnenschmidt (Orgel), Evangelische Jugendkantorei der Pfalz, Heilbronner Vokalensemble, Pfälzische Kurrende, Staatliche Philharmonie Breslau, Udo-Rainer Follert (Dirigent)

Eine vorläufige Edition des Notentextes aller vier Hauptteile hat die Internationale Draeseke-Gesellschaft auf imslp zur Verfügung gestellt (siehe hier).

Zu Lebzeiten Draesekes wurden nur das Vorspiel und das Dritte Oratorium als Partitur veröffentlicht. Nachdrucke dieser Ausgaben sind bei Musikproduktion Jürgen Höflich, München, erhältlich.

[Norbert Florian Schuck, April 2022]

Ebenbild

PASCHENrecords, PR 220072; EAN: 4250976100723

Unter dem Titel Ebenbild präsentieren Juri Vallentin, Oboe, und das (Streich-)Trio d’Iroise ein durch verschiedene Länder und Zeiten führendes imaginäres Konzert, dessen Leitfaden das Lied Mein G’müt ist mir verwirret (bzw. O Haupt voll Blut und Wunden) bildet. Eingespielt wurden Werke von Hans Leo Haßler, Johann Sebastian Bach, Johann Gottlieb Janitsch, Charles Bochsa, Frederick Septimus Kelly und Theo Verbey.

1601 veröffentlichte Hans Leo Haßler (1564–1912) in seinem Lustgarten neuer deutscher Gesäng das Lied Mein G’müt ist mir verwirret. Fügt man die Anfangsbuchstaben der fünf Strophen zusammen, ergibt sich der Name der „Jungfrau zart“, die der unbekannte Dichter besingt: Maria – es kann also auch die Mutter Gottes gemeint sein. Damit reicht das Liebeslied in die geistliche Sphäre hinüber, der es später durch verschiedene Umtextierungen ganz einverleibt wurde. Als Wie soll ich Dich empfangen, vor allem aber als O Haupt voll Blut und Wunden wurde es zu einem der bekanntesten geistlichen Lieder deutscher Sprache.

Der Oboist Juri Vallentin und das Trio d’Iroise – Sophie Pantzier (Violine), François Lefèvre (Viola) und Johann Caspar Wedell (Violoncello) – haben Haßlers Lied als Leitfaden ihres Albums Ebenbild ausgewählt. Die CD enthält nicht einfach nur einzelne Stücke, die mehr oder weniger in Beziehung zueinander stehen, sondern bietet ein imaginäres Konzert, dessen Programm von den Musikern sorgfältig „komponiert“ wurde und in einem Zug, als ein großer Spannungsbogen, gehört werden will. Regelmäßig erscheint darin Haßlers Melodie: Sie findet ihr „Ebenbild“ in verschiedenen Bearbeitungen, teils ist sie nur als Anklang präsent – und manchmal verschwindet sie auch ganz, um später wieder aufzutauchen.

Zu Beginn erklingen die Diminutionen, die Hans Leo Haßler selbst über sein Lied geschrieben hat. Es handelt sich um Figuralvariationen, in deren Verlauf die Notenwerte der das Thema umspielenden Kontrapunkte immer stärker „dimininuiert“, also verkleinert, werden. Im Folgenden fungieren vier Bearbeitungen der Melodie durch Johann Sebastian Bach – drei aus der Matthäus-Passion, eine aus dem Weihnachtsoratorium – als Rückgrat des Programms. Der zyklische Charakter der Vortragsfolge wird unterstrichen, indem die Musiker das Ende jedes dieser fünf Stücke in einen ganz leisen Orgelpunkt überführen, über welchem anschließend die Schauspielerin Caroline Junghans jeweils eine Strophe des Originaltextes rezitiert.

Dazwischen nehmen uns Juri Vallentin und das Trio d’Iroise auf eine abwechslungsreiche Reise durch Länder und Zeiten mit. Zunächst führt sie ins friderizianische Berlin, zu Johann Gottlieb Janitsch (1708–1762), einen Hofmusiker Friedrichs des Großen, der Mitte des 18. Jahrhunderts als erster in der preußischen Hauptstadt öffentliche Konzerte für ein bürgerliches Publikum veranstaltete. In seiner Quartettsonate g-Moll – den Basso continuo ergänzt am Cembalo Bernward Lohr – spart Janitsch nicht mit galanten Melodien, doch seine musikalische Muttersprache ist der strenge barocke Kontrapunkt. Werke wie diese Sonate machen so recht verständlich, warum sich gerade Berlin nach 1750 zu einem Zentrum der Pflege Johann Sebastian Bachs entwickelte: Man wusste dort den Ernst dieser Kunst zu schätzen und nahm sie sich zum Vorbild zu eigener schöpferischer Arbeit. Der dritte Satz der Sonate verarbeitet O Haupt voll Blut und Wunden in der Art einer Choralbearbeitung. Die Melodie hat Janitsch mit empfindsamen Verzierungen versehen.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg komponierte der am Frankfurter Konservatorium ausgebildete Australier Frederick Septimus Kelly (1881–1916) ein Streichtrio, aus dem hier der langsame Satz, die Romance, zu hören ist. Sie beginnt mit Pizzicati der tiefen Streicher, über denen sich eine Violinkantilene ausgiebig entfalten darf. Im Mittelteil wechselt die Musik von Dur nach Moll und alle drei Instrumente werden gleichermaßen am Geschehen beteiligt, das durch expressive Melodik beeindruckt. Immer wieder scheinen Wendungen aus Haßlers Lied aufzublitzen, wobei man sich fragt, ob Kelly dies beabsichtigt hat, oder ob es nur aufgrund des Kontextes so wirkt, in den das Stück in der vorliegenden Aufnahme gestellt wurde. Immerhin erscheint eine Andeutung von Mein G’müt ist mir verwirret wahrscheinlich, da der Komponist das Werk für seine Kammermusikpartnerin, die Geigerin Jelly d’Arányi geschrieben hat, die ihn schwärmerisch verehrte. Bedenkt man aber, dass Kelly als Soldat im Ersten Weltkrieg sein Leben verlor, wirken die Anklänge an O Haupt voll Blut und Wunden wie eine düstere Vorahnung.

Ein verspieltes Intermezzo erklingt in Gestalt des Oboenquartetts in d-Moll von Charles Bochsa, einem nach Frankreich ausgewanderten Böhmen, über dessen Leben wenig bekannt ist, der aber der Generation Mozarts angehören dürfte und 1821 starb. Melodiebetont, in freundlichem Serenadenton gehalten und dem effektvollen Brillieren nicht abgeneigt, bietet das nur aus Allegro und Rondo bestehende Werk angenehme Unterhaltung in einem Stil, der eher „frühromantisch“ als „klassisch“ anmutet.

Mit den 4 Preludes to Infinity des Niederländers Theo Verbey (1959–2019) gelangen wir in die jüngste Vergangenheit. Die vier kurzen Stücke zeugen von der Fähigkeit ihres Komponisten, einem kleinen Kammerensemble eine Vielzahl reizvoller Klänge zu entlocken. Verbey lässt keinen Zweifel daran, dass er den Bezug zur Vergangenheit sucht. Frühere Epochen spiegeln sich deutlich in jedem der Stücke. Die ersten beiden – ein mysteriös tremolierendes Vorspiel und ein Scherzino im Gigue-Tempo – stehen in französisch-impressionistischer Tradition. Die ruhige Nr. 3 kommt ganz ohne „Modernismen“ aus, die Harmonik gemahnt in ihrer Schlichtheit an die Renaissance – wodurch ein Bogen zu Haßler geschlagen wird. Nr. 4 ist offensichtlich eine Hommage an Sibelius‘ Schwan von Tuonela.

Das imaginäre Konzert endet offen, denn am Schluss steht ein unvollendetes Werk: der Contrapunctus XIV aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Die Realisierung als Stück für Oboe und Streichtrio ist insofern problematisch, als dass die von der Oboe gespielte Stimme automatisch hervorsticht und die anderen Stimmen auch dann in den Hintergrund drängt, wenn sie eigentlich einer von ihnen den Vorrang lassen müsste.

Juri Vallentin und das Trio d’Iroise musizieren durchweg auf sehr hohem Niveau. Die Aufführungen wurden sorgfältig einstudiert, wie die feinen Differenzierungen in der Dynamik verraten, die allenthalben anzutreffen sind. Überlegte Phrasierungen zeugen von einem Sinn aller Beteiligten für melodische Entwicklung. Besonders loben muss man die Musiker dafür, dass sie die Stücke Haßlers, Bachs und Janitschs nicht einer bekannten Mode folgend in Form überakzentuierter Notentextreferate dargeboten haben, sondern wirklich – im wahrsten Sinne des Wortes – Zwischentöne hörbar machen. Im Falle des diskographisch bislang noch kaum erkundeten Janitsch kann man durchaus von einer Referenzaufnahme sprechen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Ein Quartett für den Frieden: Robert Simpsons Streichquartett Nr. 10

CD: Hyperion CDA66225; EAN: 0 34571 16225

Noten: Roberton Publications 95448

Robert Simpson war Symphoniker durch und durch. Wie nur wenige andere Komponisten seiner Zeit beherrschte der 1921 geborene Brite die Kunst des Spannungsaufbaus über lange Strecken hinweg. Motivisch dicht gearbeitet, meist nur wenige motivische Zellen fortwährend variierend, dabei von einer nirgends nachlassenden Bewegungsenergie getragen, sind seine rund 60 Kompositionen durchweg Meisterleistungen in der Gestaltung großer Zusammenhänge. In einigen seiner Werke finden sich Abschnitte, die zum Eruptivsten gehören, was im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. So entfalten beispielsweise die Ecksätze der Fünften Symphonie eine geradezu manische Aktivität; zwei Blechbläserstücke werden durch ihre Titel Volcano und Vortex hinreichend charakterisiert; und der Schlussteil der Siebten Symphonie dürfte wohl der mächtigste Eissturm sein, den je ein Komponist durch den Konzertsaal hat tosen lassen.

Simpson komponierte nicht aus der abgesicherten Position akademisch kodifizierter Regeln heraus. Seine Motivtransformationen, seine Stimmführung, seine Harmonik wirken im besten Sinne abenteuerlich. Die Form eines Stückes war für ihn nichts, das sich im Vorhinein festlegen ließe, sondern ergab sich immer aus dem jeweiligen Kompositionsprozess, der durchaus auch für den Komponisten selbst Überraschungen bereit halten konnte. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung während des Schaffens umschrieb er einmal dergestalt, dass er sich daran erfreue, ein wildes Tier („beast“) loszulassen und es dann zu reiten.

Die Ausbrüche und großen Steigerungen der Simpsonschen Musik stehen freilich stets in einem Kontext, der auch Momente der Ruhe und Einkehr umfasst. Die beiden erwähnten Symphonien enden leise und enthalten ausgedehnte langsame Abschnitte, die sich kaum übers piano erheben. Auch große Teile der raschen Sätze Simpsons spielen sich im piano-Bereich ab. Der häufige Gebrauch von Vortragsbezeichnungen wie tranquillo, dolce und cantabile sollte zudem eine Warnung davor sein, den Komponisten auf die schroffen und kantigen Charakteristika seines Schaffens zu reduzieren.

Die Weltanschauung dieses Mannes, der fähig war Musik von äußerster Heftigkeit zu schreiben, war zutiefst pazifistisch. Er wuchs in einer Familie auf, deren sämtliche Mitglieder in der Heilsarmee aktiv waren. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er als Neunjähriger zum entschiedenen Gegner aller kriegerischer Handlungen, nachdem er auf einer Heilsarmee-Veranstaltung die Rede eines ehemaligen Soldaten über dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Beeindruckt vom Wirken Albert Schweitzers schwankte Simpson als junger Mann eine Zeit lang, ob er Musiker oder Mediziner werden sollte. Als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Kriegsdienst eingezogen wurde, verweigerte er den Dienst an der Waffe und verbrachte den Rest des Krieges als Mitglied einer mobilen Sanitätseinheit. In der Nachkriegszeit verfolgte er das atomare Wettrüsten der beiden Machtblöcke mit großer Sorge. Zunehmend abgestoßen von dem aufrüstungsfreudigen Kurs der Regierung Thatcher verließ er Großbritannien 1986 und zog nach Irland.

Ein schwerer Schlaganfall riss Simpson 1991 aus der produktivsten Phase seines Lebens. Hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren rund die Hälfte seines Lebenswerks geschaffen, so gelang es ihm bis zu seinem Tode 1997 nur noch, ein bereits begonnenes Streichquintett fertigzustellen. Zu den Projekten, die Simpson nicht mehr realisieren konnte, gehört seine Zwölfte Symphonie, die als Chorsymphonie gedacht war. Es hat sich allerdings ein Programm erhalten, demzufolge das Werk die Evolution des Lebens zum Thema haben und auf eine pazifistische Botschaft hinauslaufen sollte:

„I. The formation of the sun and solar systems in a gas cloud.

II. The appearance of the most primitive form of live.

III. Division into plant and animal kingdoms.

IV. The active, aggressive animal – the growth of intelligence.

V. Violence. The aggressive stimulus to inventiveness.

VI. Wisdom. At all times it has existed, but has never been able to prevent the pervasive violence.

VII. The species has hitherto been able to survive its own violence, but no longer. Now it can destroy itself.

VIII. Non-violence or non-existence (Martin Luther King). The laws of chance provide for no other solution.“

Ein ausdrücklich dem Thema „Frieden“ gewidmetes Werk existiert jedoch aus Simpsons Feder: das Streichquartett Nr. 10, dem er den Titel For peace gab. Es entstand 1983 im Auftrag des dem Schaffen des Komponisten besonders verbundenen Coull Quartet, das am 23. Juni 1984 in der University of Warwick die Uraufführung spielte. Im Vorwort zur Partitur schrieb Simpson, diese Musik sei „kein Ausdruck quälender Angst“, sondern „versuche den Zustand des Friedens zu definieren“. Wie das Programm zur Zwölften Symphonie verrät, sieht Simpson den Frieden als Entschluss der Menschen gegen die Entfesselung der zerstörerischen (und selbstzerstörerischen) Kräfte, die ihnen durch die Evolution zuteil geworden sind. Es geht um den bewussten Umgang mit etwas, das in der Welt ist und weder ungeschehen gemacht, noch geleugnet werden kann. Frieden zu halten ist mithin ein Akt der Entscheidung und des Handelns.

Wie schlägt sich das in der Musik nieder? Simpson hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts davon hielt, die auf Quintverwandtschaften aufgebaute Tonalität durch präfixierte Systeme wie die Zwölftontechnik zu ersetzen. Er arbeitet immer mit tonalen Bezügen. Allerdings vermeidet er weitgehend den Einsatz klassischer Dominantharmonien und hält stattdessen die Musik nahezu durchgehend in einem harmonischen Schwebezustand. Bereits die Themen selbst durchschreiten in der Regel mehrere tonale Zentren. Simpson denkt polyphon und bildet durch Stimmführung eine Vielzahl Vorhaltsdissonanzen unterschiedlicher Spannungsgrade, die er oft nicht auflöst. Daraus ergibt sich, dass in seiner Musik über lange Strecken Dissonanzen auf Dissonanzen folgen. Verwundert es angesichts dieser Stilmittel, dass er sein Komponieren als einen Ritt auf einem wilden Tier beschrieb? Eine latente Spannung ist also bei Simpson immer vorhanden, auch im Streichquartett „für den Frieden“. In diesem Werk enthält er sich nach eigenen Worten der „Agressionen, nicht aber der starken Gefühle“. Die Herausforderung bestand für den Komponisten offenbar darin, mit Stilmitteln, die zur Schärfung des Tons und zur Zuspitzung konflikthafter Situationen bestens geeignet sind, ein Werk friedlichen Grundcharakters zu schaffen.

Simpsons Zehntes Streichquartett ist dreisätzig und dauert ungefähr 27 Minuten. Einem Allegretto-Kopfsatz (3/4-Takt) folgt ein ganz kurzes, scherzoartiges Prestissimo (2/4-Takt). Das Finale ist ein langsamer Satz (Molto Adagio, 3/4-Takt, am Ende 9/8-Takt bei gleichem Tempo), der allein etwa zwei Drittel der Gesamtspielzeit einnimmt. Satzfolge und Proportionen des Werkes erinnern an Beethovens Klaviersonate op. 109, allerdings ist nicht bekannt, ob Simpson – immerhin einer der besten Beethoven-Kenner – eine Anspielung an dieses Stück beabsichtigt hat. Alle drei Sätze sind überwiegend leise gehalten, aber jeder von ihnen steigert sich gegen Ende zu einem Höhepunkt im fortissimo, bevor sich die Musik wieder beruhigt. Dass der Frieden durchaus gefährdet ist, macht vor allem der letzte Satz deutlich. Sein Hauptgedanke ist ein Doppelthema, dessen zwei Stimmen vorwiegend in konsonanten Zusammenklängen geführt werden, wobei sich keine eindeutige Tonika durchsetzt. Es gewinnt im Laufe des Satzes durch rhythmische Variation ein wenig an Lebhaftigkeit, ohne dadurch seine ruhige Grundstimmung einzubüßen. Auch verbleibt die Musik über weite Strecken in der Zweistimmigkeit. Umso mehr überrascht das Fugato im letzten Satzdrittel. Mit der Ruhe ist es hier schlagartig vorbei: Alle vier Instrumente spielen durchweg fortissimo, immer kleinere Notenwerte dominieren das Geschehen und scheinen das Adagio in ein entfesseltes Allegro verwandeln zu wollen. Da besinnt sich die Musik plötzlich eines anderen und sinkt ins pianissimo zurück. Die erste Violine spielt eine graziöse Melodie, ein letztes Mal erscheint das Hauptthema in seiner Anfangsgestalt, und das Werk verklingt in einem ganz leisen Quartsextakkord.

Im Rahmen dieser kurzen Vorstellung ist es unmöglich, auf die ganzen Feinheiten ausführlich einzugehen, die dieses Quartett (wie auch die übrigen Streichquartette Simpsons) bietet. Wer hören will, wie Robert Simpson sich die musikalische Umsetzung des Friedens dachte, greife zu der Einspielung, die das Coull Quartett 1986 für Hyperion gemacht hat. Die Partitur ist 1990 bei Roberton Publications erschienen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Tribut an das „unergründliche Leben“ – Halvor Haug zum 70. Geburtstag

Photo © Kristina Fryklöf

Wenn im Schlussteil der Dritten Symphonie Halvor Haugs plötzlich mittels Tonband ein Sprosser (die nordische Nachtigall) zu singen beginnt und sich die Hauptmotive des Werkes um diesen Gesang herum völlig zwanglos gruppieren, dabei zugleich die musikalische Entwicklung so schlüssig zum Ende führen, dass einzig dieser Ausklang für das Stück passend erscheint, dann merkt man als Hörer, dass man Zeuge eines Triumphs künstlerischer Originalität geworden ist, wie er nur einem Komponisten gelingt, dessen für die Welt und für seine innere Stimme gleichermaßen offenes Ohr ihn zu einer Persönlichkeit von ausgeprägter Eigenart hat werden lassen. Dass Haug für den Vogelruf nicht auf ein beliebiges Tondokument zurückgriff, sondern auf eine von ihm selbst gemeinsam mit dem Dirigenten Ole Kristian Ruud während einer Wanderung gemachte Aufzeichnung, verdeutlicht, welch große Bedeutung dem intensiven Erleben der Natur und ihrer elementaren Klangphänomene für seine kompositorische Arbeit zukommt. Eine seiner Tondichtungen setzt im Gewand des Streichorchesters dem Gesang der Tannen ein Denkmal, die vor seinem Arbeitszimmer standen, bis sie einem Bauprojekt zum Opfer fielen. In einer andern übersetzte er eine Winterlandschaft in Musik. Zu seinen Frühwerken, die ihn ab den 1970er Jahren bekannt machten, gehört eine der spannendsten Unternehmungen Die Stille hörbar werden zu lassen – ein veritables kleines Instrumentaldrama für Streichorchester. Von den Tagesmoden des Musikbetriebs unbeirrt, ist der 1952 geborene Norweger stets den Weg gegangen, der ihm als der richtige erschien. Er gehört zu jenen Komponisten, deren Schaffen eine Kategorie für sich bildet, an welchen alle Versuche, sie einer bestimmten „Schule“ oder „Stilrichtung“ zuzuordnen, scheitern müssen. Am 20. Februar wird Halvor Haug, einer der großen skandinavischen Tondichter unserer Zeit, 70 Jahre alt.

Halvor Haug wurde in Trondheim geboren und wuchs in Bærum nahe Oslo auf. In seiner Kindheit spielte Musik eine wichtige Rolle: Er erlernte frühzeitig das Klavier- und Trompetenspiel und gehörte insgesamt neun Jahre lang einem Bläserensemble an. Jedoch war das Musizieren damals nur eines von vielen Interessengebieten eines Jungen, der sich bevorzugt in der freien Natur aufhielt und viel Sport trieb. Mit 17 Jahren begann er, sich intensiver mit klassischer Musik auseinanderzusetzen, und nahm bald darauf ein Studium am Østlandets Musikkonservatorium in Oslo auf, wo sein Theorielehrer Kolbjørn Ofstad (1917–1996) sein Kompositionstalent erkannte und ihn ermutigte, seine ersten Klavierstücke für Orchester zu bearbeiten. 1973 ging Haug nach Helsinki und studierte ein Jahr lang an der Sibelius-Akademie bei Erik Bergman (1911–2006), einem der Pioniere des Modernismus in Finnland, und dem vor allem als Symphoniker bekannten Einar Englund (1916–1999), dem er gründliche Unterweisungen in russisch geprägter Orchestrierungstechnik verdankte. Nachdem er sein Studium in Oslo bei seinem früheren Lehrer Ofstad abgeschlossen hatte, schrieb er mit dem Symphonischen Bild 1975/76 sein erstes von ihm als vollgültig anerkanntes Werk. Das Stück erregte die Aufmerksamkeit der Dirigenten Okko Kamu und Per Dreier, die es in ihre Programme aufnahmen und dadurch dem jungen Komponisten zu ersten Erfolgen verhalfen. 1978 brach Haug zu einem einjährigen Aufenthalt nach London auf, den er vorrangig dazu nutzte, das reiche Konzertleben der Weltstadt auf sich wirken zu lassen. Während seiner Zeit in England war ihm der große Symphoniker und Streichquartettmeister Robert Simpson (1921–1997) ein anregender und verständnisvoller Mentor: „Er half mir, auf das zu vertrauen, was meine innere Stimme mir sagt: Was du fühlst, ist richtig für dich selbst.“

Nach Norwegen zurückgekehrt, arbeitete Haug zwei Jahre lang als Musikkritiker, lebte dann aber nur noch seinem kompositorischen Schaffen. Mit den orchestralen und kammermusikalischen Werken, die er während der 1980er Jahre komponierte, vor allem den ersten beiden Symphonien, etablierte er sich endgültig im norwegischen Konzertleben. Zum wichtigsten Förderer wurde ihm Ole Kristian Ruud, der von 1987 bis 1995 als Chefdirigent des Trondheimer Symphonie-Orchesters wirkte und mehrere Werke Haugs uraufführte. Als einer der meistbeachteten norwegischen Komponisten seiner Generation erhielt Haug zahlreiche Kompositionsaufträge, die teils mit wichtigen öffentlichen Anlässen verbunden waren. Seine letzten drei Symphonien schrieb er 1993 und 2002 für das Symphonie-Orchester Trondheim bzw. 2001 für die Osloer Philharmonie. Die „Symphonische Vision“ Insignia für Kammerorchester wurde 1994 zur Feier der Olympischen Winterspiele in Lillehammer komponiert. 1996 war er offizieller Komponist des Kammermusikfestivals Stavanger, auf welchem sein Zweites Streichquartett zur Uraufführung gelangte. Sein 1997 entstandener symphonischer Liederzyklus Glem aldri henne (Vergiss sie nie) war ein Auftragswerk seiner Geburtsstadt Trondheim im Vorfeld ihrer 1000-Jahr-Feier.

Leider sind seit 20 Jahren keine neuen Werke Halvor Haugs mehr in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die Vierte und Fünfte Symphonie, die kurz hintereinander 2002 zur Uraufführung gelangten, belegen, dass sich der 50-jährige Komponist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft befand. Angesichts dessen kann man es nur bedauern, dass ihn der Ausbruch einer chronischen Erkrankung anscheinend dauerhaft an der Fortführung seiner schöpferischen Arbeit hindert. Haugs Werke sind in den letzten Jahren gerade in Deutschland auf besonderes Interesse gestoßen, und die noch nicht lange zurückliegende Veröffentlichung dreier bislang ungedruckter Kompositionen im Münchner Verlag Musikproduktion Höflich zeigt, dass der Komponist – dessen Musik hauptsächlich vom schwedischen Verlag Gehrmans herausgegeben wird – weiterhin die Verbreitung seiner Musik aufmerksam verfolgt.

Haugs Werkverzeichnis umfasst etwa 40 Kompositionen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf symphonischer Musik, doch liegen aus seiner Feder auch eine Anzahl kammermusikalischer Werke vor. Für Singstimmen schrieb Haug nur wenig, und es erscheint charakteristisch, dass die menschliche Stimme bei ihm immer in einem symphonischen Kontext auftaucht: als Mezzosopransolo in dem Orchesterliederzyklus Glem aldri hemme, als Kinderchor in dem „Symphonischen Epos“ Menneskeverd og fred (Menschenwürde und Frieden), und als wortloser Doppelchor für Frauenstimmen in der Zweiten Symphonie.

Photo © Kristina Fryklöf

Stilistisch ist Haug von Anfang an ein ganz eigener Kopf, was sich namentlich zeigt, wenn man seine Musik mit der seiner Lehrer vergleicht. Serielle Techniken, wie überhaupt die Idee eines vorgefertigten musikalischen Materials, wie sie für Erik Bergman zunehmend Bedeutung erlangten, haben für Haug nie eine Rolle gespielt. Auch blieb Einar Englunds klassizistisches Formideal ohne Einfluss auf ihn. Mit Robert Simpson teilt er dagegen die Aufbruchsstimmung ins Unbekannte, die der Anfang seiner Werke regelmäßig hervorruft – nicht ohne Grund trägt ein Orchesterwerk Haugs den Titel Il Preludio dell‘ ignoto – und die freie Formung mittels permanenter Verwandlung weniger motivischer Zellen, die keinerlei Vorhersehbarkeit der musikalischen Entwicklung, sehr wohl aber den Eindruck kräftiger Naturwüchsigkeit aufkommen lässt. Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Komponisten liegt in ihrer Tempogestaltung. Während für Simpson gleichsam das Allegro der Normalzustand ist und die langsamen Abschnitte seiner Werke sehr oft einen vorbereitenden oder nachklingenden Charakter aufweisen, bewegt sich Haug bevorzugt in mäßigen und langsamen Tempi, die sich in besonderen Momenten zu rascherer Bewegung steigern. Sein untrügliches Gespür für tonale Bezüge sorgt dafür, dass die Spannung dabei nie verloren geht. Gern lässt er voneinander weit entfernte Harmonien unmittelbar aufeinandertreffen und führt dadurch dem musikalischen Geschehen neue Kraft zu.

Haug beschrieb seinen Schaffensprozess als „nicht bewusst auf intellektuelle Art, eher emotional. Schwierigkeiten, Gegensätze, Spannung trage ich in mir. Energie ist von zentraler Bedeutung.“ Zwar verliert er beim Komponieren nie den Anfang des Stückes aus den Augen, ebenso wenig den Höhepunkt, auf den dieser zustrebt, doch hat ihn der Schaffensprozess – Robert Simpsons Satz, dass Komponieren „kontrollierte Inprovisation“ sei, dürfte auch auf Haug vollkommen zutreffen – mitunter zu Lösungen geführt, die ihn selbst überraschten. So erkannte er erst nach weit fortgeschrittener Arbeit an der Dritten Symphonie die Integration des bereits erwähnten Nachtigallenrufs als bestmöglichen Schluss des Werkes. Dies war sein Tribut an das „Unergründliche Leben“, das der Symphonie den Titel gab.

Haugs Musik macht keine Umschweife und besticht durch ihre emotionale Direktheit. Zu seinem 70. Geburtstag kann man dem Komponisten nur wünschen, dass sie auch weiterhin innerhalb wie außerhalb seiner Heimat treue Freunde und weite Verbreitung finden möge.

Verzeichnis der Werke Halvor Haugs

Halvor Haugs Kompositionen sind bei Gehrmans Musikförlag (Stockholm), Norsk Musikforlag (Oslo) und Musikproduktion Höflich (München) erhältlich. Die nicht verlegten Werke können über den Notendienst der Norwegischen Nationalbibliothek Oslo (NB noter) bezogen werden.

Orchesterwerke:

Symfonisk bilde (Symphonisches Bild), 1975/76 (Gehrmans)

Symfoniske konturer (Symphonische Konturen), 1977 (NB noter)

Konzert für Horn und Orchester, 1978 (NB noter)

Poema Patetica, 1980 (Gehrmans)

Poema Sonora, 1980 (NB noter)

Symphonie Nr. 1, 1981/82 (Norsk Musikforlag)

Sinfonietta, 1983 (Norsk Musikforlag)

Symphonie Nr. 2 für Orchester, wortlosen Frauenchor und Orgel, 1984 (Gehrmans)

Menneskeverd og fred – Symfonisk epos (Menschenwürde und Frieden) für Kinderchor und Orchester, 1985 (NB noter)

Vinterlandskap (Winterlandschaft), 1986 (NB noter)

Symphonie Nr. 3 Det uuntgrunnelige livet (Das unergründliche Leben) für Orchester und Tonband, 1991–1993 (Gehrmans)

Ouvertüre Norske aspekter (Norwegische Ansichten), 1993 (NB noter)

Insignia – Symfonisk vision für Kammerorchester, 1993 (Gehrmans)

Glem aldri henne (Vergiss sie nie), Liederzyklus für Mezzosopran und Orchester nach Gedichten von Gunnar Reiss-Andersen, 1997 (Gehrmans)

Il Preludio dell‘ ignoto (Das Vorspiel zum Unbekannten), 2000 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 4, 2001 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 5, 2002 (Gehrmans)

Werke für Streichorchester:

Stillhet (Die Stille), 1977 (Norsk Musikforlag)

Furuenes sang (Gesang der Tannen), 1987 (Gehrmans)

Intermezzo aus dem Liederzyklus Glem aldri henne, 1997 (Gehrmans)

Werke für Blasorchester:

Cordiale für Blasorchester, 1982 (NB noter)

Exit für Blasorchester und Orgel ad libitum, 1985 (NB noter)

Concertino für Blechbläser (4 Trompeten, 4 Hörner, 4 Posaunen, 2 Tuben) und Schlagzeug, 1988 (Musikproduktion Höflich)

Kammermusik (2–5 Instrumente):

Sonatine für Violine und Klavier, 1973 (Musikproduktion Höflich)

Duetto Bramoso (Eifersüchtiges Duett) für Violine und Gitarre, 1976 (Musikproduktion Höflich)

Symphony for five für Flöte (Altflöte), Klarinette (Bassklarinette), Horn, Gitarre und Klavier, 1979 (NB noter)

Quintett für zwei Trompeten, Horn, Tenorposaune und Bassposaune (Tuba), 1981 (Norsk Musikforlag)

Streichquartett Nr. 1, 1985 (Gehrmans)

Dialog für zwei Harfen, 1987 (Gehrmans)

Essay für Altposaune und Streichquartett, 1987 (NB noter)

Klaviertrio, 1995 (Gehrmans)

Streichquartett Nr. 2, 1996 (Gehrmans)

Duo für Violine und Violoncello, 2002 (Gehrmans)

Opus for tre naboer – Andante con amore (Werk für drei Nachbarn) für Violine, Violoncello und Klavier, [ohne Datum] (NB noter)

Werke für Soloinstrumente:

Tre „utfall“ (Drei „Ergebnisse“) für Gitarre, 1974 (Norsk Musikforlag)

Drei Inventionen für Gitarre, 1976 (Gehrmans)

Fantasia für Oboe, 1977 (NB noter)

Impression für Klavier, 1980 (Gehrmans)

Sonata Elegica für Violoncello, 1981 (Norsk Musikforlag)

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]

(Der Autor dankt Christoph Schlüren herzlich für die Bereitstellung von Informationen und die Vermittlung der Photographien)

Für Hausmusik und Klavierunterricht: Klussmanns Xenien

Sikorski SIK0201; ISMN: 9790003033143

Sie suchen nach Klaviermusik des 20. Jahrhunderts für den Hausgebrauch? Nach Stücken von geringer Schwierigkeit, die trotzdem anspruchsvoll komponiert sind und ihrem Spieler Vergnügen bereiten? Antiquarisch fiel mir vor kurzem ein Heft mit sechs kurzen Klavierstücken in die Hände, von denen ich meine, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden. Es handelt sich um die Xenien op. 27 von Ernst Gernot Klussmann. Sie sind bei Sikorski erschienen und wurden erstmals 1951 veröffentlicht, können aber nach wie vor vom Verlag bezogen werden, weswegen hiermit ausdrücklich auf sie hingewiesen sei.

Ernst Gernot Klussmann wurde 1901 in Hamburg geboren, war also etwas jünger als Paul Hindemith und Johann Nepomuk David, gleichaltrig mit Ernst Pepping, und etwas älter als Günter Raphael und Kurt Hessenberg. Wie diese wuchs er noch in der Tradition des späten 19. Jahrhunderts auf – sein Kompositionslehrer war der als Symphoniker und Oratorienkomponist hochbedeutende Altonaer Musikdirektor Felix Woyrsch – und suchte ab den 1920er Jahren neue Wege. Auch für Klussmann wurde der Eindruck barocker Polyphonie bedeutsam. Eine Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, die sich in zahlreichen als Choralbearbeitung, Passacaglia oder Fuge gestalteten Sätzen niederschlägt, prägt sein gesamtes Schaffen. Seit 1942 als Musikpädagoge in seiner Geburtsstadt wirkend, genoss Klussmann den Ruf eines hervorragenden Lehrers. Als Komponist war er vor allem durch seine ab 1928 entstandenen ersten fünf Symphonien bekannt geworden. Hatte er in diesen Werken streng tonal zentriert komponiert, so vollzog er in den 50er Jahren einen radikalen Stilwandel, indem er sich der Zwölftonmusik zuwandte. Unter Verwendung der Zwölftonmethode, die er, ähnlich wie Alban Berg, Nikos Skalkottas oder Alberto Ginastera, zunehmend frei behandelte, schrieb er bis zu seinem Tode 1975 weitere fünf Symphonien und mehrere Opern.

Die Xenien gehören zu den letzten nicht-zwölftönigen Werken Klussmanns. Es handelt sich eindeutig um Nebenwerke, allerdings um Nebenwerke eines reifen Meisters, der kurz zuvor seine Fünfte Symphonie beendet hatte. Der Symphoniker zeigt sich in diesen Stücken, von denen das kürzeste eine halbe, das längste drei Druckseiten umfasst, als konzentriert arbeitender Miniaturist. Kein Takt ist hier zu viel, und jeder hat Anteil an einer konsequent vorangetriebenen, in sich geschlossenen Entwicklung. Klussmann lädt den Spieler ein und macht ihm Mut, indem er mit einem sehr einfachen, zweistimmigen Stück beginnt, das nur 24 Takte dauert, „Modernismen“ ganz dezent einsetzt (erniedrigter Leitton, offene Quintparallele) und sich geradewegs vom Blatt spielen lässt. Nichtsdestoweniger werden beide Hände bereits hier selbstständig behandelt.

Nr. 2, in e-phrygisch, die durch einen ruhelosen, elegischen Ton besticht, steht in langsamem 3/4-Takt und wird von einem durchgehenden Achtelduktus getragen. Das Stück schult beide Hände gleichermaßen im Spiel gesanglicher Melodielinien: Erst tauschen Rechte und Linke nach vier Takten die Stimmen, dann erhält jede Hand eine ostinate Begleitung, zu welcher die jeweils andere auf einfache Weise mehrstimmig spielt. Herbe Dissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, verleihen der Musik zusätzlichen Reiz.

Das dritte Stück ist ein sehr sparsam gesetzter, nur in wenigen Takten die Zweistimmigkeit verlassender Ländler. Die linke Hand übernimmt kurz in der Mitte die Melodie, hat aber ansonsten eine durchgehend staccato vorzutragende, in gleichmäßigen Vierteln gehaltene Begleitung aus Quarten und Tritoni zu spielen. Die Dynamik muss der Spieler aus der Musik herausfühlen, da der Komponist lediglich den Schluss (in F statt des erwarteten E) mit einer Angabe versehen hat (pp).

Auch die „ruhig bewegte“, aber durchaus beschwingt wirkende Nr. 4 (g-Moll) gibt der linken Hand über weite Stecken eine gleichmäßige Begleitung zu spielen, diesmal allerdings in Form ständiger Quintsprünge. Harmonisch ist das Stück offensiver modern als die vorigen: Die rechte Hand spielt zahlreiche Sekundparallelen, und in den G-Schlussakkord mischen sich ein F und ein A. Spieltechnisch geschult werden die Hände hier durch die Umkehrung der Motive in der zweiten Hälfte des Stücks.

Die an fünfter Stelle stehende Invention, die gleich zu Beginn E und G in der Linken auf Es in der Rechten treffen lässt und die gleiche Konstellation zum Schluss in die Dissonanz E-G-D „auflöst“ (es wirkt tatsächlich entspannend), ist das einzige Stück der Reihe, das größere Ansprüche an die Fingerfertigkeit stellt. Die Hände tauschen hier untereinander eine melodisch prägnante Stimme und albertibassartige Sechzehntelfigurationen aus, wobei sich in letzteren eine latente Zweistimmigkeit verbirgt, die vom Spieler zur Geltung zu bringen ist.

Nach diesem verhältnismäßig „virtuosen“ Stück beschließt Klussmann seine kleine Sammlung mit einer Air in e-Moll (3/4-Takt), deren Schwierigkeitsgrad etwa demjenigen des zweiten Stücks entspricht. Wie dieses strahlt Nr. 6 strenge, apollinische Schönheit aus. In der rechten Hand entfaltet sich ein den Grundton immer nur streifender, sich erst am Schluss auf ihm niederlassender Melodiebogen, der im Laufe des Stückes mehrere Oktaven durchmisst, während die linke mit einer in gleichmäßigen Vierteln pochenden, meist dreistimmigen Begleitung grundiert. Sehr interessant ist es zu verfolgen, wie Klussmann mittels Sekundrückungen die Musik durch immer neue harmonische Zwischenstufen führt und sie dabei allmählich zu glühender Intensität steigert. Großartig wirkt insbesondere der Abgesang, der melodisch, erst in der Rechten, dann in der Linken, G-Dur durchmisst, dieses aber in der jeweils anderen Stimme mit der Quartsextakkordfolge E-, D-, C-, B-, As-, Ges-, F-, Es- und D-Dur umkleidet. Ich stehe nicht an, das Xenion Nr. 6 ein kleines Juwel zu nennen. Es dürfte sich auch ideal dazu eignen, Klavierschüler mit den Reizen freier Stimmführung bekannt zu machen.

Der Titel, den der Komponist der Sammlung gegeben hat, bezieht sich wohl nicht auf die Tradition spöttischer Epigramme, wie sie in der deutschen Literatur von den Xenien Goethes und Schillers begründet wurde – dazu sind Klussmanns eher introvertierte Stücke zu wenig keck. Eher scheinen mir hier im ursprünglichen Wortsinne „Gastgeschenke“ vorzuliegen – Dinge also, die ins Haus mitgebracht werden. Um Hausmusik handelt es sich eindeutig: um Stücke zum Selbstspielen oder zum Gebrauch im Klavierunterricht. Zu beiderlei seien die Xenien op. 27 von Ernst Gernot Klussmann wärmstens empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (2)

Hatten wir uns in Teil 1 dieses Aufsatzes den drei großen Vorurteilen gegen den Komponisten Wilhelm Furtwängler und ihrer Widerlegung gewidmet, so befasst sich der zweite Teil (der heute zum 136. Geburtstag Furtwänglers erscheint) zunächst mit den Reaktionen der Musikkritik auf die 2021 bei cpo erschienene Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und schließt mit einer Untersuchung der Vorgehensweise eines besonders hartnäckigen Gegners des Komponisten.

Presseschau: Fawzi Haimors Einspielung der Ersten Symphonie

Vor kurzem erschien bei cpo eine Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Sie bedeutet in der Diskographie insofern einen Markstein, als dass mit Haimor sich erstmals ein Dirigent des Werkes angenommen hat, der an ihm keine Grundlagenarbeit mehr geleistet hat, denn der Dirigent der Erstaufnahme, Alfred Walter, leitete auch die Uraufführung, George Alexander Albrecht, der die zweite Einspielung durchführte, war Herausgeber des Erstdrucks. Es ist also ein Schritt getan vergleichbar dem, als der Komponist 1954, kurz vor seinem Tod, mit Rolf Agop erstmals einem anderen Dirigenten seine Zweite Symphonie anvertraute – gewissermaßen ein Schritt in die Normalität. Die Kritiken fielen für das Werk nahezu durchweg anerkennend aus.

So meint Operalounge zum Finale der „überraschenden Ersten“: „Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.“

In Svens Opernparadies liest man, dass von diesem „überaus melodischen Werk“ eine Interpretation vorgelegt wurde, „die man unbedingt gehört haben sollte“. Außerdem sei es ein „Vorurteil“, wenn behauptet würde, Furtwänglers Werke seien „hoffnungslos veraltet“.

Auf der Angebotsseite von jpc haben die dort regelmäßig schreibenden Rezensenten „meiernberg“ und „JAW-Records“ dem Werk und der Einspielung die Höchstpunktzahl (5/5) gegeben.

Die Neckar-Chronik gibt dem Interview mit dem Dirigenten Fawzi Haimor den Titel: „Meistersinfonie aus dunkler Zeit“.

Dagegen wärmte der Kulturabdruck alte Kamellen auf: „Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.“

In Crescendo bemerkte Christoph Schlüren: „Tatsächlich handelt es sich bei Fawzi Haimors Reutlinger Aufnahme für cpo um die aufnahmetechnisch bislang gelungenste Darbietung des knapp 90-minütigen Kolossalwerks, das in seiner Innenschau so gar nichts gründerzeitlich Macherhaftes bietet, sondern die von aller Effekthascherei völlig unabhängige Konzentration auf die pure organische Formentwicklung einfordert. Und wir warten weiter auf einen Dirigenten, der die gewaltigen Spannungsbögen adäquat zu verwirklichen versteht. Dann können wir auch dieses Werk, das noch immer erratisch erscheint, verstehen.“

Auf Classical CD Reviews hielt Gavin Dixon zwar an der Auffassung fest, Furtwänglers „major flaw“ sei „a tendency towards large-scale, expansive structures, which, although in traditional forms, are not supported by the scale or invention of his melodic writing“ – also dem von mir in Teil 1 beschriebenen Vorurteil Nr. 3 –, gesteht ihm jedoch als Komponisten „a distinctive voice“ zu und lobt immerhin das Scherzo ohne Einschränkung.

Ähnlich äußert sich Rob Maynard auf Musicweb International, der seinen Artikel mit folgendem Fazit beschließt: „We must hope that it foreshadows a full cycle of Furtwängler’s symphonic oeuvre that will bring his frequently flawed but nonetheless fascinating – and most certainly enjoyable – music to a wider audience.“

Ich selbst habe die Aufnahme auf Klassik-Heute rezensiert und dort auch meine vom Großteil der zitierten Rezensionen abweichende Ansicht dargelegt, warum ich Haimors Einspielung nicht für diejenige Aufnahme halte, die den bestmöglichen Eindruck von der Komposition vermittelt. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass unter den Kritiken der cpo-CD die positiven Stimmen weit überwiegen. Man kann anscheinend tatsächlich davon sprechen, dass die lange Zeit dominierende, von Vorurteilen geprägte Sicht auf den Komponisten Furtwängler nun einer unvoreingenommenen, von echtem Interesse geprägten Herangehensweise an seine Musik weicht.

Norman Lebrechts Attacke

Doch halt! Da meldet sich ein älterer Herr zu Wort, um energisch sein Veto einzulegen. Es ist der britische Kritiker und Buchautor Norman Lebrecht, der sich in der Vergangenheit regelmäßig zu Wilhelm Furtwängler geäußert hat. Er steht offenbar im Ruf, ein Furtwängler-Experte zu sein, denn sonst hätte ihn die Deutsche Grammophon 2019 kaum damit beauftragt, einen Einführungstext zu ihrer 34 CDs und eine DVD umfassenden Edition sämtlicher DG- und Decca-Aufnahmen Furtwänglers zu schreiben. Seine Kritik der Haimor-Aufnahme unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass sie in einem Kontext steht, den ihr Autor im Laufe vieler Jahre schuf. Lebrecht inszeniert sich als eine Art Enthüllungsjournalist der Musikwelt. Eine Konstante seiner Tätigkeit als Autor ist die Suche nach charakterlichen Schwächen namhafter Musiker. Liest man seine Texte, meint man mitunter, ihn geradezu aufjauchzen zu sehen vor Freude, wenn er meint, etwas gefunden zu haben, das ihm die Möglichkeit gibt, eine bekannte Figur des Musiklebens als fehlerhaften Menschen darstellen zu können. Der Energie, die Lebrecht in Suchaktionen dieser Art steckt, steht eine bemerkenswerte Unachtsamkeit in Sachen Fakten gegenüber. Wer sich kurz informieren möchte, wie dicht in seinen Veröffentlichungen Fehler auf Fehler folgt, der lese die in der englischen Wikipedia zitierten Ausschnitte aus Besprechungen des Buches The Maestro Myth (1991, deutsch: Der Mythos vom Maestro) durch John von Rhein (Chicago Tribune), Roger Dettmer (Baltimore Sun) und Martin Bernheimer (Los Angeles Times).

Lebrechts Texte sind als Informationsliteratur nicht zu gebrauchen. Ihr Erfolg gründet sich auf die Art und Weise, wie der Autor Fakten, oder was er dafür hält, präsentiert. Wer sich von seiner Diktion einlullen lässt und ausreichend unkritisch alles schluckt, was Lebrecht seinen Lesern vorsetzt, wird am Ende damit belohnt, dass er es ihm gleichtun und sich wonnig in Schadenfreude suhlen kann. Diese Schadenfreude erscheint als die eigentliche Motivation der Lebrechtschen Schriftstellerei.

Wilhelm Furtwängler gehört offensichtlich zu Lebrechts Lieblingszielscheiben. Was Lebrecht über Furtwängler schreibt, ist im Grunde nicht interessant. Aber es ist interessant zu sehen, wie er gegen Furtwängler vorgeht und wie er Furtwänglers Kompositionen in diesem Zusammenhang benutzt. Zunächst lässt sich feststellen, dass er Furtwängler keineswegs pauschal verdammt. Auch für Lebrecht ist Furtwängler ein großer Dirigent. Das muss er auch sein, denn Lebrecht gibt sich nicht mit kleinen Fischen zufrieden. Einem großen Mann Anrüchiges anzuhängen, das ist seine Freude. Außerdem gehört Lebrecht zu jenen Autoren, die nie ernsthaft gegen den Strom schwimmen. Er möchte ein großes Publikum bedienen und braucht demzufolge die gängigen Klischees seiner Zeit, an die er anknüpfen und die er in seinem Sinne zuspitzen kann. Also kann er sich in diesem Falle gar nichts anderes leisten als den Dirigenten Furtwängler einen großen Mann sein zu lassen. Er versucht deshalb, ihn auf anderen Gebieten zu demontieren: Sein Ziel ist es zu zeigen, dass der berühmte Dirigent als Komponist wie als Mensch versagt habe. Auch dazu bedient er sich gängiger Klischees. Erwartet man etwas anderes?

Im Jahre 1992 veröffentlichte Lebrecht bei Simon & Schuster, New York, einen Companion to 20th Century Music, der acht Jahre später unter dem hochtrabenden Titel Complete Companion to 20th Century Music in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Auf S. 127 der Erstfassung findet sich über Furtwänglers Werke der folgende Absatz, der wörtlich auch in die Neufassung übernommen wurde:

He saw himself, like Mahler, as primarily a composer, yet his music is of little consequence. In three symphonies (1941–54), he seems repeatedly to linger and luxuriate in the sound he has created, though none of it bears the mark of an original mind. The works lack momentum, daring and, above all, anything personal to say – an unbelievable neutrality, given the times and the composer’s musical stature. The third in C-minor is classically formed and derivative of Bruckner. There is also a piano concerto that does a thematic tour around the great composers.“

Hier finden sich alle im ersten Teil des vorliegenden Textes ausführlich behandelten Vorurteile gegen Furtwängler gleichsam in der Nussschale zusammengefasst. Vor allem die Behauptung einer Bruckner-Abhängigkeit der Dritten Symphonie kann jeden, der mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, nur belustigen. Kennt jemand eine Bruckner-Symphonie, die mit einem langsamen Satz beginnt, oder ein Scherzo enthält, in dem das Trio die Stelle einer Sonatendurchführung vertritt? Kann man sich auch nur ein Thema aus Furtwänglers Werk in eine Bruckner-Symphonie versetzt vorstellen? Welche Themen anderer Komponisten Lebrecht im Klavierkonzert gehört hat, verschweigt er. Würde er seine Funde öffentlich machen, hätte er zwei Möglichkeiten: Entweder müsste er zugeben, dass die Ähnlichkeiten zu gering sind um von einer „thematic tour“ zu sprechen (unter der er sich wahrscheinlich eine Art Potpourri vorstellt), oder dass Furtwängler die fremden Themen (welche auch immer es sein mögen) so stark verwandelt hat, dass sie zu seinen eigenen geworden sind. Außerdem fällt auf, dass Lebrecht sich in der Tonart der Dritten Symphonie irrt (cis-Moll muss es heißen, nicht c-Moll!). Furtwängler schien ihm wohl der Mühe nicht wert gewesen zu sein, den Fehler in der zweiten Auflage auszubessern. Dort steht er noch auf S. 136.

Seine zweite Angriffsfläche sieht Lebrecht in Furtwänglers Charakter im Allgemeinen und seinem Handeln während der NS-Zeit im Besonderen. Da greift er sehr hoch: „Moralisch lässt sich an Furtwängler nichts finden, das man bewundern könnte“, heißt es im Begleittext zur oben genannten Edition der Deutschen Grammophon. Was soll man davon halten angesichts dessen, dass Furtwänglers Einsatz für zahlreiche von den Nationalsozialisten Verfolgte eine durch Quellen hinreichend belegte Tatsache ist, und dass es darunter wenigstens zwei Fälle gegeben hat, in denen akut bedrohte Menschenleben durch eine direkte Intervention Furtwänglers gerettet worden sind (Carl Flesch und Heinrich Wollheim)? Aber nein, Lebrecht will in ihm nur einen „Günstling des Führers“ sehen, der „[n]ach einem Zwist mit Joseph Goebbels wegen einer Hindemith-Symphonie [gemeint ist Mathis der Maler] […] für kurze Zeit von seinem Amt bei den Berliner Philharmonikern suspendiert“, dann aber „von Hitler höchstselbst wieder eingesetzt“ worden sei. Wieder ein Lebrechtscher Fehler! Furtwängler ist als Chefdirigent der Philharmoniker 1934 aus eigenem Antrieb zurückgetreten und übernahm dieses Amt erst 1952 wieder. Es hat ihn niemand suspendiert, und erst recht hat ihn kein Hitler wieder eingesetzt.

Anscheinend immer bereit, in diese Kerbe zu hauen, frohlockte Lebrecht am 27. März 2019 auf seiner Seite Slipped Disc über ein angebliches „unknown pic[ture] of Furtwängler and the Füh[rer]“, das er mit folgenden Zeilen begrüßte: „After decades of censorship, whitewash and hagiolatry, documents continue to emerge of Wilhelm Furtwängler’s deeply compromised position with the leadership of the Third Reich. This latest discovery is from the Süddeutsche Zeitung archives. It shows Furtwängler conducting a factory concert in 1939 in front of a huge portrait of his Führer.“ Wer genau liest, wird feststellen, dass Lebrecht seine Leser mit der Überschrift in die Irre führt, denn, wie er ja selbst im Text schreibt, handelt es sich nicht um ein Bild, das Furtwängler mit Hitler zeigt, sondern lediglich um eine Aufnahme Furtwänglers vor einem überdimensionalen Hitler-Plakat (dem er übrigens mit nicht gerade begeistertem Blick den Rücken zukehrt). Das eigentlich Interessante an Lebrechts Beitrag ist allerdings, dass diese „latest discovery“ gar nicht neu ist. Das Bild, von dem er spricht, war der Öffentlichkeit spätestens bekannt, seit Fred K. Prieberg es 1986 in seinem Buch Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich publiziert hatte, auf dessen Schutzumschlag es außerdem zu sehen ist. 1986 bis 2019 macht 33 Jahre. Lebrecht hat sich also wieder einmal geirrt. Nicht „censorship, whitewash and hagiolatry“ haben dafür gesorgt, dass er die Photographie erst mit solch immenser Verspätung zur Kenntnis genommen hat, sondern schlicht seine Unwilligkeit, sich korrekt zu informieren. Bezeichnend erscheint auch der Umstand, dass er auf ein Bild, das vor Jahrzehnten in dem Buch eines Musikhistorikers abgedruckt wurde, durch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam geworden ist. (Die Photographie gefiel Lebrecht übrigens so gut, dass er sie am 25. September 2019 zur Illustration eines weiteren Beitrags auf Slipped Disc verwendete, in welchem er „a series of videocasts, elaborating on the unofficial aspects of the great conductor“ ankündigte.)

Das angeblich neu entdeckte Bild 2019 auf Lebrechts Seite…
… und 1986 auf dem Umschlag von Priebergs Buch.

Soviel zu Lebrechts früheren Eskapaden. Die Veröffentlichung von Fawzi Haimors Aufnahme der Ersten Symphonie durch cpo nahm er nun zum Anlass, seinem jahrzehntelangen Verächtlichkeitsfeldzug die Krone aufzusetzen.

Seine Kritik findet sich im englischen Original auf My Scena, ist aber auch bereits auf Französisch, Tschechisch und Spanisch erschienen. Auf seiner eigenen Seite kündigte Lebrecht noch weitere Übersetzungen an.

Was er da in die Welt hinausgeschickt hat, ist, um es vorneweg zu sagen, ein Gebräu aus offensichtlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Verleumdungen und schwachen Versuchen witzig zu sein. Aber sehen wir uns den Text Absatz für Absatz genauer an!

In the spring of 1943, with millions being murdered across the continent of Europe, Germany’s wealthiest conductor summoned the Berlin Philharmonic Orchestra to rehearse a symphony he had written in B minor, his first. Furtwängler had been writing it, on and off, since 1908 and had lately added a fourth movement for which he had high hopes. These aspirations were dashed on first play-through. ‘Am very depressed,’ he told his wife. [/] Of all things to get depressed about at this darkest moment in modern history, a symphony seems relatively trivial, but such was the size of the maestro’s ego that it occluded most things around him, including the Nazi horrors which he chose to ignore. The symphony was supposed to be his ticket to posterity and he must have realised, during rehearsal, that it would not buy him a ride anywhere beyond the suburbs.“

→ Zunächst fällt wieder ein sachlicher Fehler auf: Die Erste Symphonie wurde weitgehend in den späten 30er und frühen 40er Jahren komponiert. Will man ihre Entstehungsgeschichte mit dem Largo-Satz beginnen lassen, der mit dem Kopfsatz der Ersten Symphonie das Anfangsthema (und nur dieses) gemeinsam hat, und von Furtwängler 1906 in seinem ersten Konzert uraufgeführt wurde, so muss man die Anfänge der Komposition ins Jahr 1905 verlegen, nicht 1908.

→ Lebrecht beginnt effektvoll mit dem Zweiten Weltkrieg. Furtwängler soll hier als moralisch fragwürdiger, egoistischer Mensch erscheinen, der es sich mitten im Krieg gut gehen lässt („Germany’s wealthiest conductor“) und sich nur um seine Kompositionen sorgt. Schwerer wiegt die Behauptung, Furtwängler hätte sich entschieden, die Nazi-Greuel zu ignorieren. Erneut muss man sich fragen: Wie kann man einem Manne, der sich persönlich für Verfolgte eingesetzt hat, der aus Protest gegen die Beeinflussung des Kulturlebens durch die Politik bereits 1934 alle öffentlichen Ämter niederlegte, der sich weigerte in von der Wehrmacht besetzten Ländern zu dirigieren, der sich dem Missbrauch seiner Person durch die NS-Propaganda so weitgehend entzog, wie es ihm möglich war, vorwerfen, er habe die Augen vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verschlossen? Man lese zu diesem Thema seriöse Bücher wie Klaus Langs Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung (Aachen: Shaker Media 2012) und Fred K. Priebergs Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich (Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1986).

→ Lebrecht meint, Furtwänglers Niedergeschlagenheit nach der Probe wäre Wasser auf seine Mühlen. Nun hat Furtwängler tatsächlich nie wieder einen Takt aus der Ersten Symphonie dirigiert. Dies bedeutet aber nicht, er hätte das Werk als misslungen betrachtet und beiseite gelegt. Nein, er überarbeitete es ein weiteres Mal, sodass er 1946 Eugen Jochum schreiben konnte: „Von meinen Symphonien wird eine in diesem Jahr, die andere ein Jahr später herauskommen.“ (Klaus Lang: Wilhelm Furtwängler und die Tragik seines Komponierens, Aachen: Shaker Media 2013, S. 55) Dies hätte er (damals noch unter Auftrittsverbot) nicht geschrieben, wenn ihm die Erste zu dieser Zeit nicht aufführungsreif erschienen wäre. Während er die Zweite (die er 1948 uraufführte) als „fix und fertig“ ansah, war die Erste für ihn aber nur „fertig“ (ebenfalls an Jochum 1946, siehe Lang: Tragik, S. 49), und noch 1954 feilte er an einzelnen Stellen der Partitur. Dass er bis in sein Todesjahr um die endgültige Gestalt dieses Werkes rang, zeigt deutlich genug, wie wichtig ihm dieses Stück war. Ein Künstler macht sich nicht eine solche Arbeit mit einem Werk, das er für misslungen hält! Es kam lediglich durch den Tod des Komponisten zu keiner „Fassung letzter Hand“. Furtwängler hat die Erste Symphonie „’fertig‘, aber mit einigen Fragezeichen für die Nachwelt hinterlassen“, wie Sebastian Krahnert über den vergleichbaren Fall des Klavierquintetts schreibt.

Furtwängler died in 1954 and, though his cult as a legendary conductor continued to grow, his first symphony did not get performed until 1991. Two recordings were issued soon after, neither of them convincing. I was hoping for more from the Württemberg Philharmonie of Reutlingen, conducted by Fawzi Hamor [sic], on a label that performs noble service to German music, great and small. It soon confirmed my long impresion [sic] that Furtwängler’s composing talent was too small to be measured on any musical scale.“

→ Natürlich lässt sich Lebrecht nicht entgehen, die lange Zeitspanne zwischen Furtwänglers Tod und der Uraufführung hervorzuheben. Der Grund für die verspätete Uraufführung (die Ersteinspielung geschah bereits 1989) lag, ähnlich wie im Falle des Klavierquintetts, in dem philologisch problematischen Zustand der Partitur begründet. Die Furtwängler-Pflege konzentrierte sich zunächst auf die Werke, zu denen ein Notentext letzter Hand vorlag.

→ Kann man Lebrecht angesichts seiner Sätze von 1992 tatsächlich glauben, wenn er schreibt: „I was hoping for more“, oder ist dies nur reine Rhetorik?

If Bruckner married Mahler and hired Wagner and Brahms to tutor their backward child, the infant might have doodled something like Furtwängler’s B-minor symphony. This work is not so much composed as collaged. Trademarked themes of other composers are pasted onto a vast canvas of almost ninety minutes, each movement opening with a tune you know you’ve heard before. [/] The wholesale theft of classical treasures becomes so blatant that, six minutes into the Adagio, Furtwängler starts churning out chunks of Beethoven’s ninth symphony, as if we’d never know. Vanity aside, he repeats himself (or others) over and over again until you wonder how it was possible that so insightful and atmospheric a conductor could be so deaf and senseless to his own emanations. The fine musicians of Reutlingen do their level best to get us through; the fawning sleeve-notes are the most muddled I have read in years.“

→ Hier wird Lebrecht nicht nur gegen Furtwängler ehrenrührig, sondern auch gegen Eckhardt van den Hoogen, den Autor des Begleittextes. Als Übersetzung des Wortes „fawning“ wird mir von den konsultierten Nachschlagewerken nicht nur „liebedienernd“, sondern auch „kriecherisch“, „hündisch“, „schwanzwedelnd“ angeboten. Mit diesem Wort wird ein Autor bedacht, der sich sorgfältig mit Leben und Werk des von ihm dargestellten Komponisten vertraut gemacht hat und auf Grundlage dieses umfassenden Wissens in seinem Text ein möglichst getreues Charakterbild des Künstlers zu vermitteln strebt. Van den Hoogens Art, sich gleichsam in die Psyche der Komponisten, über die er schreibt, hineinzudenken, mag nicht Jedermanns Sache sein und birgt gewiss Risiken. Gerade aber, weil van den Hoogen diese Risiken auf sich nimmt, verdient er Respekt. Er ist ein Autor, der wagt, was sich viele andere nicht trauen. Und das Ergebnis gibt ihm meistens Recht. Der Furtwängler-Text macht darin keine Ausnahme.

→ Zum Schluss seines Artikels lässt Lebrecht die Katze aus dem Sack und zeigt uns, dass er offensichtlich rettungslos in Reminiszenzenjägerei befangen ist. Nach Anklängen an andere Werke Ausschau zu halten, mag ein hübscher Zeitvertreib sein und mitunter auch tatsächlich Interessantes zu Tage fördern, aber was ist davon zu halten, wenn diese Tätigkeit mit solch fanatischem Ernst betrieben wird, wie Lebrecht es hier tut? Lebrechts Worte sind ein Dokument uneingestandener Hilflosigkeit. Man hat einen routinierten Kritiker vor sich (oder besser: einen in Routine erstarrten Kritiker), welcher 1. offensichtlich weder willens noch fähig ist, sich mit dem Werk ernsthaft auseinanderzusetzen, und 2. die Vorurteile, die er gegenüber dem Komponisten hegt und selbstgefällig pflegt, auf Biegen und Brechen sich und anderen bestätigen will. Für Lebrecht ist Furtwängler also ein Dieb (bereits 1992 klingt dies in seiner Einschätzung des Klavierkonzerts an), und der Kritiker hält sich für besonders schlau, weil er meint, diesen „Dieb“ überführt zu haben. Wenn man weiß, dass Lebrecht ein leidenschaftlicher Verehrer Gustav Mahlers ist, und bedenkt, dass er bereits 1992 in seinem Handbuchartikel Furtwängler und Mahler einander gegenübergestellt hat, so möchte man glauben, er versuche hier die Vorwürfe, die man früher Mahler gemacht hat, auf einen anderen Komponisten (der zugleich, wie Mahler, ein großer Dirigent war) zu übertragen und damit gleichsam ein Negativbeispiel zu Mahler zu schaffen: Seht her – scheint er uns zwischen den Zeilen sagen zu wollen –, die Diebstähle, die man Mahler zu Unrecht vorwarf, Furtwängler hat sie begangen! Da stellt sich die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, wenn ein Komponist aus einem fremden Einfall einen eigenen macht. Dass bei Mahler die Anfangsthemen der Dritten und Sechsten Symphonie und das Rondo-Thema der Siebten auffallend an Melodien von Brahms, Bruckner und Wagner anklingen, ist doch keine Schande! Wenn Mahler hier den Reminiszenzenjägern Köder ausgelegt hat, so tat er das – Humorist, der er war –, um sie zu foppen. Bereits bei der Komposition dürfte er innerlich darüber gelacht haben, dass das „jeder Esel hören wird“, um es mit Brahms zu sagen. Außerdem hat er allen Themen etwas Neues, Eigenes hinzugefügt. In der Form, in der er sie präsentiert, sind sie nicht mehr die Themen anderer Komponisten.

Mahler ist kein Melodiendieb. Noch unsinniger wirkt der Versuch, Furtwängler dergleichen anzuhängen, denn dessen melodische Erfindung war so eigen, dass jedes Zitieren fremder Musik im Kontext seines Stiles wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Dabei gibt es allerdings Reminiszenzen in Furtwänglers Werken. Ich erinnere an ein Thema im Kopfsatz der Ersten Symphonie, dessen Anfang im zweiten Satz der Dritten wieder auftaucht. Auch fängt das Symphonische Konzert mit beinahe dem gleichen Motiv an wie die Zweite Symphonie. Themen, die auf Tonleiterausschnitten basieren, oder solche mit sinusartigen Melodieverläufen gibt es in jedem Werk Furtwänglers, sodass schon dadurch Anklänge der Werke untereinander gewährleistet sind. Dies liegt schlicht daran, dass Furtwängler der Archetyp eines „Igels“ ist. So nennt Isaiah Berlin in seinem Buch Der Igel und der Fuchs, anknüpfend an das antike Sprichwort „Der Fuchs weiß verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große“ diejenigen Künstler und Denker, die von einer großen Idee besessen sind, auf welche sie alles beziehen. Auch Furtwängler hat sein Leben lang eigentlich immer das gleiche Ziel verfolgt. Die einzelnen Werke sind individuelle Lösungen einer stets gleich bleibenden Aufgabenstellung – wie bei Bruckner, der ja auch als „Igel“ in Reinform gelten kann (als spätere Vertreter dieses Typus lassen sich etwa Allan Pettersson, Robert Simpson, Peter Mennin nennen). Und so wie Bruckner mit gewisser Regelmäßigkeit sich selbst zitiert, vielleicht sogar unbeabsichtigt, so tut dies Furtwängler ebenfalls.

Ich gebe gern zu, dass mir die Anklänge an Beethovens Neunte, die Lebrecht im Adagio der Ersten Symphonie Furtwänglers zu hören meint, nie aufgefallen sind. Warum nicht? Weil dieses Adagio mich durch das, was es ist, so gefesselt hat, dass ich mich nicht darum kümmerte, ob Reminiszenzen an ein anderes Meisterwerk darin sind oder nicht. Gedanken darüber, was es zur individuellen Beschaffenheit dieses Satzes zu sagen geben könnte, kommen Lebrecht gar nicht. Meint er ernsthaft, dass es das Wesentliche an diesem Stück sei, dass Furtwängler hier „gestohlen“ habe? Lebrecht hat mit seinen Lesern etwas Bestimmtes vor: Sie sollen gedanklich gelenkt werden, und zwar nicht hin zu einem besseren Verständnis des Werkes, sondern sie sollen ebenso eine Mauer zwischen sich und dem Werk hochziehen, wie sie Lebrecht für seine Person errichtet hat. Wenn in der Kritik steht, jeder Satz der Symphonie beginne mit einem Thema, von dem man wisse, dass man es schon einmal gehört habe, so ist das eine Aufforderung an die Leser, sich, wenn sie denn dazu kommen das Stück zu hören, auf die Frage zu konzentrieren, wo man dieses oder jenes Thema bereits gehört haben könnte. Sie sollen davon abgelenkt werden, den musikalischen Ereignissen zu folgen, so wie Lebrecht ihnen nicht mehr folgen kann, da seine alten Vorurteile gegen Furtwängler ihm den Weg versperrt haben. Man erlebt in seinem Text, wie ein Kritiker, um seine einmal gefestigten Ansichten über einen Komponisten zu bestätigen, alle seine Kräfte zur Reminiszenzenjagd aufbietet, um wenigstens irgendetwas zu finden, das gegen den Komponisten verwendet werden kann. Dass Lebrecht dann keine Kraft mehr hat, sich auf das Werk selbst zu konzentrieren, ist die natürliche Folge.

Sowenig man Furtwängler einen derivativen Komponisten nennen kann, so sehr sind Lebrechts Ausführungen zu seinem Schaffen von Anfang bis Ende ein Derivat, zusammengeleimt aus dem Billigsten, was an Klischees und Vorurteilen über Furtwänglers Kompositionen im Laufe der Zeit von Unwissenden und Übelwollenden in Umlauf gebracht worden ist. Unter seinen Händen ist dieses Gedankengut geradezu eine Karikatur seiner selbst geworden. Man kann beinahe von einer unfreiwilligen Satire sprechen. Kann man angesichts dieser Bankrotterklärung eines der hartnäckigsten Verleumder Furtwänglers vermuten, dass die Gegner des Komponisten ihr Pulver verschossen haben? Gewiss wird man sie noch zu der einen oder anderen Schlammschlacht ausrücken sehen, aber ihre hohlen Phrasen, die sie mangels tatsächlicher Argumente gezwungen sind fortwährend zu wiederholen, werden sich immer weiter abnutzen. An Furtwänglers Werken werden ihre Attacken zerschellen wie eh und je. Dem Konzertleben, den Tonträgerproduktionen und der Musikwissenschaft dagegen steht ein zahlenmäßig nicht großes, aber dafür umso gehaltvolleres Schaffen zur Verfügung, das diejenigen reich belohnen wird, die sich mit Ernst und Zuneigung seiner Ergründung widmen. Es verdiente eine bessere Pflege als sie ihm im 20. Jahrhundert zu Teil wurde. Tun wir es nicht Lebrecht und seinesgleichen gleich, sondern:

Hören wir dem Komponisten Wilhelm Furtwängler gut zu!

Programmzettel zur ersten Aufführung von Furtwänglers Zweiter Symphonie, die nicht vom Komponisten selbst geleitet wurde. Es dirigierte Rolf Agop (1908-1998).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2022]

Musik zur Weihnachtszeit: Das Weihnachts-Oratorium von Richard Wetz

Unter den oratorischen Werken, die die Weihnachtsgeschichte thematisieren, nimmt das Weihnachts-Oratorium auf alt-deutsche Gedichte für Sopran- und Bariton-Solo, gemischten Chor und Orchester op. 53 von Richard Wetz (1875–1935) eine besondere Stellung ein. 1929 vollendet, fällt seine Entstehung in eine Zeit, in der nur verhältnismäßig wenige Komponisten größere Konzertwerke zum Thema „Weihnachten“ schrieben. Zu nennen sind unter Wetzens Generationsgenossen Ottorino Respighi mit seiner Lauda per la Natività del Signore (1930) sowie Walter Braunfels mit seiner Adventskantate op. 45 und seiner Weihnachtskantate op. 52 aus dem Zyklus Das Kirchenjahr (1934–1937). Im Gegensatz zu Wetzens Weihnachtsoratorium ist allerdings keines dieser Werke abendfüllend. Die Christnacht op. 85 von Joseph Haas (1933) hebt sich von Wetz auf andere Weise ab, denn es handelt sich um ein betont volkstümlich gehaltenes geistliches Liederspiel. Mit seiner einfachen, von der Idee der „Gebrauchsmusik“ beeinflussten Gestaltung wurde dieses Werk ebenso wegweisend für zahlreiche spätere Weihnachtsmusiken wie Hugo Distlers Weihnachtsgeschichte op. 10, die, zur gleichen Zeit entstanden, eine Rückbesinnung auf die strenge A-cappella-Polyphonie eines Heinrich Schütz einleitet.

Aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive des Zeitstrahls betrachtet, wirkt Wetzens Oratorium in seiner Zeit isoliert, da eine verstärkte Hinwendung zur Komposition von Weihnachtsoratorien sich letztmals in der Zeit um 1900 feststellen lässt: Heinrich von Herzogenberg komponierte 1894 Die Geburt Christi op. 90, Philipp Wolfrum 1898 Ein Weihnachtsmysterium op. 31, der Dresdner Kreuzkantor Oskar Wermann sein Weihnachs-Oratorium op. 110 1904, im gleichen Jahr wie Andreas Hallén sein Juloratorium. Somit erscheint im historischen Zusammenhang das Wetzsche Weihnachtsoratorium nicht nur als letztes groß dimensioniertes Weihnachtswerk spätromantisch-symphonischen Stils (oder zumindest als eines der letzten), sondern überhaupt als ein erratischer Block, der sich markant aus der geistlichen Chorliteratur seiner Zeit heraushebt.

Der Komponist war sich dessen durchaus bewusst. Am 6. Februar 1927, etwa zwei Monate bevor er mit der Komposition begann, schrieb er in einem Brief an seine Jugendfreundin Martha Grabowski: „Auf diesem Gebiete habe ich nur einen zu fürchten, freilich den gewaltigen Johann Sebastian Bach. Aber ich denke gar nicht daran, ihm auch nur an die Seite und in seine Nähe zu treten, wie ich ja auch im ‚Requiem‘ [op. 50, 1925] mich ganz fern von Mozart gehalten habe.“

In der Tat: Wer den vor Freude und Zuversicht strotzenden Eingangschor des Bachschen Werkes im Ohr hat und sich die Eröffnung eines Weihnachtsoratoriums gar nicht mehr anders denken kann, wird womöglich erschrecken angesichts der Klänge, mit denen Wetz die ersten sechs Minuten seines Weihnachtsoratoriums gestaltet. Die vier Anfangstakte, in denen über einem Orgelpunkt der tiefen Streicher leise Akkorde der Flöten, Klarinetten und Hörner mildes Licht in die Dunkelheit werfen, könnten eine Totenmesse einleiten. Tatsächlich ähneln sie auffallend dem Beginn des Wetzschen Requiems. Dann eröffnen die Bratschen eine ausdrücklich als „sehnsuchtsvoll“ bezeichnete langsame Fuge in e-Moll, die sich bis zum Fortissimo steigert, um anschließend wieder abzuschwellen. Während sie im Pianissimo versinkt, erklingt ein unscheinbares Motiv in den Posaunen, das sich nach einer Generalpause unvermittelt in dissonanten Imitationen aufbäumt. Das erste Intervall, das gesungen wird, ist ein Tritonus. Über heftig bewegten Ostinati sammelt sich der Chor zu einem dreifachen Aufschrei: „O Heiland, reiß den Himmel auf“. Damit wird ein stürmischer Satz in Gang gebracht, in dem der Chor in immer wieder neuen Fugati Anlauf nimmt, das Erscheinen des Heilands zu erflehen, um schließlich mit der Forderung – von einer Bitte lässt sich kaum noch sprechen – „Komm tröst‘ uns hie im Erdental“ in sich zusammenzustürzen. Hier wird weder gejauchzt, noch frohlockt. Das ist Musik der Verzweiflung. Das Erdental, von dem die Rede ist, wird eindeutig als irdisches Jammertal gezeichnet.

Damit haben wir den Schlüssel zum Verständnis des Wetzschen Weihnachtsoratoriums. Begeht Bach Weihnachten als das Fest unerschütterlicher Glaubensgewissheit, so liegt der Anlass für Wetz darin, die Ankunft Dessen zu feiern, der den Menschen Trost im leidvollen Erdendasein spendet und ihnen letztlich Erlösung bringt. Die hymnisch strahlenden Schlüsse, in welche alle drei Teile des Werkes münden, bringen eine Freude zum Ausdruck, die sich aus der Erfahrung des Leides speist. Die Gedankenwelt, der dieses Weihnachtsoratorium entstammt, gehört einem Künstler, der zeitlebens gleichermaßen von der pessimistischen Philosophie Schopenhauers wie von Goethes Glauben an das Wirken des Göttlichen in der Natur geprägt war und dessen Gefühlsleben sich in ständiger Spannung zwischen diesen beiden Polen befand. Weltschmerz und Entsagung einerseits, zum andern der Lobpreis des „einigen, ewigen, glühenden Lebens“, von dem Hölderlin am Schluss seines Hyperion spricht (den Wetz als Kantate vertonte), geben dem gesamten Schaffen des Komponisten das Gepräge. Dabei scheidet Wetz die beiden Ausdruckssphären weniger voneinander als dass er sie miteinander verbindet. Dem Licht ist bei ihm nahezu immer Schatten beigemischt und umgekehrt. In Harmonik und Instrumentation kultiviert er eine Tonsprache feinster Hell-Dunkel-Effekte, sodass man geneigt ist, ihn einen ausgesprochenen Chiaroscuro-Komponisten zu nennen.

Im Weihnachtsoratorium kommt diese Haltung darin zum Ausdruck, dass der Komponist auch nach dem Abklingen der düsteren Einleitungsmusik, wenn sich ein freudiger Grundcharakter eingestellt hat, deutlich die Sphäre des zu überwindenden Leides betont, wo sein Text dies gestattet. So folgt direkt auf Mariae Verkündigung und Empfängnis die Hinweisung auf den Kreuzestod Jesu („mit seiner bittern Marter hat er uns all erlost“, Teil 1, Takt 338ff.), und wenn Christus im Stall zu Bethlehem von den Hirten mit den Worten gepriesen wird: „du machst mich jeden Jammers frei“ (Teil 2, Takt 479ff.), so liegt der Akzent der Vertonung eindeutig auf dem Jammer. Die Freude auszudrücken, in welche „Angst und Not“ verkehrt werden, bleibt der anschließenden Chorfuge vorbehalten. Nach der Geburt Christi kommentiert Wetz die Menschwerdung Gottes im Orchester mit einem Beinahe-Selbstzitat (Teil 2, Takt 110):

Es handelt sich um ein Motiv, das, immer etwas abgewandelt, in mehreren seiner Werke auftaucht und sich erstmals am Beginn der Kleist-Ouvertüre op. 16 (1899/1903) findet, die es mottoartig durchzieht. Kleist symbolisierte für Wetz den an der Welt scheiternden, aber mit seinem Werk triumphierenden Künstler. Die Anspielung auf die Kleist-Ouvertüre gerade an dieser Stelle des Weihnachtsoratoriums lässt sich kaum anders deuten als dass Wetz auch Jesus mit seiner Geburt in eine Welt geschickt sieht, in welcher ein schreckliches Ende auf ihn wartet, über die er jedoch letztlich den Sieg davonträgt.

Viel milder und zarter mischt Wetz Licht und Schatten in den instrumentalen beziehungsweise vom Frauenchor gesungenen Hirten- und Kinderszenen des zweiten und dritten Teils („Hirtenmusik“, Teil 2, Takt 316ff.; „Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein“, Teil 2, Takt 402ff.; „Du lieber, frommer, heilger Christ“, Teil 3, Takt 282ff.). Die freundlichen, leicht beschwingten Melodien in mäßig bewegtem Tempo erklingen hier zunächst in Moll, bevor sie sich nach Dur aufhellen. Durchgangs- und Vorhaltsdissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, bewirken, dass der Musik eine gewisse Herbheit immer erhalten bleibt. Ein weiteres Stilmittel, dessen sich Wetz im Verlauf des Werkes immer wieder bedient, um das Mysterium der Christgeburt zu charakterisieren, ist die plötzliche „Entrückung“ der Musik in andere Tonarten nebst harmonischen Schwebezuständen. Beispielsweise zeichnet er den „alten Stall“ in Bethlehem, indem er über einem Quint-Oktav-Orgelpunkt D-A-d die Musik durch die Dreiklänge von d-Moll, C-Dur, B-Dur, as-Moll, d-Moll, es-Moll, des-Moll, as-Moll, Ges-Dur wandern lässt, um ihn anschließend in einem übermäßigen Dreiklang über Des, der verminderten Dominante zu A, der Subdominate zu D und der Dominante zu H „als wie einen Kristall“ glänzen und scheinen zu lassen (Teil 2, Takt 229–236). Das Orchester reicht dem eine „sehr weiche“ Passage nach, die mittels Quintparallelen in Violinen und hohen Holzbläsern das Schimmern noch verstärkt.

Wetz arbeitete an seinem Oratorium ziemlich genau zwei Jahre. Den Vermerken am Ende der bei Kistner & Siegel erschienenen Partitur zufolge, begann er die Komposition am 12. April 1927 und vollendete sie am 22. April 1929. Als Textgrundlage dienten ihm, wie der Titel des Werkes besagt, „alt-deutsche Gedichte“, die er zu drei Teilen zusammenfasste: „Erwartung und Verkündigung“, „Die Geburt Christi“ und „Die heiligen drei Könige“. Die dichterische Geschlossenheit dieser Texte verdeckt, dass sie aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt sind, deren Entstehungsdaten zum Teil mehrere Jahrhunderte auseinanderliegen (das jüngste Textstück war erst 80 Jahre vor Beginn der Komposition erschienen). Dichtungen prominenter Autoren finden sich ebenso darunter wie Volkspoesie, Texte katholischen Ursprungs stehen neben protestantischen, gottesdienstliche Gesänge neben geistlichen Kinderliedern. Die Formenvielfalt der Texte und ihre konfessionelle Mischung verraten, dass es Wetz nicht darum ging, ein in irgendeiner Weise liturgisch gebundenes Werk zu schaffen. Er selbst war katholisch getauft und blieb auch zeitlebens Mitglied der katholischen Kirche, ohne dass man ihn einen praktizierenden Katholiken nennen kann. Er schätzte Luther und betrachtete die Reformation als hochbedeutendes Ereignis, allerdings eher unter historischem als theologischem Gesichtspunkt. Interessanterweise sah er sein Christusbild als von dem Rationalisten David Friedrich Strauss bedeutend geprägt – im Weihnachtsoratorium dürfte sich davon kaum eine Spur finden lassen. Diese persönliche Indifferenz in religiösen Dingen kontrastiert auffallend zu der großen Zahl geistlicher Texte, die Wetz vertont hat – ein Sachverhalt, der seinen Biographen Rudolf Benl dazu brachte, den Komponisten als einen rastlosen Gottsucher zu charakterisieren. Vielleicht hat Wetz den Heiligen drei Königen in seinem Weihnachtsoratorium gerade deshalb vergleichsweise viel Raum zugestanden, da sie doch ebenfalls Gottsucher, im wahrsten Sinne des Wortes, sind.

Die Textwahl belegt zudem die außerordentliche Belesenheit des Komponisten, der brieflich berichtete, während der Instrumentation des fertigen ersten Teils im August 1928 „30 Bände [!] ausgelesen“ zu haben. Da Wetz in der Partitur seine Quellen nicht genannt hat, seien sie im Folgenden aufgeschlüsselt:

Teil 1

O Heiland reiß den Himmel auf (Friedrich Spee von Langenfeld, 1622)

Kommst du, kommst du, Licht der Heiden (Ernst Christoph Homburg, 1659)

Es wollt gut Jäger jagen (Nürnberg, 1551)

Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum (Graz, 1602)

Komm, Herr Gott, du höchster Hort (Heinrich Bone, 1847)

Teil 2

Kaiser Augustus legete an (Nikolaus Herman, 1560)

Gott, dem der Erdenkreis zu klein (Leipzig, 1724)

In unser armes Fleisch und Blut (Martin Luther, 1524)

Da Christ geboren war (Michael Weiße, 1531)

Auf, auf nun ihr Hirten, und schlaft nicht so lang (alpenländisch, 18. Jahrhundert)

Laufet ihr Hirten, lauft alle zugleich (Schlesien, vor 1842)

O heilig Kind, wir grüßen dich (Franz von Pocci, 1834)

Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein (Elsass, 18. Jahrhundert)

Wir singen dir, Immanuel (Paul Gerhardt, 1653)

Teil 3

Es führt drei Könige Gottes Hand (Köln, 1632)

Jauchzet ihr Himmel (Gerhard Tersteegen, 1731)

Du lieber, frommer, heilger Christ (Ernst Moritz Arndt, vor 1810)

Empor zu Gott mein Lobgesang (Friedrich Adolf Krummacher, 1811)

Alles, was aus Gott geboren (Salomo Franck, 1715)

Wie man sieht, scheute Wetz nicht davor zurück, Texte zu verwenden, die bereits zuvor von anderen Komponisten vertont wurden, etwa Brahms (Es wollt gut Jäger jagen op. 22/4) oder Reger (Unsrer lieben Frauen Traum op. 138/4), ja er baute sogar ein paar Verse ein, die eigens für Bachsche Kantaten geschrieben wurden: „Gott dem der Erdenkreis zu klein“ entstammt Gelobet seist du Jesu Christ BWV 91, die Schlussverse des Oratoriums, „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren“, sind Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80 entnommen. Für den freien Umgang des Komponisten mit seiner Textvorlage ist charakteristisch, dass er Francks nüchternes „von Gott geboren“ zu „aus Gott geboren“ gesteigert hat (eventuell ein Reflex auf das „Deus sive natura“ des von ihm hochverehrten Spinoza). Größere Eingriffe nahm er in Tersteegens Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden vor, um den Text in ein einfacheres Versmaß zu bringen. Auch vertonte er nur von einem Teil der Gedichte alle Strophen. Eine originale Liedmelodie hat Wetz in keinem der Fälle übernommen und auch sonst keine präexistenten Themen (etwa Choräle) verwendet.

Literarisches Rückgrat aller drei Teile ist ein längeres Erzählgedicht, in welchem die Handlung des jeweiligen Abschnitts geschildert wird. Die beiden letzten Teile beginnen mit einer solchen Erzählung, während sie im ersten Teil erst nach dem Eingangschor und dem in die Bitte „Jesu meines Herzens Tür steht dir offen, komm zu mir“ mündenden Bariton-Solo mit „Es wollt gut Jäger jagen“ einsetzt. In den Teilen 2 und 3 fungiert der Bariton als Erzähler, seine Rolle erscheint hier der des Evangelisten in barocken Oratorien angenähert. Den Bericht von der Verkündigung Mariae im ersten Teil lässt Wetz dagegen von einem vierfach geteilten, vorwiegend imitatorisch gesetzten Frauenchor vortragen, dergestalt den mysteriösen, übernatürlichen Teil der Geschichte von Christi Geburt gegen den irdischen abgrenzend.

Jeder Großabschnitt des Weihnachtsoratoriums ist in einem Zug durchkomponiert, wobei die einzelnen Unterabschnitte relativ in sich geschlossen und durch eigene Melodien vom Rest des Werkes abgegrenzt sind. Einigen Motiven kommt jedoch eine mehr als lokale Bedeutung zu, sie durchziehen als „Gefühlswegweiser“ (um Richard Wagners ursprüngliches Wort für „Leitmotiv“ zu verwenden) größere Teile des Werkes. Die beiden wichtigsten erscheinen zuerst, gegen Anfang des ersten Teils. Bereits erwähnt wurde das aufsteigende Motiv aus Quarte, Sekunde und Quarte (bzw. Tritonus), das am Ende des Orchestervorspiels erklingt und dann den ersten Chor ankündigt (Teil 1, Takt 68ff.). Es tritt im zweiten Teil nur zweimal kurz auf, ist aber in den Eckteilen häufiger zu hören. Ich möchte es das „Erwartungsmotiv“ nennen, denn es erscheint immer dann, wenn es im Text in irgendeiner Form um Erwartung geht. Seine harmonische Struktur sorgt dabei stets für eine Zunahme der Spannung:

Noch wesentlich bedeutender ist das zweite Hauptmotiv des Werkes. Es symbolisiert die Person Christi und ist entsprechend in allen drei Teilen des Oratoriums sehr präsent. Zum ersten Mal hört man es nach dem ersten Bariton-Solo, wenn das Orchester auf die Worte des Solisten: „Jesus, […], komm zu mir“, mit diesem Motiv gleichsam verdeutlicht, dass die Bitte erhört wurde, der Heiland tatsächlich kommt. Man kann es somit das „Heilands-“, oder „Christus-Motiv“ nennen. Im Gegensatz zum Erwartungsmotiv wird der Erlöser durch ein gelöstes Fortschreiten in Sekunden und Terzen dargestellt. Man kann das Motiv übrigens in die Tradition musikalischer Kreuzessymbole einordnen, was sich leicht zeigt, wenn man zwischen dem ersten und dem letzten sowie dem dritten und dem vierten Ton jeweils eine Linie zieht:

Beide Hauptmotive sind rhythmisch und melodisch äußerst einfach gestaltet, was ihre Verwendung als Wegmarken innerhalb der Handlung erleichtert. Sie werden im Verlauf des Werkes auf vielfältige Weise harmonisiert und in unterschiedliche Kontexte gestellt, bleiben jedoch in jedem Zusammenhang deutlich vernehmbar. In der Regel erklingen sie im Orchester, sind aber in wenigen besonderen Situationen auch textiert zu hören. So berichtet der Frauenchor von Mariae Empfängnis, indem seine Stimmen in Abständen von Quarte, großer Sekunde und Quarte einsetzen (Teil 1, Takt 281f.):

Einige Takte später wird deutlich gemacht, dass das Heilandsmotiv tatsächlich Jesus Christus symbolisiert, indem der volle Chor im fortissimo auf seine Melodie singt: „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“ (Teil 1, Takt 327ff.):

Neben den zwei Hauptmotiven treten noch drei weitere „Gefühlswegweiser“ als wichtig hervor, ohne allerdings eine ebenbürtige Bedeutung zu erlangen. Sie bestimmen einzelne Teile des Werkes stark, fehlen dafür in anderen ganz und unterscheiden sich von den Hauptmotiven durch ihre größere Ausdehnung und ihr schärferes rhythmisches Profil. Es empfiehlt sich wohl, hier eher von Themen als von Motiven zu sprechen. Eines ist, wie das Erwartungs- und das Heilandsmotiv, instrumentalen Ursprungs. Es handelt sich um das Thema des fugierten Vorspiels zum dritten Teil, das auch im weiteren Verlauf dieses Großabschnitts immer wieder gliedernd auftaucht. Wetz macht es uns durch die Überschrift des Vorspiels leicht, seine Bedeutung zu erkennen: „Die Wanderung der [heiligen drei] Könige“:

Die beiden anderen wichtigen Themen hört man zuerst gesungen. Die Texte, mit denen sie bei ihrem ersten Erscheinen unterlegt sind, werden folglich dem Hörer auch dann ins Gedächtnis zurückgerufen, wenn die Melodien im Folgenden instrumental erklingen. Das eine steht für Maria:

Der Komponist dachte bei diesem Thema übrigens nicht nur an die Mutter Christi, sondern auch an Maria von Pott, eine Krankenschwester, mit der er zu Beginn der 1920er Jahre eine Liebesbeziehung unterhielt, und der er auch dann noch freundschaftlich verbunden blieb, nachdem sie einen wohlhabenden Landwirt geheiratet hatte. Am zweiten Weihnachtstag 1927 schrieb er ihr: „[…] wenn Du mal mein Weihnachtsoratorium hören wirst, wirst Du Dich freuen, wie schön ich immer Deinen Namen komponiert habe.“ Das Marienthema taucht erstmals gegen Mitte des ersten Teils auf, wenn dem „guten Jäger“ auf der Heide „Maria, die Jungfrau schön“ begegnet (Teil 1, Takt 213ff.) und ist letztmals in der Hirtenmusik des zweiten Teils zu hören (Teil 2, Takt 355ff.).

Das andere wichtige Thema, das seinen Ursprung im Gesang hat, taucht nur im zweiten Teil auf. Es ist zum ersten Mal auf die Worte „Da Christ geboren war, freut sich der Engel Schar“ zu hören (Teil 2, Takt 147ff.), liegt in leicht veränderter Form dem Chor „Wir singen dir, Immanuel“ zugrunde (Teil 2, Takt 426ff.) und begleitet im Orchester den auf die Halleluja-Fuge folgenden Schlusschoral dieses Großabschnitts (Teil 2, Takt 622ff.). Nennen wir es getrost „Christgeburtsthema“:

Es bleibt, einen kurzen Überblick über den Verlauf der drei Teile zu geben. Das fugierte Vorspiel zum ersten Teil und der erste Chor wurden bereits erwähnt. Nachdem der e-Moll-Sturm abgeklungen ist, hört man zart und leise den Bariton in Ces-Dur, später F-Dur, um die Ankunft des „Lichtes der Heiden“ und des „starken Trosts im Leiden“ bitten. In B-Dur erscheint erstmals das Heilandsmotiv. In dieser Tonart setzt nun der Frauenchor mit der Erzählung von Gott als dem „guten Jäger“ ein, der Maria auf der Heide antrifft. In der Verkündigungsszene wird der Engel vom Bariton, Maria vom Sopran dargestellt, wobei Wetz die beiden vom Sopran gesungenen Verse mit dem Erwartungs- und dem Heilandsmotiv beginnen lässt, dergestalt die Ergebenheit Marias in das ihr von Gott zugedachte Geschick symbolisierend. Ein kurzes, leises und dunkel getöntes Orchesterzwischenspiel (d-Moll), das Anklänge an den Eingangschor mit dem Heilandsmotiv verbindet, leitet zum Bericht des Baritons von Marias Traum über (in G-Dur beginnend): „Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum, / wie unter ihrem Herzen gewachsen wär‘ ein Baum / […] / Und wie der Baum ein Schatten gab, / wohl über alle Land“, „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“, ergänzt der Chor lautstark in e-Moll. Leise „Kyrieleis“-Rufe führen zu einem Choral (F-Dur), der mit mächtigem Crescendo in einen an den Eingangschor gemahnenden Aufschrei mündet: „Es harret dein die ganze Welt“. Die Steigerung wird instrumental mit einem Nachspiel des Orchesters fortgesetzt, dem das Heilands- und das Erwartungsmotiv als Ostinati zugrunde liegen und das letztlich in B-Dur schließt, der am weitesten vom e-Moll des Anfangs entfernten Tonart.

Ein unruhiges Vorspiel eröffnet den zweiten Teil in d-Moll, bevor der Bariton in C-Dur mit der Erzählung von der Wanderung Marias und Josephs nach Bethlehem anhebt. Den Moment der Geburt Christi verdeutlichen das Marienthema und das Heilandsmotiv. Die Chorsoprane kommentieren die Menschwerdung Gottes, während das Orchester über einem Orgelpunkt auf B mysteriöse Harmoniewechsel, begleitet von eigenartig pochenden Holzbläsern, vollzieht. Es folgt das Quasi-Zitat aus der Kleist-Ouvertüre. In G-Dur verkünden anschließend der Solo-Sopran und ein bassloser Chor die Freude der Engel über Christi Geburt. Im folgenden Unterabschnitt wechseln zwei Melodien einander ab: eine lebhafte, mit der der Bariton die Hirten zusammenruft, und eine ruhige, mit der der Sopran das Kind betrachtet. Letztere wird später vom Chor aufgegriffen, in erstere stimmt schließlich auch der Sopran koloraturenreich ein. Zuerst ist das Geschehen in Moll-Tonarten gehalten (e, h, a), dann setzt sich A-Dur durch. Der gleiche Dur-Moll-Wechsel vollzieht sich auch in der rein instrumentalen Hirtenmusik (g/G), die das Heilandsmotiv und das Marienthema in wiegendem 6/8-Takt variiert. Ein Choral in Es-Dur und ein pittoresker Frauenchor in g-Moll/G-Dur folgen. Ein „freudig bewegter“ Chor, der „Immanuel“, dem „Friedensfürsten“ und „Gnadenquell“ ein Loblied singt (F-Dur) und als Mittelteil ein ruhiges kanonisches Duett der Solostimmen (h-Moll) enthält, die hier eindeutig Maria und Joseph darstellen, bereitet die ebenfalls lebhafte Halleluja-Fuge vor. Diese ist ein Glanzstück des Kontrapunktikers Wetz, dem man die gute Schulung anhand der (wie er sich ausdrückte) „prächtigen alten Knaben“ aus dem 16. bis 18. Jahrhundert anmerkt, die er als Leiter des Erfurter Madrigalchors regelmäßig zur Aufführung brachte. Eine kurze homophone Coda beschließt den zweiten Teil kraftvoll in F-Dur.

Ist der zweite Teil als deutlicher Kontrast zum ersten angelegt, so knüpft der dritte in mancherlei Hinsicht an diesen an. Auch hier steht ein fugiertes Vorspiel am Anfang (b-Moll). Vielleicht hat Wetz, als er die beschwerliche Gottsuche der Heiligen drei Könige auf diese Weise gestaltete, an die eigentliche Bedeutung des Wortes „Ricercar“ (= Such-Stück) gedacht? Die Fuge verläuft in zwei Steigerungswellen, deren zweite in das Heilandsmotiv mündet. Es erklingt hier im dreifachen forte des vollen Orchesters, als deutliche Reminiszenz an die Stelle „Herr Jesus Christ, der Heiland“ im ersten Teil. Danach wird der fugierte Tonsatz aufgegeben und die Erzählung des Baritons beginnt. Sie wird, der Dichtung folgend, in regelmäßigen Abständen von Reflexionen des Chores unterbrochen, deren zweite („O Gott, erleucht vom Himmel fern, die ganze Welt mit diesem Stern“, D-Dur) mit ihrem imitatorischen Satz wie eine besänftigte Variante des Eingangschors von Teil 1 wirkt. Nach der Ankunft der Könige im Stall jubeln Sopran und Bariton: „Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden, / Gott und der Sünder solln Freunde nun werden.“ Ihre Bitte: „Verleih uns die Huld und schenke uns bald, / heiliger Christ, die Kindergestalt“ gibt das Stichwort zu einem Frauenchor, der ausdrücklich als „kindlich“ bezeichnet ist und von verspielten Instrumentalmotiven begleitet wird. Hier vollzieht sich zum letzten Mal der für das Werk so charakteristische Tongeschlechtswechsel von Moll nach Dur (e zu G, dann zu E). Die im Moll zunächst wehmütig anmutende Gesangsmelodik wandelt sich im Dur zu unbeschwerter Heiterkeit. In den Orchesterritornellen fehlt die Imitation einer Kindertröte nicht. Dieses Geschehen überführt Wetz bruchlos in einen C-Dur-Choral, welcher das Finale des ganzen Werkes einleitet, eine ausgedehnte Doppelfuge über die Worte: „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren. / Halleluja.“ Das erste Thema ist in breiten Notenwerten gehalten, das zweite („Halleluja“) erscheint zuerst in den Solostimmen und hat figurativen Charakter. Obwohl Wetz an kontrapunktischen Künsten nicht spart (Engführungen), wirkt diese Fuge durch mehrere homophone Zwischenspiele lockerer gefügt und gelöster als diejenige des zweiten Teils. An äußerer Prachtentfaltung übertrifft sie sie deutlich. „Anwachsend zur höchsten Kraft“ schließt das Weihnachtsoratorium mit dem Heilandsmotiv in C-Dur. Das Ende des dritten Teils (C) liegt also eine Quinte über dem des zweiten (F) und zwei Quinten über dem des ersten (B). Das tonale Emporstreben der Musik wird zum Symbol für das Emporstreben des Göttlichen in der Welt.

Aufnahmen

Bislang kann man sich nur anhand einer einzigen CD-Aufnahme einen klingenden Eindruck des Weihnachtsoratoriums von Richard Wetz verschaffen. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts aus der Erfurter Thomaskirche vom 27. November 2010. Marietta Zumbült (Sopran) und Máté Sólyom-Nagy (Bariton) sangen gemeinsam mit dem Dombergchor Erfurt (Einstudierung: Silvius von Kessel) und dem Philharmonischen Chor Erfurt (Einstudierung: Andreas Ketelhut). Es spielte das Thüringische Kammerorchester Weimar unter der Leitung von George Alexander Albrecht. Die Aufnahme ist bei cpo erschienen:

cpo, 777 638-2; EAN: 7 61203 76382

Der Verfasser dieses Artikels war damals bei dem Konzert anwesend. In gleicher Besetzung wurde das Werk 2012 noch einmal in Weimar (Weimarhalle) zu Gehör gebracht, wobei die Ausführenden ihre Leistung gegenüber 2010 steigern konnten.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (4): Beth Levin und Beethovens Tempo

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Was ist ein richtiges Tempo? Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu geben, über die im Laufe der Zeit eine gewiss nicht geringe Zahl Musiker und Hörer nachgedacht hat, soll im Folgenden nicht versucht werden. An dieser Stelle wollen wir uns darauf beschränken, die Sinne zu schärfen. Als Gegenstand der Betrachtung wähle ich eine einzelne Aufnahme, die mir besonders gut geeignet erscheint, ein Gespür für die Problematik des richtigen Tempos zu entwickeln: 2019 spielte Beth Levin in Baltimore Ludwig van Beethovens Große Sonate für das Hammerklavier B-Dur op. 106. Der Mitschnitt des Konzerts, in welchem die Pianistin neben Beethovens Werk auch Georg Friedrich Händels Suite d-Moll HWV 428 und Anders Eliassons Carosello (Nr. 3 der Stücke, die der schwedische Meister unter dem Gattungstitel „Disegno“ zusammenfasste) zu Gehör brachte, erschien rechtzeitig zum 250. Geburtstag Beethovens 2020 unter dem Titel Hammerklavier Live bei Aldilà Records.

Bekanntlich versah Beethoven den ersten Satz der Großen B-Dur-Sonate mit der Metronomisierung Halbe = 138, und ebenso bekanntlich haben nur wenige Pianisten den Versuch unternommen, den Satz in dieser Geschwindigkeit zu spielen. Arthur Schnabel, Walter Gieseking und Michael Korstick kamen dabei am nächsten an das von Beethoven notierte Tempo heran. Aber sie blieben Ausnahmen. Die meisten anderen wählten ein mäßigeres Zeitmaß. Der Aussage Hermann Kellers, dass „nach [Beethovens Metronomisierung] der erste Satz in einem so unsinnig schnellen Tempo zu spielen wäre, daß dieses Tempo nicht nur kaum ein Spieler erreichen kann, sondern daß dadurch auch der musikalische Inhalt des Satzes völlig zerstört werden würde“ (Hermann Keller: „Die Hammerklavier-Sonate“, Neue Zeitschrift für Musik 1958), hat die Mehrheit der Pianisten vielleicht nicht verbal, wohl aber in der musikalischen Praxis zugestimmt. Da sich das Problem der Realisierbarkeit der Metronomangaben Beethovens auch in anderen Fällen einstellt, wurde oft vermutet, er habe ein defektes Metronom besessen. Auch erscheint es möglich, er habe das Metronom schlicht falsch abgelesen (wie Almudena Martín Castro und Iñaki Úcar Marqués in einer Studie plausibel gemacht haben). Es verhalte sich mit dem Metronom wie es wolle; interessanter dürfte sein, dass Schnabel, Gieseking und Korstick das Ritardando, das Beethoven im achten Takt des Satzes vorschreibt, bereits im vorangehenden Takt vorbereiten, sie mithin also alle empfinden, die Verlangsamung solle nicht plötzlich erst da stattfinden, wo sie tatsächlich laut Notation verlangt wird. Darin bloß eine körperliche Entspannungsreaktion auf die im „korrekten“ Tempo vorgetragenen, vollgriffigen Anfangstakte zu sehen, wäre zu kurz gedacht, schließlich zeigt sich das gleiche Phänomen auch bei Pianisten, die deutlich langsamer spielen (etwa bei Daniel Barenboim, der den Satz in rund 12 ½ Minuten, einschließlich Expositionswiederholung, darbietet). Die Notwendigkeit einer allmählichen Verlangsamung stellt sich bei den Musikern gleichsam von selbst ein. Warum ist das so? Betrachten wir die Takte 7 und 8, so bemerken wir, dass die Musik hier auf eine Dominantharmonie zusteuert und auf dieser kurz inne hält (Fermate). Die Bewegung hin zu dieser Dominante zeichnet sich in Takt 7 bereits deutlich ab. Harmonisch bringt der Takt 8 zu Ende, was sich im Takt 7 (und den vorangehenden Takten) angedeutet hat. Die Pianisten empfinden diesen Zusammenhang und setzen ihn um in Form eines Ritardandos, das an Länge das vom Komponisten vorgeschriebene übertrifft.

Damit ist die Frage aufgeworfen, was sich eigentlich in Notenschrift festhalten lässt. Will Beethoven, dass im Takt 8 des Allegros von op. 106 ein Ritardando gemacht wird, oder will er, dass nur an dieser Stelle ein Ritardando gemacht wird? Spielen die Pianisten richtig, wenn sie bereits in Takt 7 leicht und dann in Takt 8 deutlich verlangsamen, oder spielen sie richtig, wenn Takt 7 im raschen Tempo des Anfangs gespielt und erst in Takt 8 verlangsamt wird? Und wie stark soll das Ritardando in Takt 8 sein? Dazu steht in den Noten nichts. Außer den Ritardandi und den ihnen folgenden A-Tempo-Vorschriften enthält der Satz keine weiteren Angaben zur Gestaltung der Zeitmaße. Damit scheint die Frage geklärt, welches Tempo als das Maßgebliche für den ganzen Satz anzusehen ist, nämlich offiziell Halbe = 138. Aber ist dieser Schluss zwingend?

Sehen wir uns ein Stück aus späterer Zeit an: Die Vierte Symphonie von Jean Sibelius, ein Werk, das einer Epoche entstammt, die zu Tempi und Vortrag stärker differenzierte Angaben anzubringen pflegte als dies zu Beethovens Zeit üblich war. Berühmt ist die Coda des Finalsatzes dieser Symphonie, in der ein Zerfallsprozess auskomponiert wird. Metronomangaben enthält die Partitur nicht, für den ganzen Finalsatz gilt (wie für Beethovens Sonatenkopfsatz) eine einzige Tempovorschrift: „Allegro“. Soll die Coda also gleich schnell gespielt werden wie der Satzanfang? „Nein“, sagt – Jean Sibelius! Nachträglich wiederholt um Metronomangaben gebeten, schrieb der Komponist zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Zahlen auf. Die Coda des Finales bezeichnete er mit einer vom Rest des Satzes abweichenden Metronomisierung. Wer nur die Partitur kennt, kann das nicht wissen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie viele Dirigenten um Sibelius‘ Metronomisierungen wussten. Es findet sich aber kaum einer, der am Ende der Vierten Symphonie das Tempo nicht wenigstens minimal verlangsamt.

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen Auffassungen der Dirigenten vom Schluss des Kopfsatzes der Achten Symphonie Anton Bruckners (zweite Fassung). Bruckner selbst beschrieb ihn als Sterbeszene: Es sei, als wenn einer einer im Sterben liege, und gegenüber hänge die Uhr, die, während sein Leben zu Ende gehe, immer gleichmäßig fortschlage. Es ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine Uhr kein Ritardando mache. In dieser unerbittlichen Gleichmäßigkeit bringen beispielsweise Hans Rosbaud und Jascha Horenstein den Satz zum Abschluss. Hat dann Wilhelm Furtwängler Unrecht, wenn er diese Takte als lang gezogene allmähliche Verlangsamung spielen lässt, oder Sergiu Celibidache, wenn er das Gleichmaß bis kurz vor Schluss durchhält und beim letzten Erklingen des Motivs ein Ritardando anbringt? Muss ein Dirigent, weil der Komponist selbst die Musik so beschrieb, sich verpflichtet fühlen, das Bild von der tickenden Uhr umzusetzen? Man sollte auch bedenken, dass Bruckners Worte aus einem Brief an den jungen Felix Weingartner stammen, den er um eine Aufführung des Werkes bat, und der damals noch ein leidenschaftlicher Anhänger der Programmmusik war. Ein echtes Programm hat Bruckner seiner Symphonie nie beigelegt.

Aber kehren wir zu Beethovens Sonate op. 106 zurück und widmen uns der Einspielung Beth Levins! Ihre Aufführung des Werkes kann man ohne zu untertreiben eine besondere nennen – ich möchte sagen: eine besonders mutige. Die Pianistin vermeidet nämlich metronomisch normierte Tempi und absolut festgelegte Geschwindigkeiten, was vor allem im Kopfsatz zu mitunter sehr starken Temposchwankungen führt. Beethovens Vorgabe „Allegro“ scheint sie aufzufassen als: „ein Stück im Allegro-Charakter“, offensichtlich bedeutet sie ihr nicht, dass ein einzelnes Tempo über den ganzen Satz hinweg durchgehalten werden muss. Würde Levins Aufnahme sich durch nichts anderes als ständige Tempowechsel aus der Masse der Einspielungen herausheben, so wäre sie nicht weiter interessant, ja man würde sie vielleicht als Dokument selbstherrlicher Interpretenwillkür wahrnehmen. Aber das ist sie gerade nicht! Levins Tempi sind keineswegs willkürlich gewählt, sondern lassen sich durchweg aus dem Verlauf der Musik heraus legitimieren. Wir haben oben anhand der Aufnahmen Schnabels, Giesekings und Korsticks feststellen können, dass auch Pianisten, die nach metronomischer Genauigkeit streben, ihr Tempo vorübergehend abwandeln, weil die harmonische Beschaffenheit der Musik ihnen dies als angemessen erscheinen lässt. Beth Levins Tempowahl speist sich aus keiner anderen Quelle. Sie orientiert sich an den tonalen Schwerpunkten der Musik. Die einzelnen Phrasen lässt sie sich auf ein temporäres harmonisches Ziel hin entfalten bzw. von einem Ausgangspunkt weg. Die Geschwindigkeit ergibt sich dabei aus der jeweiligen Situation heraus. So, wie sie unter Levins Händen zu hören sind, haben bestimmte Geschehnisse von der Pianistin eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos geradezu gefordert, um besonders deutlich in ihrer Eigenart wie in ihrer Funktion im Zusammenhang des Ganzen erfassbar zu werden. Sei es das Ansteuern eines harmonischen Zentrums oder das Wegstreben von ihm, eine Veränderung in der Beschaffenheit des Tonsatzes, die Darstellung der Wechselwirkung polyphoner Linien: Immer besteht für Beth Levin ein triftiger Grund, das Zeitmaß so zu gestalten, wie sie es tut.

Anhand der ersten Takte des Kopfsatzes soll nun verdeutlicht werden, wie Levin im einzelnen vorgeht. Die akkordisch gesetzten ersten vier Takte nimmt sie nicht sehr schnell, aber vergleichsweise rasch. Dem erstmaligen Durchschreiten harmonischer Zwischenstufen in den nächsten vier Takten widmet sie mehr Zeit, betont die Sequenz, achtet auf die gleichmäßige Viertelbewegung im Bass, und wird, wie ausdrücklich in der Partitur gefordert, noch einmal langsamer, wenn sich die Musik kurz auf der Dominante niederlässt. Wenn die Musik von Takt 5 in Takt 9 eine Oktave höher noch einmal ansetzt, geschieht dies wieder Tempo von Takt 5. Ab Takt 12, wo die eintaktigen Phrasen sich zu zweitaktigen weiten, spielt Levin etwas rascher. Das damit verbundene Crescendo lässt sie vorrangig in der absteigenden Basslinie stattfinden, dadurch deren Sonderstellung gegenüber den anderen Stimmen betonend. Das Periodenende wird mit einem kleinen Ritardando markiert. Die in Takt 17 mit dem Wiedereintritt der Tonika beginnende neue Periode bewegt sich anders als die vorigen. In der rechten Hand wechselt je ein Takt in Halben mit einem in Vierteln (mit verschiedener Begleitung in der linken Hand). Levin hebt dies hervor, indem sie die Takte in Halben geringfügig langsamer nimmt als die Takte in Vierteln; somit ergibt sich von selbst eine Beschleunigung, wenn sich in Takt 25 die Viertel-Bewegung durchsetzt. Ist diese Steigerung in Takt 27 auf ihrem melodischen Höhepunkt angelangt, so beschleunigt Levin noch etwas, wenn die Musik nun in die Tiefe stürzt um ab Takt 31, wenn sie, auf der Domiante angelangt, ohne Harmoniewechsel wieder in die Höhe steigt und dabei leiser wird, deutlich langsamer zu werden. Man könnte, so weitermachend, jede Seite der Partitur mit der Aufnahme abgleichen und fände die Tempowahl der Pianistin stets in der musikalischen Struktur begründet. Das feine Herausarbeiten der Einzelheiten, oft in Verbindung mit verbreitertem Tempo, und der dabei durchweg gewahrte Überblick Beth Levins über den Fortgang der Handlung lassen die ungeheuren Spannkräfte der Musik erst recht hervortreten. Zu jedem Augenblick möchte man sagen: „Verweile doch, Du bist so schön!“, und doch herrscht faustischer Vorwärtsdrang. Selten hört man das Ringen zwischen Rubato und Momentum in einer solchen Deutlichkeit wie hier!

Über die Proportionen des Werkes in Levins Aufnahme mögen hier noch die Spieldauern der einzelnen Sätze Auskunft geben:

Allegro: 12:04 (ohne Expositionswiederholung)

Scherzo: 03:11

Adagio: 17:10

Finale: 14:11

Beth Levins Album Hammerklavier Live ist übrigens nicht nur wegen Beethovens op. 106 empfehlenswert. Auch die Werke der anderen beiden Großmeister laden, abgesehen davon, dass sie größtes Hörvergnügen bereiten, dazu ein, über die Wiedergabe von Musik nachzudenken. Wie geht man damit um, dass Händel seine Klavierwerke nur äußerst spärlich mit Vortragsbezeichnungen versehen hat? – Eliassons Carosello aus dem Jahr 2005 wird weitgehend von einer Drei-Achtel-Bewegung getragen. Die Harmonik prägt klare tonale Zentrierungen aus, ohne dass je sich eine Tonika eindeutig durchsetzt. Beth Levin gibt der Darstellung dieser harmonischen Schwebezustände den Vorzug vor einer konsequenten Umsetzung mechanischer Karussellrotation. Man hört sozusagen ein imaginäres, unwirkliches, erträumtes Karussell, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es sich gar nicht gleichmäßig drehen will. Übersteigt hier nicht die Kunst den Trott der profanen Welt? Und gilt nicht letztlich für Levins Beethoven-Darbietung das Gleiche?

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (3): Hans Rosbauds Vermächtnis

SWR Classic, SWR19089CD; EAN: 7 47313 90898

In dieser Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums werden die bei SWR Classic gesammelt herausgebrachten Beethoven-Aufnahmen eines besonderen Dirigenten vorgestellt: Hans Rosbaud.

Den Symphonien Ludwig van Beethovens dürften sich so viele Dirigenten gewidmet haben wie keiner anderen Gruppe von Orchesterwerken irgendeines Komponisten. Man hat also die Wahl zwischen Unmengen an Gesamteinspielungen und Einzelaufnahmen. Nicht selten liegen von einem Kapellmeister alle oder zumindest einige der Stücke mehrmals auf Tonträgern vor. Wie es bei so ungeheuer populären und entsprechend oft aufgeführten Werken kaum anders der Fall sein kann, geht mit der Vielzahl der Interpreten auch eine Vielfalt der Darbietungsweisen einher, die immense Qualitätsunterschiede einschließt. Wer hat nicht alles versucht, mit Beethoven seine musikalische Visitenkarte abzugeben? Als was ist Beethoven im Laufe der Zeit nicht alles präsentiert worden? Man hat ihn auf Hochglanz poliert, gegen den Strich gebürstet, in metronomisch exakten Gleichschritt gebracht und denselben durch Dauerrubato gezielt vermieden. Beethoven ist des Einen Romantiker und des Anderen Klassizist, für Manchen gar ein alles zertrümmernder Revolutionär. Die Symphonien gibt es „sachlich-nüchtern“ ebenso wie hyperemotional. Der eine Dirigent verspricht uns den „Beethoven fürs 21. Jahrhundert“, der andere will den Komponisten gar nicht aus dem 18. – oder was er dafür hält – herauslassen. Für Non-Vibrato-, Non-Legato- und Staccato-Freunde hat man die Symphonien schon aufgenommen, und auch der Heavy-Metal-Beethoven scheint auf dem Wege zu sein. Abseits der großen Konzerthallen und Plattenproduktionen, abseits der Quellen der Tagesmode, finden sich schließlich die regionalen Klangkörper, die auf ihr Wirken hinweisen möchten. Dass sie dazu gern Beethoven wählen, wer möchte es ihnen verargen? Mit den Werken des meistgespielten Symphonikers lässt sich nun einmal gut zeigen, was ein Kapellmeister in der Provinz mit seinem Orchester leisten kann. Angesichts der großen Zahl an Aufnahmen, die im Laufe der Zeit von Beethovens Symphonien gemacht worden sind, kann man sich durchaus fragen, welche Dirigenten den Kompositionen am ehesten gerecht geworden sind.

„Beethoven was a complete artist“, sagt Donald Francis Tovey zu Beginn seiner leider unvollendet gebliebenen Beethoven-Monographie. Ein vollständiger Künstler – damit ist viel mehr gemeint als nur die vollkommene Beherrschung des Handwerks und die Fähigkeit, es souverän im Dienste der Formung musikalischer Gedanken zu gebrauchen. Letztlich war Beethoven auch einer der vielseitigsten Schöpfer musikalischer Charaktere. Wie jedes seiner Sonatenwerke, von den kurzen, zweisätzigen Klaviersonaten bis hin zum cis-Moll-Streichquartett und zur Neunten Symphonie seine individuelle, nur ihm eigene Form besitzt, so haben sie alle auch ihr persönliches Profil, einen bestimmten Grundcharakter, dem sich aber auch weitere Charakterzüge beimischen können – in Form zum Kopfsatz kontrastierender Sätze, wie auch als Kontraste innerhalb der Sätze selbst. Kurzum: Beethovens liebt es, seine Werke als das zu gestalten, was man in der Wortdichtung „runde Charaktere“ nennen würde. Und wie unterschiedlich ist die Grundstimmung der Stücke! Nicht nur stehen beispielsweise das Violinkonzert, das Vierte Klavierkonzert und die Pastorale in mehr oder weniger direkter Nachbarschaft zur Fünften Symphonie und zur Appassionata. Auch Werke, die gewöhnlich aufgrund ihrer Tonart als zusammengehörige Gruppe betrachtet werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als recht verschieden. So redet man gern von Beethovens c-Moll-Stücken als seien die betreffenden Werke einander charakterlich besonders ähnlich. Aber ist es nicht eher erstaunlich, welch unterschiedliche Akzente Beethoven im ersten Satz der Fünften Symphonie und in der Coriolan-Ouvertüre setzt? Und im Streichquartett op. 18/4, und in der Klaviersonate op. 10/1? Oder nehmen wir uns die zahlreichen Werke in F-Dur vor, in welcher Tonart Beethoven ein Viertel seiner Streichquartette komponiert hat. Kinder vom selben Vater gewiss, aber wie hat doch jedes seinen eigenen Kopf!

Dieser Vielgestaltigkeit der Beethovenschen Erfindungsgabe haben große Musiker in ihren Wiedergaben seiner Werke stets Rechnung zu tragen gesucht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Aufführungen spiegeln die individuelle Herangehensweise der Interpreten wieder, doch lässt sich als gemeinsamer Nenner anführen, dass sie alle darauf aus gewesen sind, den Gedankenreichtum, von dem Beethovens Kompositionen zeugen, klingende Wirklichkeit werden zu lassen, den Komponisten als „vollständigen Künstler“ zu präsentieren. Ein Dirigent, der in diesem Sinne mit besonderem Geschick für die Orchesterwerke gewirkt hat, ist Hans Rosbaud (1895–1962), dessen zwischen 1953 und 1962 mit dem Südwestfunk-Orchester Baden-Baden aufgezeichnete Beethoven-Aufführungen von SWR Classic im Jahr 2020 auf sieben CDs veröffentlicht worden sind.

Man hat bereits zu seinen Lebzeiten versucht, Rosbaud Etiketten aufzukleben, ihn in Schubladen einzusortieren – in recht unterschiedliche Schubladen! Rosbaud selbst stellte fest, dass er in Donaueschingen als Modernist galt, in Aix-en-Provence als Mozartianer, in München als Bruckner-Dirigent. Nun, die Leute hatten Recht – wie auch diejenigen Recht hatten, die Rosbaud besonders mit Mahler assoziierten, und auch die, für die er aufgrund seiner von der Deutschen Grammophon produzierten LP mit Orchesterstücken Sibelius‘ ein bedeutender Sachwalter dieses Komponisten war. Ja, Rosbaud war dies alles. Nur eines war er nicht, und wollte es auch nie sein: ein einseitiger Spezialist. Am dauerhaftesten hielt sich nach seinem Tode sein Ruf als Förderer der Avantgarde, was insofern berechtigt war, als dass kein anderer Dirigent sich nach dem Zweiten Weltkrieg so energisch dafür einsetzte, die Werke Schönbergs und seiner Schüler dem Musikleben Deutschlands zurückzugewinnen und kein anderer auf den Donaueschinger Musiktagen so viele Uraufführungen junger Avantgardisten dirigierte, darunter Ligetis Atmosphères und Pendereckis Fluorescences. Auch die Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron (konzertant Hamburg 1954, szenisch Zürich 1957) gehört zu Rosbauds Verdiensten. Allerdings beschränkte sich sein Einsatz für neue Musik keineswegs auf zwölftönige, serielle und postserielle Stücke. So zählen zu den von Rosbaud uraufgeführten Werken ebenso Johann Nepomuk Davids Erste und Karl Amadeus Hartmanns Zweite Symphonie, die jeweils einzigen Symphonien des bayrischen Spätromantikers Heinrich Kaspar Schmid und des im Krieg getöteten Jarnach-Schülers Leo Justinus Kauffmann, sowie die Ouvertüre zu einem frohen Spiel von Joseph Haas. Beinahe wäre er auch Uraufführungsdirigent der Zweiten Symphonie Wilhelm Furtwänglers geworden, doch entschied sich der Komponist letztlich, das Werk selbst als erster herauszubringen.

In einer autobiographischen Skizze (kurz nach seinem Tode 1963 veröffentlicht in: Das musikalische Selbstportrait, hrsg. von Josef Müller Marein und Hannes Reinhardt) schrieb Rosbaud, er sei „im Laufe der Zeit dahinter gekommen, daß all diese verschiedenen Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sich in Wirklichkeit zu einem Großen und Ganzen ergänzen“. Damit meinte er nicht nur die alte und die neue Musik und ihre verschiedenen Stilrichtungen, sondern auch außermusikalische Wissensgebiete, wie Sprachen (er las Altgriechisch und Latein und sprach fünf lebende Sprachen fließend) und „naturwissenschaftliche Dinge“, wie Kernphysik, die den „leidenschaftlichen Mathematiker“ (wie ihn Müller-Merein nennt) „unendlich fessel[te]n“. Es machte ihn glücklich, sich „immer wieder neue und möglichst schwere Aufgaben“ zu stellen, „die ich lösen will“. Zu diesem Bild eines vielseitig interessierten Menschen passt, dass Rosbaud sich als ausübender Musiker nicht nur auf das Dirigieren beschränkte. So trat er immer wieder auch als Pianist in Erscheinung und hat diesen Teil seines Wirkens durch mehrere Aufnahmen dokumentiert, beispielsweise als Liedbegleiter von Boris Christoff oder Elisabeth Schwarzkopf. Mit Maria Bergmann und den Schlagzeugern Werner Grabinger und Erich Seiler nahm er Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug auf. Zu Beginn seiner Laufbahn komponierte er auch häufiger. Vielleicht würde es sich lohnen, einmal eines der Werke Rosbauds zur Aufführung zu bringen? Es ist jedenfalls denkbar, dass der Schüler Bernhard Sekles‘ auch auf diesem Gebiet Tüchtiges geleistet hat. Ein Klaviertrio von ihm wurde übrigens unter Mitwirkung seiner Mitschüler Paul und Rudolf Hindemith zur Uraufführung gebracht.

Rosbaud wuchs sozusagen nach guter alter Sitte in das Kapellmeisterhandwerk hinein, nämlich als ein Musiker, der beinahe alle Orchesterinstrumente spielen gelernt hatte. Sein Lehrer Sekles stellte ihm deshalb folgendes Zeugnis aus: „Er ist auf diese Weise in der Lage, den einzelnen Orchestermusikern Ratschläge zu geben, wie es heutzutage kaum einem Dirigenten möglich ist. Da sich zu all diesen Eigenschaften eine durchaus ideal gerichtete Gesinnung, eine seltene Begeisterungsfähigkeit und ein stählerner Wille gesellt, nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diesen Willen in der bezwingendsten Form durchzusetzen, so ist Hans Rosbaud für jedes Musikinstitut ein unschätzbarer Gewinn.“

Bei jeder Aufgabe, die er sich stellte, ging Rosbaud mit untrüglicher Professionalität ans Werk. Um eine möglichst gelungene Aufführung zu garantieren, scheute er auch vor überdurchschnittlich vielen Proben nicht zurück. Zugleich war er in der Lage, eine ihm neue Partitur in kürzester Zeit zu erfassen. Beide Eigenschaften bewährten sich bei den Uraufführungen von Schönbergs Moses und Aron: Zur Vorbereitung der konzertanten Premiere standen ihm nur wenige Tage zur Verfügung, da er kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt eingesprungen war; für die szenische Premiere nahm er sich dann außerordentlich viel Zeit: Laut Kurt Honolka (Knaurs Weltgeschichte der Musik, 1979) modellierte Rosbaud das schwierige Werk in nicht weniger als 324 Einzelproben. „Ehe wir die Partitur nicht vollkommen servieren, werden wir sie nicht beurteilen können!“, hat er bei anderer Gelegenheit einmal geäußert. Dies kann als Maxime seines Arbeitens als ausführender Musiker gelten.

Rosbaud hatte in den 20er Jahren zu den Pionieren orchestralen Musizierens im Rundfunk gehört. In der Nachkriegszeit wurde das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden zum Zentrum seines Wirkens, dessen Chefdirigent er von 1948 bis zu seinem Tode war. Ihm zu Ehren wurde das Baden-Badener Aufnahmestudio des Senders in „Hans-Rosbaud-Studio“ umbenannt. (Es ist geplant, diese wichtige Spielstätte deutscher Musikgeschichte 2024 abzureißen.) Einige seiner Aufnahmen mit dem Südwestfunk-Orchester sind seit längerer Zeit auf dem Markt verfügbar, doch erst vor wenigen Jahren wurde damit begonnen, Rosbauds Vermächtnis beim SWR systematisch zu veröffentlichen. Die von SWR-Classic herausgebrachte Reihe hat mittlerweile den stattlichen Umfang von zwölf Folgen erreicht, von denen die Hälfte sechs bis neun CDs stark sind. Man kann Rosbaud erleben mit: Haydn, Mozart, Beethoven, Weber und Mendelssohn, Chopin, Schumann, Wagner, Bruckner, Brahms, Tschaikowskij, Mahler sowie Sibelius. Weitere werden hoffentlich bald folgen. Die Beethoven- und Mahler-Editionen enthalten auch Aufnahmen mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, das von Rosbaud ebenfalls häufig dirigiert wurde.

Als Beethoven-Dirigent ist Rosbaud bei SWR Classic auf insgesamt sieben CDs dokumentiert. Die Edition umfasst die Symphonien Nr. 1–3 und Nr. 5–8 (die Achte findet sich in zwei Aufnahmen von 1956 und 1961), fünf Ouvertüren (Coriolan, Egmont, Fidelio, König Stephan, Leonore III), sowie an konzertanten Werken das Violinkonzert, das Fünfte Klavierkonzert und das Tripelkonzert (mit durchweg hervorragenden Solisten: Ginette Neveu, Robert Casadesus, und dem wie ein Instrument spielenden Trio di Trieste). Eine umfangreiche Werkliste – und doch ein Fragment. Die Vierte und die Neunte Symphonie vermisst man umso schmerzlicher, da Rosbaud (man möchte sagen: natürlich) alle Beethoven-Symphonien im Repertoire gehabt und diese mitunter auch zyklisch in Konzertreihen präsentiert hat. Auch anhand der weiteren Folgen der Edition wird deutlich, dass leider nur von einem Teil der Werke, die Rosbaud dirigiert hat, Aufnahmen auf uns gekommen sind. Von den oben genannten Symphonikern liegen nur im Falle von Brahms alle Symphonien vor (dafür Nr. 1 und Nr. 3 in zwei Aufnahmen). Bei Bruckner und Mahler bietet sich ein ähnliches Bild wie bei Beethoven: Von Mahler fehlen alle Symphonien mit Chor, von Bruckner die Nr. 1. Letzteres Werk möge kurz zum Anlass dienen darauf hinzuweisen, dass einst mehr Aufnahmen Rosbauds existiert haben müssen. So erwähnt Robert Simpson 1950 in der Zeitschrift Music Survey, dass Einspielungen der Ersten, Zweiten, Vierten, Sechsten und Achten Symphonie Bruckners durch die Münchner Philharmoniker unter Rosbauds Leitung vom Third Programme der BBC ausgestrahlt worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks. Was ist aus ihnen geworden? Wurden sie gelöscht, oder darf man hoffen, dass sie sich erhalten haben? Mindestens von einem Werk Beethovens, das in der SWR-Edition nicht enthalten ist, ist eine Aufführung Rosbauds aus früherer Zeit überliefert: 1940 hatte er mit dem Orchester des Deutschlandsenders die Ouvertüre Die Weihe des Hauses aufgenommen.

Aber schauen wir nicht zu lang auf die Lücken, sondern freuen wir uns an dem, was wir haben, denn dies ist letzten Endes eine beträchtliche Anzahl Aufnahmen, sämtlich dargeboten in überragender Qualität. Die ersten beiden Symphonien hat Rosbaud mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester eingespielt, die übrigen in der SWR-Box präsentierten Werke mit seinem Stammorchester vom Baden-Badener Südwestfunk. Hört man hinein, fällt zunächst die Gediegenheit des Orchesterspiels auf. Mit der ihm eigenen Sorgfalt hat Rosbaud in intensiver Probenarbeit die verschiedenen Klanggruppen aufeinander abgestimmt und an keiner Stelle des musikalischen Verlaufs das klingende Ergebnis dem Zufall überlassen. Überall spürt man die genau modellierende Hand eines Musikers, der das Orchester als ein großes, vielstimmiges Instrument begreift und die Möglichkeiten der Artikulation, die es ihm bietet, ausgiebig nutzt. Beethovens Kontrapunkt findet in ihm einen idealen Darsteller, denn Rosbaud ist im polyphonen Satz hörbar in seinem Element. Nicht nur die fugierten Abschnitte kommen wunderbar zur Geltung, auch im schlichter gestalteten Tonsatz behält der Dirigent Nebenstimmen stets im Blick, weiß, dass eine Begleitung eine wichtige zweite Ebene ist, die im Hintergrund deutlich präsent sein muss. Dadurch werden auch die Feinheiten der Instrumentation Beethovens erlebbar. Rosbaud erzeugt einen tiefen, vielschichtigen Orchesterklang, macht deutlich, wie abwechslungsreich Beethoven seine musikalischen Gedanken instrumental eingekleidet hat.

Man kann Rosbaud wohl einen analytischen Musiker nennen, doch trifft man damit nur eine Seite seines Wesens. Dass seine Durchleuchtung von Beethovenschen Instrumentation und Tonsatz so intensiv wirkt, verdankt sich dem Umstand, dass Rosbaud ein untrügliches Empfinden für melodische Entwicklung und damit für Tonalität und Formung besaß. Die erklingende Musik ist stets im Fluss, nimmt eine bestimmte Entwicklung. Nie verliert der Dirigent den Überblick über den Zusammenhang, in welchem die gerade gespielten Töne stehen, ob sie Spannung aufbauen, oder zu einer Entspannungsepisode gehören. Besondere Aufmerksamkeit wendet er Phrasenenden zu, jenen Stellen, die den Übergang von einer musikalischen Sinneinheit zur nächsten markieren. Weniger achtsamen Dirigenten geht gerade hier oft der rote Faden verloren. Rosbaud, der die Musik in großen Zusammenhängen erfasst, führt das Orchester sicher von einer Phrase zur nächsten, lässt die musikalische Handlung als Folge weitgeschwungener Perioden entstehen. Wie Rosbaud mit den Kräften Haus hält, lässt sich gut anhand des Kopfsatzes der Sinfonia eroica nachvollziehen. So entwickelt er zu Beginn nach den zwei Orchesterschlägen, in denen er die Bläser deutlich hervortreten lässt, die Musik in langem Crescendo auf das Sforzato des zehnten Taktes hin. Dieses lässt er nicht als grobe Betonung des ersten Taktschlags eintreten, sondern als nochmaliges kurzes Aufblühen, wodurch der Hauptakzent der Periode auf eine leichte Taktzeit hinübergezogen und die Metrik zusätzlich belebt wird. Danach herrscht spannungsvolles Piano in den deutlich pochenden Streichern. Die „Echoeffekte“ stehen nicht isoliert, sondern sind als Glieder einer langen Melodie wahrzunehmen. Nach Erreichen des Beinahe-Tutti in Takt 23 (fp) achtet Rosbaud darauf, dass die Akkordbrechungen der zweiten Violinen und Celli nicht zugedeckt werden. Die anschließenden, von Synkopen und Sforzati geprägten Takte erscheinen bei aller Schärfe der Artikulation als eine ausgedehnte, gleichmäßige Klangfläche, in welcher die Spannung festgehalten wird, damit sie beim eigentlichen Höhepunkt in Takt 37 umso wirkungsvoller entladen werden kann. Im letzten Takt dieses Tuttis lässt Rosbaud die Lautstärke ganz leicht abschwellen, um den folgenden leisen Abschnitt nicht zu stark abgehoben erscheinen zu lassen. Der Dirigent hat immer im Blick, was als nächstes folgt. Beeindruckend gelingt ihm die Vermittlung zwischen schroffsten Gegensätzen in der Mitte der Durchführung: Auf dem Höhepunkt des ersten Durchführungsteiles werden die schreienden Dissonanzen unerbittlich durch markiertes Spiel betont, und auch im anschließenden Diminuendo der Streicher wird das Marcato bis zum Phrasenende durchgehalten, wenn die Musik ins Piano übergeht, in welchem dann das e-Moll-Thema einsetzt. Der Neuheit dieses zuvor nicht erklungenen Gedankens Rechnung tragend, entlockt Rosbaud seinen Musikern hier ein so inniges Cantabile, wie man es im ganzen Satz noch nicht gehört hat.

Rosbaud lässt sich im allgemeinen Zeit. Er hat offensichtlich die von Beethoven nachträglich den Werken hinzugefügten Metronomzahlen nicht als verpflichtend empfunden, konnte denjenigen Dirigenten nachfolgender Generationen also kein Vorbild sein, die sich anschickten, diese Vorgaben „historisch informiert“ in die Praxis umzusetzen. Dass die einst herrschenden Zweifel an der Richtigkeit der Beethovenschen Metronomangaben in jüngerer Zeit erneut aufgekommen sind – die These Almudena Martín Castros und Iñaki Úcar Marqués‘, dass Beethoven Mälzels Metronom schlicht falsch abgelesen und deswegen durchweg zu rasche Tempi notiert hat, hat einiges für sich –, sollte zum Anlass genommen werden, von der Idee, es gäbe absolut richtige Tempi, die in jeder Aufführungssituation unbedingt zu beachten wären, Abstand zu nehmen, und die Tempowahl eines Dirigenten danach zu beurteilen, in wie fern damit der Dramaturgie des aufgeführten Werkes Rechnung getragen wird. Dass Rosbaud gemessene Tempi kein Selbstzweck sind, zeigt sich anhand der Einleitung zur Siebten Symphonie, die er, verglichen mit den Eröffnungen der Ersten und Zweiten, ziemlich zügig dirigiert, und im zweiten Satz dieses Werkes, der ein echtes Allegretto ist. Seine Zeitmaße erscheinen im Hinblick darauf gewählt, wichtige Details zur Geltung zu bringen und den Zusammenhalt aller Abschnitte des jeweiligen Satzes zu gewährleisten. Darum sind sie „richtig“. Das relativ breite Grundtempo des Finales der Fünften Symphonie beispielsweise (10 Minuten ohne Wiederholung) bewährt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird es dem hymnischen Charakter der Hauptthemen gerecht, zum andern ermöglicht es, die Geschwindigkeit in der Coda zum Presto zu beschleunigen, ohne dass es dabei übereilt zugeht. Die letzten Takte der Symphonie, in denen vielen Dirigenten im wahrsten Sinne des Wortes der Atem ausgeht, erfüllt Rosbaud bis zum Schluss mit Spannung. Überhaupt fasst er rasche, laute Werkschlüsse nie als Anhängsel auf, in denen sich die Musiker tumultuarisch gehen lassen dürfen. Immer weiß er seinen Orchestern gegen Ende noch ungeahnte Kräfte zu entlocken, die deutlich machen, dass er seine Aufführung gezielt auf diese Momente hin angelegt hat: Man höre etwa, wie prachtvoll sich die Schlüsse der Zweiten Symphonie, der Leonoren- und der Egmont-Ouvertüre entfalten, wie erhaben Beethoven hier klingt!

Rosbaud wird oft als ein „sachlicher“ Dirigent bezeichnet. Wenn man darunter einen bloßen Notenwiedergeber versteht, der sich nicht um das schert, was im Notentext nicht steht, so wäre das eine Fehleinschätzung. Berechtigt erscheint das Wort, wollen wir darunter einen Musiker verstehen, der der Sache, also dem Werk, auf den Grund geht, um dessen Eigenarten zur Geltung zu bringen, der – um Rosbauds eigene Worte zu benutzen – die Partitur „vollkommen serviert“. Was aber lässt sich unter einer solchen Vollkommenheit anderes denken, denn eine meisterhafte Komposition als einen „runden Charakter“ erfahrbar zu machen? An Rosbauds Beethoven-Einspielungen fasziniert letztlich vor allem, dass der Dirigent tatsächlich die Vielseitigkeit dieser Musik zu erfassen sucht und sie nicht durch einseitige Interpretation einebnet. Das zeigt sich namentlich an der immer wieder begegnenden Mischung „harter“ und „weicher“ Artikulation, die komplexe Szenarien schafft, etwa wenn im Allegretto der Siebten Symphonie der gleichförmige Grundrhythmus des Satzes hart und markant, die darüber erklingende Melodie aber ausgesprochen gesanglich gespielt wird, oder im Fugato des Trauermarsches der Eroica das Gegeneinander von Staccato und Legato deutlich hörbar ist. Im Trio der Achten Symphonie – nach einem in seiner Mischung aus Derbheit und Grazie wunderbar getroffenen Menuett – entlockt der oft als nüchtern verschrieene Dirigent den Hörnern und Klarinetten Töne wärmster Waldesromantik, zu kernigen Triolen der Celli. Wie hoch steht diese Kunst über dem handwerklich präzisen, aber geistlosen Töneaufsagen der Gielen und Boulez (die Rosbaud auch als Schönberg-Dirigent weit überragt) einerseits und dem oberstimmen-, meist violinbetonten, mit verschwommener Begleitung unterfütterten Weichspülstil eines Karajan anderseits!

Man kann SWR Classic gar nicht genug danken für die Veröffentlichung dieser Beethoven-Aufnahmen. Sie dokumentieren das von ebenso großer Sorgfalt wie Einfühlsamkeit geprägte Musizieren eines außerordentlichen Dirigenten, der im besten Sinne ein Sachwalter der von ihm aufgeführten Werke gewesen ist. „Beethoven was a complete artist“ – wer ihn als solchen kennen lernen möchte, dem seien die Rosbaud-Aufnahmen wärmstens ans Herz gelegt.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (1)

Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.

Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.

Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!

Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige

Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:

So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)

Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)

Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)

In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)

Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):

10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“

Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.

Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.

Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent

Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.

Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.

Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?

Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.

Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.

Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.

Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.

Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke

Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.

Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.

Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:

Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“

(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)

Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.

Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.

Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“

Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.

Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?

Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?

(Hier geht es zu Teil 2.)

[Nobert Florian Schuck, November 2021]

Spannende Kurzgeschichten meisterhaft erzählt

Aldilà Records, ARC 022; EAN: 9 003643 980228

Auf seinem bei Aldilà Records erschienen Russischen Album präsentiert der Pianist Andrea Vivanet Stücke russischer Meister aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es beginnt mit Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 von Sergej Tanejew und schließt mit den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Schostakowitsch. Verbunden werden sie durch drei Zyklen von Nikolai Tscherepnin, die hier erstmals eingespielt worden sind: Six Préludes op. 17, Cinq Morceaux op. 18 und die auf Volksliedern basierenden Primitifs.

Zu den Markenzeichen von Aldilà Records gehört die wohlüberlegte Zusammenstellung der einzuspielenden Kompositionen. Die Programme gleichen Vortragsfolgen von Konzerten. Sie bringen Werke verschiedener Komponisten zusammen, die nicht selten unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen entstammen, wobei stets darauf geachtet wird, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden, sich zwischen den einzelnen Stücken ein Netz von Beziehungen entspinnt. Wiederholt fanden sich dabei vielgespielte Werke mit solchen kombiniert, die bislang noch gar nicht auf CD vertreten waren und nun zeigen konnten, dass sie neben den bekannteren sehr wohl zu bestehen vermögen. Ebendieses Konzept prägt auch das Russische Album des Pianisten Andrea Vivanet.

Das Album lässt drei russische Komponisten aus drei aufeinander folgenden Generationen zusammentreffen, wobei der Reiz darin besteht, dass die Werke zeitlich näher beieinander liegen, als es die Lebensdaten ihrer Autoren vermuten lassen: Sergej Iwanowitsch Tanejew (1856–1915) ist zwar der an Jahren älteste Komponist, doch sein Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 entstand erst 1910, mehrere Jahre nach den Six Préludes op. 17 (1900) und den Cinq Morceaux op. 18 (1901) seines jüngeren Zeitgenossen Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin (1873–1945). Dessen 1926 komponierter Zyklus Primitifs. 12 Adaptions d’anciennes mélodies russes geht den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906–1975), der mehr als drei Jahrzehnte nach Tscherepnin geboren wurde, um lediglich sieben Jahre voraus. Wir haben also ein Bündel von 49 Stücken vor uns (48, zählt man Tanejews Präludium und Fuge als ein einzelnes), die innerhalb von nur 33 Jahren entstanden und bei denen es sich teils um Frühwerke, teils um verhältnismäßig späte Werke der jeweiligen Komponisten handelt.

Dass das Programm des imaginären Konzerts sehr abwechslungsreich geraten ist, erscheint bei dieser Konstellation kaum verwunderlich. Zugleich wird deutlich, welch unterschiedliche Arten musikalischer Ausdrucksweisen innerhalb eines recht kurzen Zeitraums nebeneinander existierten. Vivanet bietet sozusagen eine kurzgefasste Überblicksdarstellung zur russischen Klavierminiaturistik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Sergej Tanejew war der große Poeta doctus der russischen Musik, ein tief empfindender Künstler, dessen leidenschaftliche Liebe zum kontrapunktischen Gestalten nahezu seinem gesamten Schaffen das Gepräge gibt. Die Fuge war ihm, im Gegensatz zu manchem Zeitgenossen (innerhalb wie außerhalb Russlands) kein Demonstrationsobjekt akademischer Gelehrsamkeit, sondern ein tondichterisches Ausdrucksmittel, das er regelmäßig dazu nutzte, im Schlusssatz eines Werkes die Musik zu maximaler Spannung zu steigern. Obwohl in jungen Jahren als einer der besten Pianisten Russlands gerühmt (Pjotr Tschaikowskij betraute ihn mit Ur- und Erstaufführungen seiner Klavierkonzerte), hat Tanejew relativ wenig für Soloklavier geschrieben. Das einzige dieser Werke, dem er eine Opuszahl zugestand, ist zugleich das späteste: Präludium und Fuge gis-Moll op. 29.

Während Tanejew bis zuletzt der traditionellen Dur-Moll-Funktionsharmonik treu blieb, auf deren Grundlage er seine kontrapunktischen Monumentalbauten errichtete, wandten sich viele jüngere Kollegen den noch wenig erkundeten Feldern der Harmonik zu, auf die sie von Wagner und Debussy, aber auch von Mussorgskij und Rimskij-Korsakow, hingewiesen wurden – und von Chopin, der, obwohl großer Bach-Verehrer, als Begründer jener sich vom Wohltemperierten Clavier deutlich abhebenden Tradition der, wenn wir sie so nennen wollen, „Préludes sans fugues“ zum mehr oder weniger direkten Vorbild zahlreicher russischer Klavierkomponisten um 1900 wurde. Wie Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninoff, seine direkten Altersgenossen, hat sich auch der 1873 geborene Rimskij-Korsakow-Schüler Nikolai Tscherepnin ausgiebig diesem romantischen Typus der Klavierminiatur zugewandt. Die beiden Sammlungen op. 17 und op. 18 enthalten Charakterstücke verschiedenster Art in sehr gewählter Tonsprache, deren erlesene Harmonien und ungewöhnliche Fortschreitungen in entsprechend abwechslungsreicher pianistischer Faktur präsentiert werden. Zwar verbindet die Stücke eine einheitliche Grundstimmung – es dominieren mäßige Tempi und ein elegischer Tonfall – doch wiederholt sich Tscherepnin nicht und gibt jedem von ihnen ein persönliches Profil. Da steht beispielsweise die leidenschaftlich hin- und hergerissene Improvisation (op. 18/3) neben der konsequent durchgeführten Synkopenstudie (op. 18/4) und dem feierlich entrückten, sehr geschickt Glockenschall imitierenden Religioso (op. 18/4). Von diesen Beispielen russischer Fin-de-Siècle-Kultur heben sich die zweieinhalb Jahrzehnte später komponierten zwölf Stücke mit dem etwas provokanten Titel Primitifs deutlich ab. Der Komponist hat ihnen keine Opuszahl gegeben, vielleicht weil ihnen keine Melodien eigener Erfindung zugrunde liegen, sondern Volkslieder, die er einer 1810 erschienenen Sammlung entnahm. Was Tscherepnin mit diesem vorgefundenen Material macht, geht jedoch deutlich über das hinaus, was man in der Regel unter Volksliedbearbeitungen versteht. Dem Titel alle Ehre machend, arbeitet der Komponist mit „primitiven“ Gestaltungsmitteln: Es begegnen Ostinati, einfache Sätze mit Hauptstimme und Begleitung, Stimmen in schlichter Parallelführung, Heterophonie. Dabei nimmt Tscherepnin aber kaum Rücksicht auf die tonsetzerische Schulweisheit des 19. Jahrhunderts: Er steuert gezielt harte Zusammenklänge an, führt die Stimmen konsequent in dissonanten Parallelen, hebt Melodie und Begleitung rhythmisch deutlich voneinander ab und baut gelegentlich Effekte ein, die an Schlaginstrumente erinnern. Das ganze Opus ist ein Tribut an die russische Volksmusik mit ihren charakteristischen unregelmäßigen Metren, ihren stampfenden Tanzrhythmen und Glockentönen. Der Komponist, der vor der bolschewistischen Revolution nach Georgien ausgewichen war und seit 1921 im Pariser Exil lebte, ruft sich hier die Klänge seiner Heimat in ungeglätteter, rauer Naturschönheit ins Gedächtnis.

Die Stilistik der Tscherepninschen Primitifs wirkt gar nicht mehr spätromantisch und weist deutliche Parallelen zur neutonalen Ausdrucksweise der jüngeren Generation auf, womit auf ganz natürliche Weise der Bogen zu Dmitrij Schostakowitschs Préludes op. 34 geschlagen wird, diesem zurecht viel gespielten Miniatur-Wunderkabinett eines jungen Genies, das hier, noch nicht von den politischen Repressionen späterer Jahre überschattet und auf dem Höhepunkt seiner Pianistenlaufbahn stehend, seiner Phantasie unbekümmert die Zügel schießen lässt und mit wenigen Tönen treffsicher charakterisiert, auch karikiert, dramatisch zuspitzt und immer wieder den Hörerwartungen Haken schlägt.

Ein höchst anspruchsvolles Programm hat Andrea Vivanet sich bei diesem Projekt also vorgenommen – anspruchsvoll nicht nur deswegen, weil nicht wenige der hier eingespielten Stücke virtuose Fingerfertigkeit verlangen, sondern vor allem, weil so unterschiedlichen Stilen beizukommen, so viele verschiedene musikalische Charaktere adäquat darzustellen sind. Ebendies ist Vivanets Stärke. Bereits mit seinen früheren Veröffentlichungen war der Italiener, der lange in Paris lebte und zur Zeit in Georgien weilt, als ein Musiker aufgefallen, der sich mit den Werken, die er vorträgt, innig vertraut gemacht, sich in sie eingelebt hat. Hört man ihm zu, so spürt man sein Spiel jene Ruhe ausstrahlen, in welcher die Kraft liegt: eine Gelassenheit, wie sie nur einer zu vermitteln im Stande ist, der in der Musik tatsächlich jeden Winkel kennt. So wirkten unter seinen Händen die vielschichtigen Mischklänge Karol Szymanowskis überraschend luzide (Naxos), und Pjotr Tschaikowskijs Klaviersonate op. 37 klang in seiner Einspielung nicht wie das Nebenwerk eines Meisters, sondern wie das Meisterstück, das sie ist (Sheva).

Vivanet erfasst hörbar die unterschiedlichen Abschnitte eines musikalischen Verlaufs als aufeinander bezogen. Er besitzt ein untrügliches Gespür für den Auf- und Abbau harmonischer Spannung. In keinem Moment hat man bei ihm das Gefühl, der Pianist wisse nicht genau, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung er sich gerade befindet. So gerät ihm auch nichts beiläufig. Keine der auf dem Russischen Album aufgenommenen Miniaturen huscht einfach so vorüber. Jede erfasst Vivanet in ihrer Eigenart und arbeitet ihre Handlung mit sicherer Hand heraus.

Seine Meisterschaft des Anschlags besteht darin, für jede Situation den richtigen zu finden. Man höre etwa, wie er der Nr. 1 der Primitifs weder das marcato, noch das cantabile schuldig bleibt, rasch zwischen beiden zu wechseln versteht, dabei aber durch feinfühlige Dosierung der Kraft einen Moment des Übergangs markiert, sodass man nicht meint, ein Nacheinander bloßer Effekte, sondern die Änderung eines Zustands wahrzunehmen! Gerade bei Schostakowitsch feiert diese Kunst Triumphe. Wie reizvoll hält Vivanet im Prélude Nr. 6 in der Schwebe, ob das Stück Tanz oder Marsch, oder vielleicht doch beides zugleich ist! Wie geschickt versteht er es darzustellen, wie Nr. 9 sich unruhig hierhin und dorthin wendet, ohne sich recht entscheiden zu können; oder wie der gehetzte Walzer von Nr. 15 in gelöste, tänzerische Bewegung umschlägt und schließlich zu einem zarten Ausklang findet; oder wie Nr. 24, das groteske Spazierstückchen, es plötzlich seltsam eilig hat und sich ebenso plötzlich beruhigt, bevor es seinen alten Trott wieder aufnimmt! Ja, wie wunderbar erzählt Vivanet all diese spannenden Kurzgeschichten!

Die Begleitung einer Melodie ist für Vivanet nie etwas Unwesentliches, sondern stets eine zweite Ebene der Musik, die mit ebensolcher Sorgfalt bedacht wird wie die Hauptstimme. Welches Eigenleben die Begleitung erhalten kann, merkt man besonders, wenn sie rhythmisch der Melodie entgegengesetzt ist, wie im ersten der Tscherepninschen Morceaux op. 18. Aber auch bei einfacheren Strukturen differenziert der Pianist deutlich. In Schostakowitschs Prélude Nr. 13 meint man die Bässe von Tuben vorgetragen zu hören, während die rechte Hand Flöte spielt. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass dialogisch angelegte Stücke wie das Sopran-Bass-Duett in Schostakowitschs Nr. 7 bei Vivanet ebenfalls in besten Händen sind. Desgleichen die Glockenstücke (Schostakowitsch Nr. 23, Tscherepnin op. 18/5), in denen das Klavier vielschichtig und vielfarbig schallen darf.

Mit einem solchen Glockengeläut markiert auch Tanejew den Höhepunkt seiner Fuge, wenn er das Thema des Präludiums aufgreift, um es ein letztes Mal prunkvoll in Szene zu setzen. Bis zu diesem Punkt ist viel passiert. Die Fuge ist eine Doppelfuge, in der das erste Thema sogleich in der Exposition vom zweiten beantwortet wird. Der kontrapunktische Wirbelwind, den Tanejew aus ihnen entfacht, kennt bis zum Schluss kein Rasten (Schalk, der er ist, lässt der Komponist das Stück nach der Klimax abrupt und leise verwehen, wie einen Windhauch) – und auch in diesem Sturm behält Vivanet souverän die Übersicht.

Muß ich noch sagen, dass ich allen Freunden kultivierten Klavierspiels Andrea Vivanets Russisches Album wärmstens empfehlen kann? Seine Darbietung der bekannten Werke Tanejews und Schostakowitschs ist schlicht mustergültig. Die Stücke Nikolai Tscherepnins werden hier erstmals überhaupt auf CD präsentiert. Das Album markiert damit auch, so steht zu hoffen, einen Wendepunkt in der Rezeption eines lange unterschätzten großen Klavierminiaturisten.

(NB: Den Umschlag zieren Abbildungen georgischer Artefakte aus dem 16. und 19. Jahrhundert, die im Beiheft durch einen kleinen „Ausstellungskatalog“ erläutert werden. Sie sind eine Hommage an den Aufnahmeort, das Georgische Staatskonservatorium in Tiflis, an welchem Nikolai Tscherepnin von 1918 bis 1921 als Direktor wirkte.)

[Norbert Florian Schuck, November 2021]

Bewährtes in erfreulicher Darbietung

Wer sich am 17. November 2021 im SAL (Saal am Lindaplatz) in Schaan, dem größten Ort Liechtensteins, einfand, oder die Aufführung als Direktübertragung im Netz verfolgen konnte, hatte die Gelegenheit, das Sinfonieorchester Liechtenstein unter der Leitung Wayne Marshalls, des ehemaligen Chefdirigenten des WDR Funkhausorchesters Köln, mit Kompositionen Edvard Griegs und Pjotr Tschaikowskijs zu hören. Zur Aufführung kamen Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1 op. 46 und sein Klavierkonzert a-Moll op. 16 sowie Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74, die Pathétique. Solistin des Abends war die 17-jährige Eva Gevorgyan.

Die Werke erfuhren eine Wiedergabe, der man eine sorgfältige Vorbereitung anhörte. Offenbar sind die Musiker nicht der Auffassung gewesen, dass solch allseits bekannte und seit je populäre Stücke sich gleichsam „von selbst“ spielen und routiniert bewältigt werden können. Wayne Marshall hat hier nichts dem Zufall überlassen. Der Dirigent erwies sich als fähiger Klangmodellierer, der die einzelnen Orchestergruppen gut aufeinander abzustimmen versteht. So blieb die Interaktion der Stimmen ebenso durchweg nachvollziehbar wie die Vielschichtigkeit der orchestralen Farbgebung deutlich wurde. Gerade die pittoreske Instrumentation der Peer-Gynt-Suite kam trefflich zur Geltung. Bei der Wahl der Tempi legte Marshall Wert auf beständigen Vorwärtsdrang. Ein Schwelgen in „schönen Stellen“, ein Aufbauschen von Ritardandi oder ein extremes Rubatospiel sind seine Sache nicht. So ließ er etwa im Finale des Griegschen Klavierkonzerts den lyrischen Kontrastabschnitt verhältnismäßig zügig spielen (was dem Zusammenhalt des Satzes gut tat), und auch die langsameren Peer-Gynt-Stücke klangen auffallend stringent. In der Halle des Bergkönigs ließ er die Trolle dagegen zunächst betont schwerfällig einher trotten und steigerte damit die Wirkung des abschließenden Accelerandos. Die Wiedergabe der Pathétique überzeugte ebenfalls durch klug gewählte Tempi. Nirgends klang es übereilt, nirgends ging der Spannungsbogen verloren. Die scharfen Kontraste im Kopfsatz wurden deutlich herausgestellt, ohne dass das Stück in Episoden zerfiel. Den Finalsatz hörte man als strengen, schicksalhaften Abschluss.

Eva Gevorgyans Klavierspiel harmonierte trefflich mit Marshalls Dirigat. Die junge Pianistin besitzt ein Gespür für Melodie und verfügt über einen abwechslungsreichen Anschlag. Dass sie im Orchester einen Partner sieht, mit dem das Soloinstrument zusammenwirkt, zeigte sich daran, dass sie, auch wenn das Orchester nur dezent begleitete und sie brillieren durfte, die Orchesterinstrumente deutlich durchdringen ließ. Der Walzer von Chopin, den sie als Zugabe spielte, gefiel durch geschmackvolles Rubatospiel.

Auch wenn sich das Konzert nicht durch ein besonders originelles Programm ausgezeichnet hat, so bot es doch Aufführungen, die geeignet waren, die Freude an den wohlbekannten Werken wach zu halten. Das Publikum dankte mit warmherzigem Beifall.

[Norbert Florian Schuck, November 2021]

Der späte Triumph des Verfolgten

51 Jahre nach dem Tode des Komponisten erlebte Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten im Rahmen des Festkonzerts der ACHAVA Festspiele Thüringen am 23. September 2021 durch den MDR-Rundfunkchor und das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Dennis Russell Davies seine Uraufführung. Thematisch passend ging dem Werk Leonard Bernsteins Symphonie Nr. 1 Jeremiah voraus (Mezzosopran: Solenn‘ Lavanant-Linke). Eröffnet wurde das Konzert mit einer weiteren Uraufführung: Silvius von Kessels Heller-Suite für Orgel, gespielt vom Komponisten selbst.

Die Aufführung eines großen chorsymphonischen Werkes ist mittlerweile offensichtlich zu einem traditionellen Bestandteil der seit 2015 jährlich in Thüringen veranstalteten ACHAVA Festspiele geworden. Das diesjährige Festkonzert, das am 23. September im Dom St. Marien zu Erfurt stattfand, kann getrost als eines der bedeutendsten Ereignisse in der noch jungen Geschichte des jüdischen Kulturfestivals bezeichnet werden, denn es verhalf erstmals überhaupt einer Komposition zu klingender Existenz, die mehr als fünf Jahrzehnte auf ihre Uraufführung hatte warten müssen: dem Requiem für den unbekannten Verfolgten von Hans Heller. Bestrebungen, das Schaffen Hellers in Thüringen bekannt zu machen, lassen sich seit einiger Zeit erkennen. Bereits 2011 war eine Ouvertüre des Komponisten in Hellers Geburtsstadt Greiz zu Gehör gebracht worden und hatte Eindrücke vom Stil des 1969 gestorbenen Schreker-Schülers vermittelt. Diese wurden durch mehrere Klavier- und Liederabende in den vergangenen Jahren vertieft, so durch die Konzerte 2020 und 2021 in der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, die gleichfalls mehrere Uraufführungen boten.

Die Premiere des Requiems markiert zweifelsohne einen vorläufigen Höhepunkt in der Geschichte der Entdeckung dieses Komponisten. – Es ist eine Entdeckung, denn von einer Wiederentdeckung lässt sich in Hellers Fall kaum sprechen: Nur ein kleiner Teil seiner Kompositionen wurde zu seinen Lebzeiten öffentlich gespielt, und zahlreiche Werke warten immer noch darauf, ein erstes Mal zu erklingen. Die Frage, warum sein Schaffen keine weitere Verbreitung fand, wird freilich erst durch intensivere Forschungen zum Lebenslauf des Künstlers in der gebotenen Ausführlichkeit beantwortet werden können, doch geben die bislang an die Öffentlichkeit getretenen Werke des Komponisten und die aus seiner Biographie bekannten Fakten bereits einigen Aufschluss. Natürlich ist hier zunächst die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu nennen, die Heller nach 1933 eine Weiterführung seiner Laufbahn in Deutschland unmöglich machte. In der Emigration vermochte er nie endgültig Fuß zu fassen und blieb künstlerisch isoliert, was im Wesentlichen auch für die Zeit nach seiner Rückkehr nach Deutschland gilt. Schließlich lässt sich auch sein Kompositionsstil selbst als Grund anführen: Zeugten bereits die Klavierwerke und Lieder von einer sehr persönlichen Stimme, so bietet das Requiem für den unbekannten Verfolgten vollends das Bild eines Komponisten, der sich nur schwer in eine der künstlerischen Strömungen seiner Zeit einordnen lässt.

Wer war Hans Heller?

Hans Hellers Biographie ist auf mehreren Ebenen von Bruchlinien durchzogen. Am 15. Oktober 1898 im ostthüringischen Greiz geboren, wuchs er in einer assimilierten jüdischen Familie auf. Seine musikalische Begabung zeigte sich früh, sodass er durch Auftritte als Geiger oder Pianist bereits als Jugendlicher zu lokaler Bekanntheit gelangte. Die erste große Zäsur seines Lebens setzte der Erste Weltkrieg: Gerade 18 Jahre alt geworden, wurde er 1916 zur Armee eingezogen. Im letzten Kriegsjahr wurde er von einem Granatsplitter am Ellenbogen verletzt, wodurch er den getroffenen Arm nur noch eingeschränkt bewegen konnte. Obwohl ihm die erhoffte Laufbahn als Pianist unmöglich geworden war, vertiefte er seine Kenntnisse des Klavierspiels ab 1920 am Leipziger Konservatorium unter Anleitung Robert Teichmüllers und Carl Adolf Martienssens. Daneben studierte er Musiktheorie bei Stephan Krehl. 1924 zog er nach Berlin und wurde im folgenden Jahr Kompositionsschüler Franz Schrekers, was er bis 1929 blieb. Mit Schreker und dessen Frau Maria pflegte Heller bald auch privat freundschaftliche Kontakte. In Berlin wurde er mit Arnold Schönberg, Alban Berg, Paul Hindemith und Ernst Krenek bekannt. 1927 heiratete er die aus Hannover stammende Pianistin Ingrid Eichwede, die er noch aus seiner Zeit in Leipzig kannte. Das einzige Kind des Paares, der Sohn Peter, der sich später der Malerei widmete, kam 1929 zur Welt.

Während Heller sich Anfang der 30er Jahre in Berlin als Komponist zu etablieren begann, erlebte er, wie der Nationalsozialismus zu immer stärkerem Einfluss gelangte. Über den Charakter der braunen Bewegung machte er sich keine Illusionen und bereitete frühzeitig die Emigration seiner Familie vor. 1933 zogen die Hellers nach Paris. Obwohl Heller bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weiter komponierte, fand er keinen Anschluss ans französische Musikleben. So gelangte auch seine in Paris komponierte Zweite Symphonie dort nicht zur Aufführung (und wartet auf eine solche bis heute).

1939 begann für den Komponisten die furchtbarste Zeit seines Lebens. Beinahe fünf Jahre lang wechselten Gefangenschaft, Flucht und Verstecken einander ab. Zunächst wurde er nach Kriegsbeginn – wie zahlreiche Juden, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren – als Deutscher auf Befehl der französischen Regierung verhaftet und in ein Arbeitslager in der Nähe von Nîmes deportiert. Die Niederlage Frankreichs hatte seine Auslieferung an die Gestapo zur Folge. Nur durch einen Irrtum seiner Wächter entging er der Deportation nach Osten, kurz darauf gelang ihm die Flucht. Wieder mit seiner Familie vereint, wurde er von französischen Widerstandskämpfern in einem Bergdorf in den Cevennen versteckt. Nach der Besetzung Südfrankreichs durch die Wehrmacht fiel Heller im Januar 1944 den Deutschen erneut in die Hände und wurde zur Schwerstarbeit beim Bau militärischen Anlagen gepresst. Als er im März in ein Vernichtungslager deportiert werden sollte, schaffte er es ein weiteres Mal, im letzten Moment zu fliehen. Den Rest der Besatzungszeit, bis August 1944, verbrachten die Hellers in äußerster Zurückgezogenheit in einem Versteck bei Nîmes.

1946 wanderte die Familie in die Vereinigten Staaten aus. Heller nahm seine Komponistentätigkeit wieder auf und schuf ein pazifistisches Oratorium in englischer Sprache nach alttestamentarischen Texten, Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation für Bariton, gemischten Chor und Orchester, das aber in Amerika ebenso wenig zur Aufführung gelangte wie andere seiner Werke. Da die Hellers ab 1953 die meiste Zeit wieder in Deutschland verbrachten, wurde ihnen die 1952 verliehene US-Staatsbürgerschaft 1959 aberkannt. In Berlin kam es 1955 zur Uraufführung von Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation durch den Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale und das RIAS-Symphonieorchester – die erste und einzige Aufführung eines seiner großen Werke zu Lebzeiten Hans Hellers. Der Komponist starb am 9. Dezember 1969 in Berlin.

Das entdeckte Requiem

Die Vorgeschichte der nächsten Aufführung eines chorsymphonischen Werkes begann 2018, als Jascha Nemtsov, Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Weimarer Musikhochschule, gemeinsam mit Hellers Neffen, dem Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede, das Musikarchiv der Berliner Akademie der Künste besuchte, um den Nachlass des Komponisten in Augenschein zu nehmen, welcher auf Vermittlung Eichwedes dem Archiv übergeben worden war. Nachdem sich Nemtsov, mit dem Partiturmanuskript in der Hand, der RIAS-Aufnahme der Oratorienaufführung von 1955 gewidmet hatte, war er nach eigenen Worten davon überzeugt, „soeben große Musik gehört und gelesen“ zu haben. Eine weitere Komposition Hellers zog gleichfalls seine Aufmerksamkeit auf sich: das Requiem für den unbekannten Verfolgten. Nemtsov nennt das für gemischten Chor und großes Orchester geschriebene Werk das „musikalische Vermächtnis“ des Komponisten. Rasch stand für ihn fest, das niemals gespielte Stück den ACHAVA Festspielen zur Uraufführung vorzuschlagen. 2021 konnte das Vorhaben schließlich umgesetzt werden.

Hellers Requiem entstand im Wesentlichen 1964/65, doch überarbeitete der Komponist die Partitur bis in seine letzte Lebenszeit hinein. Nach Auskunft Werner Grünzweigs, Leiter des Musikarchivs der Akademie der Künste, wirkt die Handschrift sehr benutzt und erweckt optisch keineswegs den Eindruck eines Manuskripts, das jahrzehntelang von keinem Dirigenten in die Hand genommen worden war. Das Werk hat Heller buchstäblich nicht losgelassen. Es ist keine unvollendete Komposition in dem Sinne, das etwas an ihr fehle oder nicht fertig ausgearbeitet sei – einen Schlussstrich konnte der Komponist aber letztlich nicht unter seine Arbeit ziehen. „Der Holocaust wurde für ihn zu einer Obsession“, hatte Hellers 2002 gestorbener Sohn Peter über seinen Vater geschrieben – eine Obsession, die sich offensichtlich im unablässigen Feilen an der Requiem-Partitur niedergeschlagen hat.

Der Komposition liegt ein lateinischer Text zugrunde, der jedoch nur zum Teil der traditionellen katholischen Totenmesse folgt. Es fehlen das Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Anstelle des Dies irae findet sich ein „In die illa“ überschriebener Satz, dem eine Zusammenstellung apokalyptischer Passagen aus Altem und Neuem Testament zugrunde liegt. Vom Hergebrachten weicht Heller auch dadurch ab, dass er das Kyrie an vorletzter Stelle einordnet. Rein textlich betrachtet gehört das Stück damit in die Nähe von Werken wie dem Deutschen Requiem von Brahms oder dem War Requiem Benjamin Brittens.

In wie fern kann es als religiöses Werk gelten? Bereits die im Titel inbegriffene Widmung an den „unbekannten Verfolgten“ zeigt, dass Heller die liturgischen und biblischen Texte benutzt, um zu einer Aussage zu gelangen, die weder im Rahmen christlicher Liturgie, noch überhaupt im Rahmen des Christentums zu verbleiben gedenkt. Die jüdischen Wurzeln des Christentums werden durch die Verwendung alttestamentarischer Texte angedeutet, ohne dass sich deswegen von einem spezifisch jüdischen Requiem sprechen ließe. Definitiv ist es kein Werk, das aus dem Zustand eines Ruhens in einer Religion heraus geschrieben ist. Wolfgang Eichwede, der längere Zeit mit Hans und Ingrid Heller im selben Haus gewohnt hat, erinnert sich seines Onkels als eines ernsten, intellektuellen Mannes, der sich mit der Geschichte der Religionen beschäftigte, sich namentlich für die Jesusforschung interessierte und sich intensiv mit Jesaja auseinandersetzte. Zu seinem Judentum sei Heller allerdings, nach eigener Aussage, „durch den Holocaust gekommen“, so Eichwede. Vielleicht ist das der Schlüssel zum religiösen Gehalt des Werkes. Wir haben die Komposition eines Menschen vor uns, den ein furchtbares Schicksal zur Beschäftigung mit religiösen Fragen bringt.

Das Konzert

Das Konzert, in welchem Hans Hellers Requiem zum ersten Male der Öffentlichkeit präsentiert wurde, war ganz auf das Stück als dem Hauptwerk des Abends ausgerichtet. Zu Beginn erklang eine eigens zu diesem Anlass komponierte Heller-Suite für Orgel des Erfurter Domorganisten Silvius von Kessel, die der Komponist selbst vortrug. Das Stück besteht aus fünf kurzen Sätzen, die auf die Lebensstationen Hellers Bezug nehmen. Das thematische Material entnahm Kessel zwei Klavierwerken Hellers: dem Divertimento und der Little Suite. Beide Themen enthalten alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter. Kessel verarbeitet sie teils in Originalgestalt, teils sehr frei. Es begegnet eine Vielzahl musikalischer Idiome, besonders fällt eine Anlehnung an französische Orgelmusik – teils mehr zu Vierne, teils mehr zu Messiaen tendierend – auf.

Danach ergriff das MDR-Sinfonieorchester das Wort, um unter der Leitung Dennis Russell Davies‘ die Erste Symphonie von Leonard Bernstein Jeremiah zu spielen (im letzten Satz kam die kräftige Mezzosopranstimme Solenn‘ Lavanant-Linkes dazu). Hierbei zeigte sich, dass sich der Erfurter Dom – ungeachtet seiner Symbolwirkung, gerade im Falle eines Konzerts wie diesem – zu Orchesterkonzerten wegen seines sehr langen Nachhalls nicht sonderlich eignet. Bernsteins Symphonie, 1942 mitten im Zweiten Weltkrieg entstanden, thematisiert in ihren drei Sätzen die Verwüstung des jüdischen Tempels in Jerusalem und mündet in einen Klagegesang Jeremiae. Dennoch strahlt sie mit ihren milden Dissonanzen und der lichten Instrumentierung über weite Strecken eine geradezu mediterran anmutende Ausgewogenheit aus – ein Eindruck, der sich rückwirkend angesichts der Klänge des Hellerschen Requiems noch verstärkte.

Das Requiem für den unbekannten Verfolgten machte den Verfasser vorliegenden Artikels zum ersten Mal mit Hans Heller als Orchester- und Chorkomponisten bekannt. Stilistisch begegnen Merkmale wieder, die man anhand seiner Lieder und Klavierwerke kennen lernen konnte: Melodisch dominiert die Chromatik bis hin zu Themen, die alle zwölf Töne umfassen (ein Zwölftonkomponist im Sinne Schönbergs war Heller nicht!), die Harmonik weicht konventionellen Akkordbildungen und dem Funktionsdenken des 19. Jahrhunderts zugunsten einer freien, dissonanten Tonalität aus. Hellers Instrumentation hat nichts Glänzendes an sich. Die Herbheit der Harmonik wird durch kein instrumentales Kolorit gemildert, eher noch verschärft. Besonders fällt die wichtige Rolle auf, die der Komponist dem groß besetzten Schlagzeug zumisst. Es bildet hier eine vom restlichen Orchester beinahe unabhängig agierende zweite Ebene, aus welcher regelmäßig militärisch anmutende Rhythmen auftauchen. Schon allein deshalb bleibt die Bitte „Requiem aeternam dona eis domine“, mit welcher der Chor nach einer längeren Instrumental-Einleitung einsetzt, ein frommer Wunsch: Das Werk findet nicht zur Ruhe, auch wenn die Sehnsucht danach beständig durch die chromatischen Melodien und dissonanten Akkordtürme hindurch spürbar ist. Dass Heller an den Chor höchste Ansprüche stellt, braucht angesichts des Kontextes wohl kaum gesondert erwähnt zu werden. Die akustischen Probleme der Spielstätte, die bereits in der Bernstein-Symphonie spürbar waren, wurden bei der Aufführung des Requiems noch stärker deutlich, was zumindest im Verfasser dieser Zeilen den Wunsch nährte, dieser kompromisslosen, düsteren Ausdrucks- und Bekenntnismusik unter besseren äußeren Bedingungen wieder zu begegnen.

Dass Hans Heller nach seiner Entdeckung nicht wieder in Vergessenheit gerät, sollen eine erste Buch- und CD-Veröffentlichung im kommenden Jahr sicherstellen. Man kann nur wünschen, dass dadurch das Interesse an diesem Komponisten wachgehalten wird. Angesichts seines Requiems darf davon ausgegangen werden, dass weitere beeindruckende Stücke von ausgeprägter Eigenart im Archiv der Akademie der Künste Berlin darauf warten, zum ersten Mal vor einem Publikum zum Klingen gebracht zu werden.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2021]

Neu- und wiederentdeckte Musik verfolgter Komponisten in Weimar

Weimar, Festsaal Fürstenhaus, 10. September 2021, 20 Uhr: Mit Liedern und Klavierwerken von Günter Raphael (1903–1960), Hans Heller (1898–1969) und Bernhard Sekles (1872–1934) eröffneten Jascha Nemtsov, Klavier, und Tehila Nini Goldstein, Sopran, die Ausstellung „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II“.

Die 2019 in Weimar durchgeführte Ausstellung Verfolgte Musiker im Nationalsozialistischen Thüringen, der sich eine von den Projektleiterinnen Helen Geyer und Maria Stolarzewicz herausgegebene Buchveröffentlichung anschloss (Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, Köln: Böhlau-Verlag 2020), war damals auf großes Interesse gestoßen. Die im Rahmen der Vorbereitungen zu Tage geförderten Dokumente regten zu weiteren Nachforschungen über die Schicksale zahlreicher von den Nationalsozialisten entrechteter Musikerpersönlichkeiten an, sodass bald eine Fortsetzung der Ausstellung ebenso erwünscht wie nötig erschien. Am 10. September 2021 wurde das Ergebnis dieses zweiten Teils der Spurensuche, das bis zum 31. Oktober im Stadtmuseum Weimar zu sehen sein wird, im Festsaal der Hochschule für Musik Franz Liszt feierlich eröffnet. Nach Grußworten von Vertretern der Hochschule, der lokalen Politik, unterstützender Stiftungen, sowie der die Ausstellung betreuenden Kuratorin Maria Stolarzewicz, hielt Peter Gülke (geboren 1934 in Weimar) einen Vortrag über Nicht kündbares Gedenken – Buchenwald, aus welchem vor allem die Schilderungen seiner persönlichen Erlebnisse als Kind während des Krieges einen Einblick in die Schrecken der damaligen Zeit boten.

Den Hauptpunkt des Programms bildete ein Konzert mit Liedern und Klavierwerken von Komponisten, die während der NS-Zeit wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden. Der Pianist Jascha Nemtsov und die Sopranistin Tehila Nini Goldstein knüpften damit an ein Konzert an, das sie im November 2020 am gleichen Ort gegeben hatten (siehe Besprechung). Erneut wurden Werke dreier deutscher Komponisten jüdischer Abstammung vorgestellt, die nach dem Willen rassistischer Ideologen für immer hätten verstummen sollen: Günter Raphael, Bernhard Sekles und Hans Heller, der bereits im Konzert von 2020 vertreten war. Jascha Nemtsov, der an der Weimarer Musikhochschule eine Professur für die Geschichte der jüdischen Musik inne hat, muss einmal mehr für seinen Entdeckerspürsinn und seinen unermüdlichen Einsatz für in die Vergessenheit abgedrängte Musik gelobt werden. Wie zahlreiche seiner früheren Konzerte bot auch dieses Ur- und Erstaufführungen. Mit kurzen, auf den Punkt gebrachten Einführungen zwischen den Programmnummern umriss der Pianist zudem den Lebenslauf eines jeden der Komponisten.

Günter Raphael hat als einziger der im Konzert zu Gehör gebrachten Komponisten bislang eine ausgiebige diskographische Würdigung erfahren. Mittlerweile liegt ein großer Teil seiner Orchester- und Kammermusikwerke auf CD vor – verwiesen sei hier namentlich auf die mittlerweile auf sieben CDs angewachsene Günter-Raphael-Edition von Querstand und die beiden Boxen mit Symphonien und Violinmusik von cpo –, doch kann man keineswegs behaupten, alle Schätze aus seinem umfangreichen Schaffen seien gehoben (so fehlt nach wie vor eine Einspielung der Ersten Symphonie). Der 1903 geborene Raphael, in den 1920er Jahren einer der erfolgreichsten jüngeren Tonsetzer Deutschlands, war nie jüdischen Glaubens gewesen, galt aber als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kirchenmusikers der NS-Rassenlehre zufolge als „Halbjude“ und wurde 1934 aus seinem Lehramt am Leipziger Konservatorium entlassen. Ab 1939 war ihm jede musikalische Betätigung untersagt, sodass er nur durch die Hilfe von Freunden überleben konnte. Den Großteil der NS-Zeit verbrachte er in Meiningen. Die Drei geistlichen Lieder op. 3, ein beeindruckend souveränes Frühwerk, zeigen Raphaels künstlerischen Ursprung in der protestantischen Kirchenmusik. Mit ihren choralartigen Harmonien, dem durchweg kontrapunktischen, ostinate Satztechniken bevorzugenden Klaviersatz und einer rhythmisch einfachen, in gleichmäßigen Notenwerten ruhig dahinströmenden Melodik wirken sie betont altmeisterlich, wie ein Bekenntnis zu Bachschem Geist.

Im Gegensatz zu Raphael, der sich immerhin in der Nachkriegszeit als Komponist und Lehrer wieder etablieren konnte, gelang es dem 1898 in Greiz geborenen Hans Heller weder in Amerika, noch in Deutschland nach 1945 erneut Fuß zu fassen. Heller gehörte zum Berliner Schülerkreis Franz Schrekers und floh nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht verhaftet wurde. Aus einem Arbeitslager geflohen, hielt er sich mit Hilfe französischer Widerstandskämpfer bis zum Kriegsende versteckt. Er starb 1969. Wie die Klaviersonate, die Jascha Nemtsov 2020 in Weimar spielte, zeigen auch die diesmal vorgestellten Werke, dass Heller ein unbedingt beachtenswerter Komponist ist, dessen Schaffen verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. In seiner Musik verbinden sich „neusachliche“ Kontrapunktik und expressive Harmonien zu eindringlichen Äußerungen einer starken Persönlichkeit. Ein Lied in deutscher und eines in französischer Sprache, die beide durch Goldstein und Nemtsov zum ersten Mal überhaupt vorgetragen wurden, boten Bilder von ausgesprochener Düsternis. Sehr spannungsvoll wirkten auch die sechs kurzen Sätze einer Little Suite für Klavier.

Bernhard Sekles fällt insofern etwas aus dem Rahmen der Veranstaltung, als dass er weder aus Thüringen stammte, wie Heller, noch dort zeitweilig lebte, wie Raphael. Seinen Lebensmittelpunkt bildete Frankfurt am Main, wo er 1872 geboren wurde und 1934 starb. Nichsdestoweniger kann man die Aufnahme seiner Werke in das Konzert nur begrüßen. Sekles ist kein unbekannter Name. Man weiß, dass er viele Jahre das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt leitete und kennt ihn als Lehrer hervorragender Musiker wie Rudi Stephan, Hans Rosbaud und Paul Hindemith. Jazzfreunde werden ihm stets dafür danken, dass er 1925 Mátyas Seiber mit der Einrichtung der ersten Jazzklasse an einem deutschen Konservatorium betraute und damit der akademischen Würdigung des Jazz den Weg wies. Wer Sekles dagegen als Komponisten kennen lernen möchte, dem steht derzeit nur eine einzige CD mit Klavierkammermusik zur Verfügung, die bei Toccata Classics herausgekommen ist. Seine Orchesterwerke, Streichquartette, Opern, Lieder und Klavierstücke warten dagegen noch auf ihre Ersteinspielungen. Womöglich gibt es auch noch Stücke, die bislang gar nicht gespielt worden sind. Einen solchen Fall stellten bis vor kurzem jedenfalls die Fantasietten für Klavier dar, deren Manuskript Jascha Nemtsov im Archiv des Frankfurter Konservatoriums fand. Er stellte sie als erster Pianist der Öffentlichkeit vor, die Weimarer Aufführung war die zweite überhaupt. Es handelt sich um eines der letzten Werke des Komponisten und konnte aufgrund widriger Umstände nicht mehr zeitnah zu seiner Entstehung veröffentlicht werden: 1933 wurde Sekles von der neuen Machthabern aus seinen Lehr- und Verwaltungsämtern gedrängt. Er erkrankte an Tuberkulose und starb eineinhalb Jahre später. Die insgesamt 24 Fantasietten zeigen den Komponisten als einen Meister musikalischer Miniaturkunst. Viele der Stücke dauern keine Minute, doch wirken sie durchweg in sich geschlossen: aphoristisch, nicht fragmentarisch. Innerhalb weniger Takte entfaltet Sekles erlesene harmonische und kontrapunktische Kunst. Vom Abwechslungsreichtum des Zyklus mögen die Titel einiger Stücke einen Eindruck geben: Für die rechte Hand, Für die linke Hand, Rhapsodie, Thema und Variationen, Slawischer Tanz, Triumphmarsch, Trauermarsch, Ländler, Polonaise (im geraden Takt!), Menuetto, Duo. Das Finale bildet eine Fuge über den Ton C, deren Thema tatsächlich nur aus vier gleich langen Cs besteht. Minimalistischer geht es wahrlich nicht! Wie Sekles es schafft, diesem Thema eine interessante kontrapunktische Bearbeitung angedeihen zu lassen und daraus einen bei aller Kürze reichhaltigen musikalischen Verlauf zu entwickeln, verdient Bewunderung. Hoffen wir, dass eine Veröffentlichung dieses hochinteressanten Zyklus bald erfolgen wird! Auch vom Liederkomponisten Sekles gaben Goldstein und Nemtsov einen sehr vorteilhaften Eindruck. Die exotisch angehauchten Lieder aus dem Zyklus Aus dem Schi-King boten zarte, feinsinnige Impressionen der Asien-Sehnsucht des Fin de Siècle.

[Norbert Florian Schuck, September 2021]

NB: Am 23. September 2021 wird im Erfurter Dom Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten seine Uraufführung erleben.