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Neue Orchesterkunst vom Feinsten

Das Orchesterkonzert am 7. Juli 2017 im Rahmen des „musica viva“ Wochenendes überzeugte diesmal nicht nur durch eine Zusammenhang stiftende Programmkonzeption mit vier bereits in sich völlig schlüssigen Werken, sondern darüber hinaus mit einer in der Tat preiswürdigen Uraufführung. Der Abend wurde einmal mehr zum Triumph für den Dirigenten (und Komponisten) Matthias Pintscher und einem grandios aufgelegten BR-Symphonieorchester.

(c)Astrid Ackermann© Astrid Ackermann

Der ja ursprünglich zunächst vor allem als äußerst vielversprechender, junger Komponist, der ab und zu auch eigene Werke dirigiert, in den Fokus der Öffentlichkeit getretene Matthias Pintscher entwickelt sich immer mehr zu einem ganz großen Dirigenten der Neuen Musik, wie zahlreiche maßstabsetzende Aufführungen von ‚Klassikern‘ (Boulez, Varèse, Stockhausen…) mit dem Ensemble intercontemporain, aber auch beim Lucerne Festival, belegen. Und bei den Orchesterkonzerten der Münchner musica viva konnte er ebenfalls bereits überzeugen. Dieser Abend wurde jedoch zu einem wahren Triumph des Dirigenten und einem geradezu unglaublich motivierten BR-Symphonieorchester, das von Pintscher mit traumwandlerischer Sicherheit und sichtbarer Empathie für die dargebotene Musik durch vier wirklich herausfordernde Werke mit ganz unterschiedlicher Klangästhetik geführt wurde – nur zwei Wochen nach einem großartigen Messiaen unter Kent Nagano im Gasteig.

Pintscher eröffnete den Abend mit einer eigenen Komposition: with lilies white von 2001/02 – dem ältesten Werk dieses Konzerts. Die Orchesterfantasie mit Stimmen (3 Soprane und Knabensopran) verbindet Texte aus dem „Sterbeprotokoll“ des britischen Künstlers Derek Jarman mit einem Lamento William Byrds, welches deutlich, aber in geschickter Verfremdung zitiert wird. Tod und das Jenseitige bilden dann auch die verbindende Klammer für alle vier Werke des Abends, sozusagen den gemeinsamen transzendentalen Hintergrund bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Werkkonzeptionen. Das Riesenorchester (inkl. im Raum verteilter Schlagzeuger) ist ein Beispiel für Pintschers klangliche Opulenz gerade um die Jahrtausendwende, die aber nie nur zum äußeren Zweck, sondern für eine hochdifferenzierte Dynamik und Farbigkeit zum Einsatz kommt. Damit steht der Komponist in einer Tradition überzeugender Orchestrierungskunst, wie sie etwa durch Hans Werner Henze repräsentiert wurde. Mit präziser Zeichengebung und immer sichtbarer Emotionalität brachte Pintscher sein Stück in jedem Detail zur Geltung. Der erst 13-jährige Augsburger Domsingknabe Vinzenz Löffel beherrschte seine Gesangs- und Sprechpartie bombensicher und stahl damit den drei mehr als Ensemble formierten, aber qualitativ natürlich ebenbürtigen Sopranistinnen Sarah Aristidou, Anna-Maria Palii und Sheva Tehoval etwas die Schau, durchaus zur Freude des Saals.

Ich stand bisher den meisten Kompositionen Mark Andres einigermaßen skeptisch gegenüber. Auch die bereits bei der musica viva zu Gehör gebrachten Werke „auf I“ und „…hij 1…“ ließen mich ziemlich kalt und ich fragte mich lange, inwieweit in Andres Schaffen eine eigene Stimme zu finden sei, die über bloßes Epigonentum – bezogen auf die Verweigerungsästhetik seines Lehrers Helmut Lachenmann – hinausginge. Doch mit seiner Uraufführungskomposition „woher…wohin“ konnte mich der frischgebackene, diesjährige Happy New Ears Preisträger diesmal wirklich überzeugen. Dem eigentlich aus sieben Miniaturen bestehenden Werk ist quasi als Motto Vers 3,8 aus dem Johannes-Evangelium vorangestellt: „Der Wind bläst, wo er will…“. Tatsächlich gelingt es Mark Andre verblüffend realistisch, mit einer höchst ausgeklügelten Instrumentation verschiedenste Windgeräusche umzusetzen; eine kleine Gehörbildung basierend auf Hörerfahrungen während eines Istanbul-Aufenthalts, wie er in der Konzerteinführung verriet. Das ist jedoch nur eine äußere Schicht der Komposition. Klar wird bereits beim ersten Hören, dass in den sieben Stücken, oder auch nur längeren Passagen daraus, der Klang jeweils aus einheitlichen Materialitäten gewonnen wird (etwa ‚mit Bögen gestrichen‘), hiermit an Werke wie Xenakis‘ Pléïades anknüpfend. Dabei gibt es Momente von äußerster Intensität, die schon körperlich unmittelbar berühren (krachende, kollektive Bartók-Pizzicati mit entsprechender Unterstützung von Blech und Schlagwerk), aber letztlich wie durch ein astronomisches Wurmloch immer metaphysisch auf das Entschwinden (gemeint ist hier das des auferstandenen Jesus in der Emmaus-Episode) hinweisen. Ob im dritten Abschnitt absichtsvoll eine Allusion zum vierten der 6 Orchesterstücke op. 6 (Marcia funebre) Anton Weberns hergestellt wird, sei dahingestellt. Die sieben Abschnitte folgen zudem einer nachvollziehbaren Dramaturgie mit einer gewaltigen Steigerung des siebten Abschnitts vor dem letzten Aushauchen. Das ist alles wohldosiert und gekonnt, zeugt von einer echten Reife des Komponisten und wurde sogleich mit entsprechendem Beifall gewürdigt.

György Kurtàgs „Geburtstagsständchen“ zu Pierre Boulez‘ Neunzigstem gehört mit knapp sieben Minuten eigentlich bereits zu den längeren Werken des Miniaturisten. Mit erheblich kleinerer Besetzung, durchaus klangsinnlich und persönlich (Cimbalom!), gelang hier dennoch eine ergreifende Hommage an den fast gleichaltrigen Kollegen, wobei naturgemäß der Tod irgendwo nicht mehr wegzudiskutieren ist, was durch verschiedene musikhistorische Anspielungen allzu deutlich wird. Leider wurde dieses wertvolle und sensibel gespielte Werk hier durch die umgebenden Stücke fast etwas erdrückt.

Am Schluss im Verhältnis geradezu ätherische Klänge: „…towards a pure Land“ des in Deutschland immer noch viel zu wenig beachteten, großartigen britischen Komponisten Jonathan Harvey (1939-2012). Ein Blick auf eine utopische, eigentlich bereits jenseitige, nach buddhistischer Prägung idealisierte Lebensvision von klanglich üppiger Schönheit, die aber nie überbordet, geschweige denn in Kitsch umschlägt. Auch hier agierte das Orchester unter dem inspirierenden Matthias Pintscher (jetzt mit Taktstock) mitreißend und setzte diese phantastische Klangwelt kongenial um. Das Stück ist ein wirklich großer Wurf, das Publikum war aber dann nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit dabei. Auf Harvey auch in den musica viva Orchesterkonzerten nochmals zurückzukommen, fände ich sehr lohnenswert. Insgesamt war dieses Konzert auf jeden Fall der absolute Höhepunkt der diesjährigen Saison. Die Mitglieder des BR-Symphonieorchesters mögen ähnlich empfunden haben und dankten dies dem Dirigenten mit großer Geste.

[Martin Blaumeiser, Juli 2017]

Wenn ein Riese seinen Schatten wirft

Beim Orchesterkonzert der musica viva am 2. Juni 2017 im Münchner Herkulessaal stellte ein spätes Hauptwerk des französischen Spektralisten Gérard Grisey (1946-1998) zwei neue Auftragskompositionen von Oscar Bianchi bzw. Hans Thomalla derart in den Schatten, dass diese fast nur wie ein „Vorprogramm“ wirken konnten. Sämtlichen beteiligten Musikern auf dem Podium durfte man nichtsdestotrotz allerhöchstes Lob zollen.

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Winrich Hopp hat eigentlich als künstlerischer Leiter der Münchner musica viva bisher bei der Vergabe von Auftragskompositionen ein erstaunlich „gutes Händchen“. Diese haben – schon rein spieldauermäßig – einen so bedeutenden Anteil an den Konzerten, wie dies zuvor längst nicht immer der Fall war. Und auch qualitativ gab und gibt es viel Hochwertiges, das nicht nur aktuelle Tendenzen aufzeigt, sondern meist auch wirklich den hohen Ansprüchen des Publikums wie des Orchesters gerecht wird. Da ist es nur verzeihlich (und wohl auch unvermeidlich), dass hin und wieder mal schwächere Stücke dabei sind. Dennoch, so viel sei hier bereits vorweggenommen: Allein schon der grandiose Grisey nach der Pause machte den Besuch dieses Konzertes zu einem Ereignis.

Das Programm wird mit Inventio von Oscar Bianchi (Jahrgang 1975) eröffnet. Von „gewohnter“ Spielweise bis zur systematischen Erschließung des Geräuschhaften beim traditionellen Instrumentarium (unter Verwendung diverser Hilfsmittel) einerseits bis hin zu einer fast grotesk erweiterten und äußerst differenziert zu handhabenden Schlagwerkbesetzung konfrontiert der Komponist den Hörer mit einer kaum fassbaren Klangvielfalt. Anders als bei Lachenmann wird damit aber gerade nicht eine Ästhetik der Verweigerung demonstriert, sondern Bianchi will weg von vorgefasster Konnotation bestimmter Klänge hin zum unmittelbaren Klangereignis selbst als Träger des Affekts. Ein vielleicht zu hoch gestecktes Ziel, wie man sich anhand eines exotischen Instruments klarmachen kann: dem Waldteufel. Die über dem Kopf zu schwenkende Reibetrommel, der kleine, aggressivere Bruder des „Löwengebrülls“ (etwa in Varèses „Amériques“) verwendet Hans Werner Henze vor der Katharsis der beiden Aktschlüsse des „Verratenen Meers“ jeweils als klanglichen Höhepunkt, dem unmittelbar die sichtbare Tötung einer Katze bzw. später die Ermordung des Hauptprotagonisten folgt. Diese wird jedoch nicht mehr gezeigt, sondern die Oper endet im Blackout. Der Hörer „weiß“ durch den Waldteufel, was geschehen wird. Bei Bianchi würde dieses Instrument ohne dessen visuelle Präsenz in seiner großen Klangorgie fast untergehen, erhält aber so eher humoristische Züge. Wieviel mehr mögen deutlich vertrautere Klänge beim Publikum fest assoziiert sein und welcher Mittel bedürfe es dann, um dem entgegenzuwirken? Für mich schüttet Bianchi hier das Kind mit dem Bade aus und überfordert mit einem Übermaß an Klängen, das jeden musikalischen Aufbau – einmal unterstellt, es gäbe einen solchen – völlig übertüncht und fast wie eine beliebig austauschbare, kaleidoskopartige Abfolge von, freilich streng kontrollierter, musique concrète wirkt. Too much wird so leider ganz schnell schlicht langweilig.

Viel fasslicher kommt danach Hans Thomallas Ballade für Klavier & Orchester daher. Von ihm äußerst zutreffend als Übermalung des drei Jahre alten Klavierstücks „Ballade. Rauschen“ charakterisiert, dient das Orchester hier fast ausschließlich als Erweiterung des Klangraums, indem etwa Einzeltöne des Klaviers von Orchesterinstrumenten (gegebenenfalls oktavversetzt) verdoppelt und so gewissermaßen in es hinausgetragen werden. Umgekehrt saugt der Steinway den Orchesterklang geradezu auf, wenn der clusterreiche Klaviersatz ungedämpft den ganzen Flügel zum Resonanzkörper des ihn umgebenden Orchesters werden lässt. Ein Dialog findet allerdings zu keinem Zeitpunkt statt, so dass dieses Stück eher wie ein Kammermusikwerk (etwa eines für Klavier & Live-Elektronik) wirken muss und daher dem Rahmen des großen Sinfoniekonzertes nicht gerecht werden kann. Wie immer in den letzten Jahren bewundernswert, wie sich Nicolas Hodges mit größter Sorgfalt und echter Hingabe der nicht immer dankbaren Aufgabe als Solist annimmt; neben dem später am Abend mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrten Pierre-Laurent Aimard längst einer der ganz Großen für die zeitgenössische Klaviermusik. Die beiden Veranstaltungen unmittelbar hintereinander zu legen ist dennoch nicht wirklich ein Akt großer Weisheit…

Nach der Pause dann endlich Griseys Spätwerk L’Icône paradoxale. Zum Zeitpunkt der Entstehung (1994) kaum älter als die beiden UA-Komponisten, verfügt Grisey hier schon über die Summe seiner Erfahrungen in Akustik und dem Umgang mit der von ihm mitentwickelten spektralen Kompositionsweise. Hier spürt man nichts mehr vom Zwang, sich konzeptionell ständig neu erfinden zu müssen. Als Hommage an Piero della Francescas Madonna del Parto gedacht, überträgt der Komponist Symmetrien des Freskos auf zeitliche Dimensionen. Ein zweigeteiltes Orchester und zwei Gesangssolistinnen lassen den Herkulessaal in teilweise fast nostalgisch wirkende, aber tiefempfundene Schönheit eintauchen. Großartig, wie perfekt sich an diesem Abend Donatienne Michel-Dansac und eine Anja Petersen in absoluter Höchstform (als sei das Werk ihr auf den Leib geschrieben!) klanglich mischen und ergänzen. Und wer so etwas wie diesen langsam verebbenden Schluss schreiben kann, den das BR-Symphonieorchester unter einem höchst aufmerksam und sensibel agierendem Johannes Kalitzke kongenial umsetzt, dem darf zu Recht solch hohes Maß an Verehrung wie derzeit entgegengebracht werden. Ein Abend mit qualitativem Ungleichgewicht, der aber am Schluss mehrheitlich zufriedene Gesichter hinterlässt. Das Publikum dankt den Interpreten in seltenem Einklang mit langanhaltendem Applaus, obwohl viele Besucher danach gleich ins Prinzregententheater weiterziehen müssen.

[Martin Blaumeiser, Juni 2017]

Zwischen Magie der Stimmen und Videospiel

Der diesjährige Ernst von Siemens Musikpreis wurde an den französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard verliehen, die Komponisten-Förderpreise gingen an Lisa Streich, Michael Pelzel und Simon Steen-Andersen.

Am 2. Juni lud die Ernst von Siemens Musikstiftung zur alljährlichen Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises im Münchner Prinzregententheater. Es handelt sich hierbei um die wohl gewichtigste europäische Auszeichnung für einen Komponisten oder einen Musiker mit zentraler Bedeutung im Feld der zeitgenössischen Musik. Das Lebenswerk solch einer Schlüsselfigur wird mit dem Hauptpreis in Höhe von 250.000 Euro prämiert. Zudem wird drei aufstrebenden Komponisten der Komponisten-Förderpreis verliehen, der sie mit jeweils 35.000 Euro unterstützt, um sich für eine gewisse Zeit ohne monetäre Sorgen dem Komponieren widmen zu können. Die Verleihung jedoch ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, den die Ernst von Siemens Musikstiftung an Fördergeldern ausschüttet: circa 130 Projekte zeitgenössischer Musik werden auf internationaler Ebene alleine 2017 von der Stiftung unterstützt, wofür insgesamt 3,5 Millionen Euro investiert werden.

Neben den exzellenten Portraitfilmen von Johannes List, einer Begrüßungsrede von Michael Krüger, der Vergabe der Förderpreise durch Thomas von Angyan und des Hauptpreises durch Michael Krüger sowie der Laudatio von George Benjamin für Aimard ist es üblich, dass auch Musik von und/oder durch die ausgezeichneten Persönlichkeiten erklingt. Das Münchener Kammerorchester spielt unter Leitung von Jonathan Stockhammer.

Das erste Werk ist ein Auszug aus Augenlider (2015) von Lisa Streich für präparierte Gitarre und Orchester, Solistin ist Laura Snowden. Der zu hörende Auszug ist im Grunde eine ausschweifende Paraphrase über Paganinis La Campanella, die auf statische Weise quasi „lontano“ dargestellt wird. Ausgebreitete Flächen aus unverändertem Klang dominieren das Bild, die Gitarre spielt teils beinahe im Untergrund. Die klirrende Statik wird jedoch zu sehr ausgereizt, es fehlt an nötigem Antrieb, um ein flüssiges Fortschreiten des musikalischen Geschehens zu ermöglichen.

Auszüge aus Gravity’s Rainbow (2016) von Michael Pelzel für CLEX (elektronische Kontrabassklarinette) – gespielt von Ernesto Molinari – und Orchester schließen sich an. Nicht nur das Instrument fasziniert, sondern auch die ausgefeilte Harmonik, die dem Werk zugrunde liegt. Verstärkt wird der unnatürliche Effekt der CLEX durch gestimmte Gläser und zwei Verrophone, was der atemberaubenden Tiefe des Soloinstruments einen gespenstischen Gegenpol verleiht. Die Virtuosität von Molinari, im Übrigen auch Erfinder der CLEX, ist phänomenal und stimmt sich gut mit dem Münchener Kammerorchester ein, welches unter Stockhammer mit technischer wie musikalischer Höchstleistung agiert.

Simon Steen-Andersen stellte die Musik an diesem Abend auf den Kopf: Mit Run Time Error @ Opel feat. Ensemble Modern (2015) schuf er nie Dagewesenes. Auf zwei Bildschirmen läuft zeitgleich ein Video ab, in welchem die Aufnahme einer mit allerlei Geräuschen gespickten Kettenreaktion zu sehen ist, von instrumentalen Lauten bis zu einem Stimmgerät oder umfallenden Gegenständen. Durch zwei Joysticks kontrolliert Steen-Andersen das Geschehen, spult die Videos unabhängig voneinander vor und zurück oder verändert die Geschwindigkeit. So entsteht ein kanon-ähnliches Klangkonstrukt, das die Aufmerksamkeit der Hörer bannt. Selbst wenn sie nicht das Musikgeschehen der kommenden Zeit dominieren wird, bleibt es eine kurzweilige wie unterhaltsame Idee mit Potential.

In der zweiten Hälfte spielt der Hauptpreisträger Pierre-Laurent Aimard Werke von Vassos Nicolaou, George Benjamin, György Kurtág, György Ligeti, Marco Stroppa und Elliott Carter, ersteres gemeinsam mit Tamara Stefanovich. Hier stellt Aimard nicht nur technische Perfektion unter Beweis, sondern auch einen beinahe übermenschlich nuancierten Anschlag und die Fähigkeit, sowohl mit einer einzigen Stimme eine ganze Welt zu erfüllen – wie in Ligetis Zauberlehrling oder Carters Caténaires – als auch eine Vielzahl an Stimmen zu phrasieren und in der Spannung zu halten, was gerade in Benjamins Shadowlines besticht. Seit Jahrzehnten prägt Aimard wie kaum ein anderer Pianist die zeitgenössische Musik-Szene, zahlreiche Komponisten wie Messiaen, Carter, Benjamin oder Ligeti verdanken ihm die Inspiration zu bedeutsamen Klavierwerken, diesem erstklassigen ausführenden Künstler, der in allen Belangen neue Maßstäbe setzte – und sicher auch weiterhin setzen wird.

[Oliver Fraenzke, Juni 2017]

Himmelfahrts-Konzert „Wilde Gungl“

Himmelfahrts-Konzert der „Wilden Gungl“ – 25. Mai 2017 im Prinzregententheater unter Leitung von Michele Carulli

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Von Johann Sebastian Bach bis Richard Wagner, welch ein Bogen! Und diesen musikalischen Bogen spannte das Orchester ”Wilde Gungl” unter seinem Dirigenten Michele Carulli am Vatertag im Münchner Prinzregenten-Theater in der Matinée um 11 Uhr.

Melodienzauber! hieß das Motto des Konzerts und dem entsprach das Programm, fast alle Melodien waren sogenannte ”Reißer”. Aber diese im Augenblick des Entstehens zu erleben, ist eben doch jedes Mal etwas ganz Anderes als sie zu Hause auf CD, im Radio oder bei einer Übertragung im Fernsehen zu hören. Lebendige Musik, „live“ ist durch nichts zu ersetzen, das wurde mir wieder einmal mit aller Deutlichkeit und Eindringlichkeit vor Augen und Ohren gebracht.

Solch einen Strauß aus vielen verschiedenen Melodien aus mehreren Jahrhunderten zu einem Programm zu verbinden, bedarf nicht zuletzt einer guten und ansprechenden Moderation. Sie ist und war bei Arnim Rosenbach – wie schon öfter – in allerbesten, charmanten Händen, auch dank seiner ebenso ansprechenden Stimme wie Art der Programmführung.

Von Bachs „Air“ aus der Orchestersuite BWV 1038 über Mozarts Klavierkonzert-Thema des zweiten Satzes  KV 467 , das durch den Film „Elvira Madigan“ weltbekannt wurde, über Verdi, Mascagni, Smetana hin zu Puccini, Mahler, Morricone, Böttcher, Tschaikowsky bis hin zu den beiden Zugaben von Nino Rota und der Ouvertüre zu „Rienzi“ von Wagner zog sich der Melodien-Zauber.

Die Konzerte der „Wilden Gungl“ verfolge ich nun schon seit ein paar Jahren, aber auch diesmal fiel mir besonders auf, dass die Gruppe der Streicher durch Michele Carulli noch homogener geworden ist, noch sensibler spielt, was man bei einigen Stücken, in denen die Streicher die Hauptrolle spielen, besonders hören konnte. Bei Mahlers „Adagietto“ aus seiner 5. Symphonie fiel das natürlich speziell auf. Aber auch die „Nichtstreicher“ – von denen mir besonders die Harfenistin und die Holzbläser gefielen – geben dem Orchesterklang die Farbigkeit, die diese Musik überhaupt so zum Klingen und Blühen bringt. Und das Publikum, jung und vor allem natürlich die älteren Semester, die der „Wilden Gungl“ – ihrer „Wilden Gungl“ –  schon seit Jahren die Treue halten,  war begeistert und brachte das entsprechend zum Ausdruck.

Dass Michele Carulli ein Dirigent mit Leib und Seele unter Einsatz voller Energie ist, der das Orchester befeuert und die Musik sich in melodische Höhenflüge aufschwingen lässt, ist bei jedem Konzert begeisternd zu erleben. Auch der Beifall, den er wie selbstverständlich den entsprechenden Solisten-Kollegen weitergibt, gehört dazu. Und nicht zuletzt seine eigene Moderation, mit der er die beiden Zugaben ansagt und das Publikum nach gewaltigem Beifall entlässt.

Ein Stück möchte ich allerdings gesondert erwähnen, nicht nur, weil es mir unbekannt war, sondern weil es als „Jugendstück“ von Giacomo Puccini schon alles erkennen und hören lässt, was uns später in seinen Opern so mitnimmt und beglückt. Das „Preludio sinfonico“ von 1882 – aus seiner Zeit am Mailänder Konservatorium – ist eine wunderbare Überraschung in diesem ambitionierten und doch so unterhaltenden Programm.

Ich freue mich schon auf das Sommerkonzert im Brunnenhof und auf das Wiederhören der „Wilden Gungl“.

Ceterum censeo: Auch wenn es Perlen vor die Säue gleich zu sein scheint, ich werde nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Münchner Zeitungskritik, das sogenannte Feuilleton, gut daran täte, aufzuwachen und dieses Orchester – das schließlich schon seit 150 Jahren existiert – und seine wunderbaren Programme endlich zur Kenntnis zu nehmen. Ganz einfach.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Einer der ganz großen Dirigenten – Jiří Bĕlohlávek und die BR-Symphoniker in tschechischen Gefilden

Warum eigentlich so selten, und warum immer mit tschechischem Programm? Nach sechs Jahren gastierte Jiří Bĕlohlávek, der Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, erstmals wieder am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München. Natürlich gibt es heute keinen, der wie er die Werke von Dvořák, Janáček oder Martinů meisterhaft einzustudieren vermag (nicht einmal sein einstiger Schüler Jakub Hrůsa, der neue Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, ist ihm hier ebenbürtig, aber er hat ja auch noch einige Jahre Zeit…), doch Bĕlohlávek ist heute ein so überragender Musiker, dass es mehr als bedauerlich und de facto ein Fehler ist, ihn international als Spezialisten zu konsultieren, wie dies auch seine Plattenfirma Decca sehr erfolgreich tut. Denn er ist nicht weniger großartig als Dirigent der Klassiker Mozart, Beethoven oder Schubert, und im romantischen Repertoire kennen wir ihn hier bis auf ein bisschen Mendelssohn, Brahms und Tschaikowsky überhaupt nicht. Dort er mutmaßlich ebenso Wesentliches zu sagen. Also gebt ihm doch zumindest nächstes Mal eine Mozart- oder Beethoven-Symphonie, dass er das kein wie kaum ein anderer, hat er vor allem beim Aufbau der Prager Philharmonie schlagend bewiesen.

Der Abend in der Münchner Philharmonie am Gasteig beginnt mit einem chorischen Arrangement der 2. Serenade für 2 Geigen und Bratsche von Bohuslav Martinů, einer für den Komponisten typischen, zwischen geistreichem Klassizismus und innig böhmischem Musikantentum angesiedelten kurzen Dreisätzer der dreißiger Jahre. Nach sieben Minuten ist das grazile Vergnügen vorbei, und da bleibt keine Zeit für ein Warm up der Ohren. Bĕlohlávek hat sich äußerlich verändert, ist von schwerer Krankheit gezeichnet, die zu überleben wir nicht nur ihm, sondern ganz dringend auch der ganzen Musikwelt wünschen müssen! Fein, zart, durchscheinend, mit unbestechlichem Sinn für die kontrastierenden Charaktere, absoluter Liebe und Meisterschaft in den Details, und absolut ohne jede Pose. Dieser Mann dient in seinem ganzen Wirken ausschließlich der Musik und hat in der völligen Hingabe keinen Platz für Selbstdarstellung – um den Preis, nicht zu den modischen Superstars zu gehören, denen er als Musiker ohnehin überlegen ist. Zugleich ist auch eine Veränderung in seinem Musizieren zu spüren – mit zunehmender Reifung ist das nicht zu erfassen, es hat sicher mit dem Leiden und der Krankheit zu tun, dass Bĕlohláveks Musizieren eine Gelöstheit und Luzidität vermittelt, die jenseits des geschäftigen Betriebs steht. Hier steht ein Mann, der niemandem mehr etwas beweisen will und muss, der ganz im kreativen Akt aufgeht, dessen Führung bei aller Sicherheit und Klarheit mit einer heroischen Fragilität und filigranen Natürlichkeit einnimmt, wie sie nur bei den ganz Großen zu finden sind.

Es folgt eine 1999 von Jaroslav Smolka zusammengestellte, sechssätzig umfangreiche Suite aus Leoš Janáčeks skurriler Oper ‚Die Ausflüge des Herrn Brouček’. Ein wirkliches Korrelieren zu geschlossener Ganzheit ist hier nicht möglich, da die ausgewählten Passagen nun doch zu episodisch aufeinanderfolgen. Freilich ist insbesondere der vorletzte Satz, der unter Attacken sich vorwärtsbewegende Hussiten-Choral, von herrlicher Wirkung. Und das Orchester spielt unter Bĕlohlávek großartig, mit höchster Durchsichtigkeit auch in komplexeren Fortissimo-Bereichen und dort, wo die Orchestration nicht optimal angelegt ist, um alles deutlich hervorzubringen, werden immer wieder echte Wunder vollbracht. Auch hier hat jede Einzelheit ein klares Gesicht, der Tonfall ist erstaunlich idiomatisch getroffen. Besser dürfte das unter den gegebenen Umständen nicht zu machen sein!

Nach der Pause singt Magdalena Kožená die Biblischen Lieder von Antonín Dvořák. Leider hat sie für diese zehn herrlich schlichten Lieder eine exklusiv für sie angefertigte Instrumentation mitgebracht, und man frag sich nun wirklich, was das soll. Warum spielen hier Klarinetten statt Geigen, und dort Geigen statt Flöten, und warum werden immer wieder auch konkret Töne geändert? Das alles ist zwar keine Katastrophe, aber auf jeden Fall das Gegenteil einer Verbesserung, und ich verstehe nicht so recht, warum man heute noch so etwas macht. Sicher singt sie wunderbar, sie hat einfach eine hinreißende Stimme. Ich finde aber auch, dass sie die Musik dramatischer auffasst als dem Gehalt angemessen, eher Richtung Wagner’schen Dramas als biblischer Würde. Der Erfolg beim Publikum ist freilich groß, und dass der volkstümlich sakrale Charakter der Lieder sich nicht wirklich einstellen kann, merkt dann doch nur, wer die Musik kennt oder eine klare Vorstellung davon hat. Und das ist fast niemand. Es ist auch nicht ganz einfach, Magdalena Koženás subtilen agogischen Eigenwilligkeiten zu folgen, doch hier beweits Bĕlohlávek eine souverän ruhige und reaktionsschnelle Hand. Und singen kann sie ja nun doch fraglos auf herausragendem Niveau.

Zum Schluss der grandiose Höhepunkt des Konzerts: Leoš Janáčeks dreisätzige tragische symphonische Dichtung ‚Taras Bulba’ nach Gogol. Es ist atemberaubend, wie sich selbst im dichtesten eruptiv aufgipfelnden Geflecht immer die entscheidenden Stimmen durchsetzen können, und ebenso frappierend ist, wie es Bĕlohlávek gelingt, mit klarer Vorstellung die extremen Kontraste zu sinnfällig sich entfaltendem Zusammenhang zu bündeln. Das Orchester beweist wieder einmal seine ganz große Klasse, die Aufführung wird zu einem Triumph der Musik, wie er ganz selten zu erleben ist. Schade nur, dass sich das Publikum in München für tschechische Musik des 20. Jahrhunderts nur bedingt zu interessieren scheint, der Saal also mit vielen Lücken glänzte. Dem Dirigenten lag freilich am Schluss nicht nur das Orchester, sondern auch das Publikum zu Füßen. Seit Václav Talich hat Tschechien keinen solch umfassenden Meisterdirigenten hervorgebracht. Seinen einstigen Lehrmeistern Josef Vlách und Sergiu Celibidache macht Jiří Bĕlohlávek alle Ehre. Und so überwältigend kann Leoš Janáček sein.

[Christoph Schlüren, April 2017]

Ein Flickenteppich sticht hervor

 

Zwei Mal jährlich nimmt das Bruckner Akademie Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Jordi Mora mit einem neuen Programm die Münchner Bühnen im Sturm. Dieses Mal gibt es die d-Moll-Symphonie Bruckners, die „Nullte“, sowie die Sechste Symphonie Dmitri Schostakowitschs. Am 23. April 2017 spielte das Orchester im Kubitz Unterhaching und heute, einen Tag später, im Münchner Herkulessaal der Residenz.

Schon längere Zeit berichtete ich nicht mehr aus den großen Sälen Münchens. Grund war nicht mangelndes Angebot an Konzerten und namhaften Orchestern, sondern dass nichts wirklich bemerkenswert aus der klingenden Masse herausgestochen ist. Technische Perfektion und roboterhafte Makellosigkeit sind an der Tagesordnung, viel zu oft allerdings auf Kosten des tatsächlichen Erspürens der Musik, auf Kosten von Inspiration und Einmaligkeit der Aufführung. Ein ganz anderes Bild erwartet den Hörer am heutigen Abend des 24. April 2017 im Herkulessaal beim Auftritt Jordi Moras mit seinem Bruckner Akademie Orchester. Das Orchester ist ein bunter Flickenteppich bestehend aus professionellen Musikern, ambitionierten Laien und musikalischen Nebenberuflern sowie einigen jungen Talenten. Was sie verbindet, ist ihre Liebe zur Musik sowie der Anspruch, das Maximum aus den Tönen herauszuholen. Auf erstaunlich hohem technischen Niveau findet die Arbeit musikalisch statt, und so sticht dieses Orchester hervor.

Das Programm enthält keinen wirklichen Publikumsmagneten, und Werbung gab es keine bis wenig, also blieb der Herkulessaal kaum halb besetzt. Viele potentiell Interessierte ließen sich diese Gelegenheit entgehen (zumal bei 35 € für die beste Kategorie, einem für diesen Saal minimalen Kostenaufwand), Musik auf außergewöhnlich großartigem Niveau zu hören.

Die „Nullte“ Symphonie Bruckners ist nicht etwa vor der Ersten komponiert, sondern danach und wurde vom Komponisten als ungültig, „annulirt“, abgehakt, erhielt folglich ihren Beinamen. Dabei ist das etwa 40-minütige Werk durch und durch echter, kerniger, feinsinniger Bruckner, enthält herrliche Steigerungen und ist durchgehende stringent aufgebaut, mit einem großen Zug voll magischer Momente. Jordi Mora hält die Form energetisch zusammen und beweist im gemeinschaftlichen Tun durchweg den Überblick über das Gesamte. Jeder Einsatz hat seine unverrückbare, unersetzliche Funktion im orchestralen Geflecht, keine Themenwiederholung wird mechanisch gleichartig aufgefasst, alles erhält kontextbezogen einzigartige Wertigkeit, unwiderstehliche Intensivierung und innerlich nachklingende Wirkung. Der weit ausgreifende Kopfsatz gelingt kristallklar und zutiefst ergreifend, der langsame Satz verzaubert in unerhörter Zartheit, und das mit durchaus dämonischen Zügen durchsetzte Scherzo treibt aus der Tiefe glühend voran. Manche Momente im Finale gemahnen überraschend ein wenig an die Mannheimer Schule, angereichert durch beinahe Mendelssohn’sche Klangwelten, von Mora besonders farbenprächtig hervorgehoben.

Ein formal gewagtes Experiment stellt die Sechste Symphonie Schostakowitschs dar, hauptsächlich aus dem weit ausgedehnten Largo-Hauptsatz bestehend. An diesen schließt ein Allegro an, und die Symphonie endet mit einem übermütig turbulenten Presto, die beiden letzten Sätze sind dabei zusammen kürzer als der erste. Somit ist die gesamte Symphonie ein auskomponiertes Beschleunigen, aus dem inneren Leiden hin zu rasendem Tollen, immer wilder und ungezügelter werdend. Der erste Satz wird unter Mora äußerst getragen und tiefschürfend dargeboten und fließt doch beständig und unaufhaltsam durch all die harmonischen Schrägheiten, die vom Orchester deutlich hervorgeholt und in ihren mannigfachen Bezügen erfühlt werden. Die schnellen Sätze reißen mit Witz und Charme mit, verleugnen auch nicht unterhaltungsmusikalische Elemente, die dennoch den unbedingten Ernst und die irrationale Doppelbödigkeit Schostakowitschs überall durchklingen lassen. Hier können die Musiker auch technisch ihr Können auf die Probe stellen, die Solisten, Stimmführer und besonders der grandiose Konzertmeister leisten Phantastisches. Und die Technik degeneriert nicht für eine Sekunde zum Selbstzweck, alles geschieht immer im Dienst der Musik und der dynamischen Formwerdung.

Jordi Mora ist das absolute Gegenteil eines Selbstdarstellers, er gibt wenig auf äußere Ästhetik seiner Bewegungen oder showbetonte Eleganz. Seine Bewegungen werden vom Körperinneren geführt, wie im Tai Chi sind die Arme lediglich die Vermittler einer mittig fokussierten Kraft, die in ihrer Zentrierung meditative Ruhe und kraftvolle Flexibilität ausströmt, was sich unmittelbar auf die Musiker überträgt. Diese folgen jedem Wink ihres Dirigenten, sind ein brillant eingespieltes Team und haben sichtlich Freude am Musizieren. Freude haben auch die Hörer angesichts solch eines überragenden Konzerts, das mit geradezu frenetischem Applaus endet. In einem Jahr, also wieder in der Woche nach Ostern, werden wir wohl die Neunte Symphonie Gustav Mahlers von diesen Musikern hören dürfen, und vielleicht versteht man es ja dann auch, vorher ein bisschen effizienter dafür zu werben.

[Oliver Fraenzke, April 2017]

Maximum an Verfeinerung, Intensität und Reichtum des Ausdrucks

Das Münchener Kammerorchester im Höhenflug – Prinzregentheater, München, 6. April 2017

Mit dem neuen ständigen Gastdirigenten John Storgårds steht ein Mann am Pult des Münchener Kammerorchesters, der das Niveau des exzellenten Klangkörpers zu Höhen zu beflügeln vermag, die man in solcher Konstanz bislang allenfalls erahnen mochte – auch wenn, wie im hier zu besprechenden Konzert, die Probenzeit angesichts des sehr schweren Programms äußerst knapp bemessen war und zwischen Generalprobe und Aufführung weniger als eine Stunde verstrich.

John Storgårds, der als Leiter des Lappländischen Kammerorchesters legendär ist und auch die Philharmoniker aus Helsinki als Chef zu außergewöhnlichen Leistungen anzuspornen imstande war, hat sich nicht nur als Dirigent bewiesen, sondern auch als grandioser Violinsolist, sei es mit seiner frühen Aufnahme von Robert Schumanns Violinkonzert für Ondine (für mich immer noch die schönste) oder zuletzt in München im Violinkonzert von Kaija Saariaho. Er ist heute erster Gastdirigent beim BBC Philharmonic in Manchester, wo er für Chandos den herausragendsten Zyklus der Sibelius-Symphonien seit Jahrzehnten aufnahm und auch die Symphonien von Carl Nielsen auf außerordentlichem Niveau einspielte. In München hat man ihm ein über zwei Jahre sich erstreckendes Haydn-Ligeti-Projekt anvertraut, und mit dem neuen Chefdirigenten des Münchener Kammerorchesters, Clemens Schuldt, verbindet ihn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Diesmal bildeten zwei Londoner Symphonien Joseph Haydns den Rahmen: die Nr. 95 in c-moll und die berühmte Nr. 101, ‚Die Uhr’. Schon zuletzt waren wir uns einig, seit vielen Jahren keinen so guten Haydn in München gehört zu haben, und dieser Eindruck wurde diesmal in schlagender Weise bestätigt. Storgårds ist in seinem Naturell ein erdiger, kraftvoll leidenschaftlicher, zum Eruptiven neigender Musikant von unerhörter Präzision, Vitalität und Klarheit der Vorstellung. Sein Musizieren zeichnet sich zugleich durch absolute Natürlichkeit und feingliedrige, die metrischen Schwerpunkte schwungvoll transzendierende Phrasierung aus, und das Orchester folgt ihm mit feurigem Willen und erlesener Liebe zum Detail. Ich gestehe, dass ich einige Details bei Haydn anders machen würde: die langsame Einleitung zur ‚Uhr’ ist mir etwas zu geschwind, in den Menuetten stelle ich mir einen geringeren, subtileren Tempounterschied zwischen Menuett und Trio vor (dies würde in der 95. ein breiteres Grundtempo erfordern und in der ‚Uhr’ ein etwas weniger bewegtes Trio), auch könnte das Blech gelegentlich noch mehr im Zaum gehalten werden. Doch all dies fällt angesichts der hinreißenden Vorzüge der Darbietung nur marginal ins Gewicht. Hinzu kommt, dass in der 95. Symphonie mit Cello-Stimmführer Mikayel Hakhnazaryan ein auch musikalisch herausragender Solist agiert, und dass mit Elissa Cassini, der einstigen Konzertmeisterin des fantastischen New Yorker Arcos Orchestra unter dem leider verstorbenen, unvergesslichen John-Edward Kelly, eine Konzertmeisterin von Weltrang verpflichtet werden konnte. Haydn gelang beide Male sensationell, und eben nicht nur hinsichtlich der gelegentlich fast schon atemberaubenden Virtuosität und alles durchdringenden Konzentration und Präsenz, sondern auch im Sanglichen, im intuitiven Erfassen der Charaktere und modulatorischen Spannungsverläufe, in der rhythmischen Prägnanz, dem Auskosten der Überraschungen, dem überschäumenden Humor und in den fein durchartikulierten Piano- und Pianissimo-Passagen. So wirkt diese Musik frisch wie am ersten Tag, ohne zopfig-besserwisserische Attitüde belehrenden Historismus’, und geistreich, wie dies seit den Tagen eines Celibidache nicht zu hören war.

Im Violinkonzert von György Ligeti sprang für den erkrankten Renaud Capuçon Michael Barenboim ein und spielte mit einer Souveränität, geigerisch makellosen Clarté und selbstverständlichen Musikalität, die das Publikum zu Begeisterung hinriß. Als Zugabe trug er – passend – den langsamen Satz aus Béla Bartóks Solo-Sonate vor, auch das mit vollendeter Beherrschung in allen Nuancen. Aber auch bei Ligeti sei die Leistung des Dirigenten – und in Tateinheit damit des Orchesters – besonders hervorgehoben. Man kann diese hochkomplexe Musik unter normalen Probenbedingungen nicht besser aufführen. Ligeti ist da am besten, wo er die aggressive Grellheit ins Extrem treibt, was mit physisch erbarmungsloser Verve umgesetzt wurde, und es ist nicht übertrieben, festzustellen, dass alles mit einer Lebendigkeit und Zuspitzung umgesetzt wurde, die den Komponisten beglückt hätten wie keine der auf Schallplatten dokumentierten Aufführungen. Außerdem gab es die ‚3 unvollendeten Portraits’ des 1957 in Triest geborenen Fabio Nieder, musikalische Stillleben am Rande des Verstummens, eine Art neuer ‚Arte povera’, vom Münchener Kammerorchester unter Storgårds minutiös verfeinert dargeboten, dass der Komponist selbst wohl staunen mochte, was er da zustande gebracht hat – das Publikum im vollen Saal des Prinzregententheaters war ganz im Bann dieser Klänge, die vor allem vom Verschwinden künden, sei es in der eröffnenden Berio-Hommage, dem slowenischen ‚Sara-Portrait’ oder der phrygischen Introversion einer immer wieder aufscheinenden tartarischen Volksweise.

Das Orchester zeigte sich nicht weniger dankbar als das Publikum und schenkte seinem ersten Gastdirigenten einen Applaus, von dessen überschwänglicher Herzlichkeit die anderen Münchner Maestri nur träumen können. Wie Lavard Skou Larsen in Salzburg und Neuss versteht es auch Storgårds in einmaliger Weise, einem Kammerorchester ein Maximum an Verfeinerung, Intensität und Reichtum des Ausdrucks zu entlocken. Das Münchener Kammerorchester befindet sich im Höhenflug seiner bisherigen Geschichte.

[Christoph Schlüren, April 2017]

Neue Musik zwischen Esoterik und Transzendenz

Im zweiten ‚räsonanz‘ Stifterkonzert waren am Samstag, dem 1. April 2017 diesmal das Mahler Chamber Orchestra und der MusicAeterna Choir aus Perm unter der Leitung des charismatischen Dirigenten Teodor Currentzis im Prinzregententheater zu Gast. Neben Luciano Berios „Coro“ – einem der anspruchsvollsten Werke der gesamten Chorliteratur – war noch Ligeti und Vivier zu hören. Die hochgesteckten Erwartungen an Currentzis haben sich erfüllt, denn der Abend wurde zu einer musikalischen Sternstunde.

© Stefanie Loos
© Stefanie Loos

 

Der Initiative der Ernst von Siemens Musikstiftung ist es in erster Linie zu verdanken, dass man jetzt bei den größeren ‚musica viva‘ Wochenenden neben Chor & Symphonieorchester des BR (die zuvor eine große Rihm-Uraufführung stemmten) auch musikalische Hochkaräter in Sachen Neuer Musik von außerhalb Münchens erleben darf. So war bereits das letztjährige Stifterkonzert mit dem mittlerweile leider unverzeihlich totfusionierten SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter George Benjamin ein voller Erfolg. Für dieses Jahr hatte man sich u.a. ein Hauptwerk der 1970er-Jahre, Luciano Berios Coro für 40 Stimmen und Instrumente, vorgenommen. Dazu waren neben dem Mahler Chamber Orchestra – ein Leuchtturm europäischer Integration – der MusicAeterna Choir aus Perm unter seinem Gründer Teodor Currentzis eingeladen.

Um keinen anderen jüngeren Dirigenten – er ist allerdings auch schon immerhin 45! – gibt es momentan einen derartigen ‚Hype‘ wie den griechisch-stämmigen Teodor Currentzis, der seine wesentliche Ausbildung in Russland erhielt und dort die ersten Sprossen seiner Karriereleiter erklomm. Das mag vor allem an der sehr speziellen Art liegen, mit der er gerade mit ‚seinem‘ MusicAeterna Choir samt dazugehörigen Orchester arbeitet, bei dem der Glaube an ewige Wahrheiten Voraussetzung zu sein scheint. Wie gerne hätte ich bei den Proben mit dem Mahler Chamber Orchestra Mäuschen gespielt – denn diese Musiker lassen sich wohl nicht so leicht einfangen. Bekannt ist, dass Currentzis sogenanntes Standardrepertoire gerne völlig gegen den Strich bürstet, um Sedimente tradierter Aufführungs- und Hörgewohnheiten abzutragen und das Ohr auf die ‚wirklichen‘ Inhalte zu konzentrieren, wobei ihm ähnlich veranlagte Solisten wie z.B. Patricia Kopatchinskaja willkommene Partner(innen) sind. Jedenfalls interessiert sich der Dirigent für Repertoire vom Frühbarock bis zur aktuellen, zeitgenössischen Musik, wurde von der Opernwelt 2016 zum ‚Dirigenten des Jahres‘ gekürt, und und und…

Wie bewältigt nun ein solcher Tausendsassa derart komplexe Partituren wie Coro oder Ligetis Lux aeterna? Schon sein Auftreten lässt jede Deutung – von maßloser Eitelkeit, die aus Scham in bewusster Bescheidenheit verpackt wird bis zum genauen Gegenteil – zu. Enorm groß gewachsene Dirigenten haben zudem nicht selten Probleme rein schlagtechnischer Natur: Wie ein energetisches Zentrum finden mit so langen Armen? Nun, Currentzis steht vor seinem Ensemble in fast ständig leicht nach vorn gerichteter Haltung – fast wie ein Raubtierdompteur – und fuchtelt oft in riesigen Bewegungen mit den Armen herum; fast hätte er ein seitlich positioniertes Mikro umgerissen. Bei ‚klassischem‘ Repertoire sieht das dann arg nach Zappelphilipp aus – wie erreicht man da Präzision? Tatsächlich hält sich sein Gezappel an diesem Abend doch in Grenzen – und die Präzision vermittelt sich bei Currentzis direkt über die Hände bzw. Finger: Sicher deshalb verwendet er auch keinen Taktstock. So gelingen bis auf Kleinigkeiten bei Vivier auch diffizile Einsätze. Schwierigkeiten machen lediglich schnelle Decrescendi – dazu müssten die beiden Arme noch unabhängiger agieren. Letztlich ist dies jedoch komplett nebensächlich: Was Currentzis auszeichnet, ist eine extrem verinnerlichte, genaue Klangvorstellung und eben Charisma. Er atmet mit seinem Chor – alle 40 Sänger haben in Coro auch solistische Aufgaben – und dem Orchester, als ob er ihnen das Leben direkt einhauchen müsste. Der Klang strömt unterbrechungslos und kontrolliert in einem einzigen Einverständnis – beeindruckend!

Dass das ursprünglich angekündigte A-Cappella-Stück von Xenakis (Nuits) „aus organisatorischen Gründen“ (?) durch eine kurze Bläserintrada – Berios Call (St. Louis Fanfare) – sowie György Ligetis bekanntes Lux aeterna ersetzt wurde, erweist sich programmatisch sogar als Glücksgriff. Keine gute Idee ist allerdings, dass Currentzis die drei Stücke vor der Pause eigentlich übergangslos aneinandersetzen wollte. Spielen die fünf Blechbläser Call ganz vortrefflich ohne Dirigenten, sitzt dieser ein paar Meter entfernt mit Blick zum Publikum über den Noten. Soll das signalisieren: Aber ich hab’s einstudiert? Es gibt also eh‘ eine Unterbrechung, bis Currentzis sich zu seinem Chor wenden und mit Lux aeterna beginnen kann. Absichtsvoll oder unglücklich: Der Chor – in der Partitur 16-stimmig – mit etwa 25 Sängern ist ganz hinten auf dem Podium platziert und bietet so das gesamte Stück in einem mystischen, aber eben auch völlig konturlosen Pianissimo dar. Nun war es ja gerade nicht Ligetis Absicht, die genauestens ausgearbeitete Mikropolyphonie als solche durchsichtig hörbar zu machen, sondern eher einen Zustand (der Ewigkeit) mittels einer changierenden Klangfläche im Raum zu evozieren – transzendente Aufhebung des Zeitlichen. Currentzis‘ Interpretation scheint sich aber rein auf feinste Dynamik zu konzentrieren – kleine Farbverschiebungen durch das Hinzutreten oder Wegfallen einzelner Stimmen. Das ist dann eher esoterische Reduktion, vielleicht aus einer orthodoxen Tradition heraus, und klingt mehr nach Pärt als nach Ligeti. Ich hätte das gerne etwas direkter mehr aus der Nähe gehört.

Der erste Schlagzeugeinsatz von Viviers Lonely Child folgt unmittelbar; leider geht dann der ganz intime Beginn des Stückes durch die in München immer unvermeidlichen Hustorgien ziemlich zu Bruch, die man lieber hätte abwarten sollen. Die hochindividuelle Qualität des frankokanadischen Komponisten genauer zu schildern, ist hier nicht der Raum. Das vorliegende Werk berührt jedenfalls weniger durch den Text als durch Klangmischung und die nach und nach spektrale Auffächerung von melodischen Gestalten – Melancholie in spröder Schönheit. Mag den Puristen vielleicht die dezente Unterstützung der Sopranistin durch Mikroport stören: Aber so gelingt es, den Gesang über weite Strecken völlig vibratolos zu halten und eine wirklich perfekte Mischung mit dem Kammerorchester zu erreichen – erklärtes Ziel des Komponisten. Sophia Burgos und das Mahler Chamber Orchestra zeigen sich dieser sensiblen Musik völlig gewachsen, nicht nur technisch. Da stimmt jede Nuance und Currentzis stellt einen Gesamtzusammenhang dar, der in sich schlüssig ist: tiefe seelische Einblicke ohne jeden Exhibitionismus.

Nach der Pause dann Berios Coro – für mich immer schon, verglichen mit der berühmteren Sinfonia, das beeindruckendere Werk. Ist letztere irgendwo eine, wenn auch augenzwinkernde, intellektuelle Spielerei, erweist sich Coro als Bekenntniswerk von existenzieller Bedeutung. Spiegeln die oft zunächst solistisch vorgetragenen, kunstvoll überhöhten Volksmusikmaterialien den zutiefst menschlichen Drang nach Freiheit und der Erfüllung elementarer Bedürfnisse wider, so brechen mit dem Neruda-Gedicht (Venid a ver…) Gewalten herein, denen das Individuum anscheinend kaum etwas entgegensetzen kann. Das ist brillant komponiert, hochpolitisch, und entfesselt eine Klanglichkeit, die unmittelbar körperlich wirkt. Wie die 40 Sänger beinahe selig auf ihren Dirigenten schauen, der immer bei ihnen ist, und die einzelnen musikalischen Charaktere sicher treffen, wenn auch nicht alles sprachlich verständlich artikuliert, ist ein Erlebnis. Auch das Orchester trägt dazu bei: Jedem Choristen ist, exakt der von Berio geforderten Sitzordnung entsprechend, unmittelbar ein Instrument zugeordnet. Unübersehbar kommt schon auf dieser Ebene echte Kommunikation zustande. Currentzis leitet dies souverän und mit schier unglaublicher Intensität; die Dynamik ist präzise austariert und jedes Detail der Riesenpartitur hörbar. Auch hier wieder: Die Teleologie der Gesamtanlage wird von Beginn an überblickt und herausgearbeitet. Nach einer Stunde Anspannung, der sich auch das Publikum gerne hingegeben hat, gibt es begeisterten Applaus, zum Teil Standing Ovations. Dass, als der Chor noch eine Zugabe andeutet, jetzt eigentlich nur Bach kommen kann, erweist sich als trügerisch. Vielmehr erklingt eine Bearbeitung des Bachchorals Komm, süßer Tod von Knut Nystedt (1915- 2014): Immortal Bach. Das ist eine echte Sternstunde für die – nicht mehr ganz – Neue Musik. Kein Grund jedoch, Currentzis gleich zu deren neuem Propheten auszurufen.

Auch diesmal gibt es eine Rundfunkübertragung: Freitag, 21. April 2017, um 20.03 Uhr auf BR-Klassik.

[Martin Blaumeiser, April 2017]

Kubanische Festivitäten

Am 10. März spielt die kubanische Konzertpianistin Yamilé Cruz beim Klavierzyklus von Piano Fies Riemerling Werke aus Europa und Kuba. Das Programm beginnt mit Robert Schumanns Faschingsschwank aus Wien Op. 26, worauf das erste Buch aus Isaac Albéniz‘ Iberia folgt. Die zweite Hälfte ist Kuba gewidmet, neben sieben Tänzen von Ignacio Cervantes ist die Suite Andalucia von Ernesto Lecuona zu hören, die Europa und die ‚Neue Welt’ vereint.

Die Konzertreihe von Piano Fies entwickelt sich immer mehr zu einem ambitionierten Großprojekt. Wo anfangs noch wenige Interessierte den Klängen etablierter Musiker lauschten, ist nun der kleine Konzertsaal in Riemerling (obgleich bereits in einen größeren Raum gewechselt wurde) stets bis auf den letzten Platz besetzt und die Wartelisten sind lang. Die Nähe zum Publikum wird großgeschrieben und die Atmosphäre ist vertraut, beinahe intim.

Am heutigen Abend ist es Yamilé Cruz Montero, die in diesem legeren Rahmen auftritt und die Hörer mit ihrem europäisch-kubanischen Programm verzaubert. Eingeführt wird traditionell von Frau Professorin Bianca Bodalia von der Musikhochschule München, die mit Charme und verständlich vermitteltem Fachwissen Einblicke in die dargebotenen Werke gewährt.

Zu Beginn direkt ein Highlight der Konzertliteratur, Schumanns Faschingsschwank aus Wien Op. 26, hochvirtuos und von klanglich-musikalischen Herausforderungen durchzogen. Die ersten Takte überraschen sogleich, denn Yamilé Cruz Montero stürzt sich nicht ungehalten ins Getümmel oder bietet eben nicht sofort höchste Kraft auf. Sie baut auf, verausgabt sich nicht bereits im ersten Ansturm, sondern erzeugt ein Kontinuum, das den Hörer durch das Werk trägt. So entsteht ein gewaltiger Bogen, der das gesamte Opus umspannt – dieser ist artikuliert wie ein einziger großer Spannungsverlauf, der sich über die lange Strecke auftut und genauso natürlich wieder schließt. So erhält der Schwank Stringenz und organischen Zusammenhang fernab der so häufig zu bewältigenden Richtungslosigkeit.

Nicht weniger erstaunlich ist Yamilé Cruz Monteros Aufführung der Iberia-Suite, aus welcher sie das erste Buch spielt. Vertraut ist die Suite in verträumt impressionistischer Manier, geprägt von effektvoller Konturlosigkeit und schillernden Farben. Solch nebulöse Aufgeregtheit scheint dem kubanischen Gemüt der Pianistin gegen den Strich zu gehen, und sie meißelt deutlich die rhythmischen Nuancen heraus, verleiht den drei Stücken Prägnanz und greifbare Form. Für enormen Farbenreichtum ist dabei ebenso Platz, nur nicht willkürlich ausgeteilt, sondern zu einheitlichem Fluss gebündelt. Dabei entfaltet Yamilé Cruz Montero ein weites Spektrum dynamischer Zwischenschattierungen, lediglich der Pianissimobereich wäre nach unten noch erweiterbar (dieser bleibt immer schwierig einzuschätzen, damit auch die hinteren Reihen noch jeden Ton vernehmen können, und außerdem mag auch sein, dass nicht jeder Flügel hier eine endlose Palette bereitstellt). Bei Iberia zeigt sich die ganze Vollendung ihres Anschlags, dem zwar die Kraft einer Löwin innewohnt, der diese allerdings feingliedrig korreliert und immer den Erfordernissen der Musik anzupassen vermag.

Ein wahres Heimspiel hat Yamilé Cruz Montero in der zweiten Hälfte des Konzertprogramms, die Werke der kubanischen Komponisten liegen ihr im Blut (die hier zu hörenden Stücke werden gemeinsam mit weiteren gegen Ende des Jahres bei Grand Piano auf CD erscheinen). Einundvierzig Tänze fasste Ignacio Cervantes zu einem Zyklus zusammen, woraus heute sieben zu hören sind. Es sind verspielte Miniaturen von überschäumender Lebensfreude, durchwoben mit rhythmischen Feinheiten und für das europäische Ohr erstaunlichen Skurrilitäten. Virtuoser und eher mit klassischen Modellen vertraut gibt sich die Musik von Ernesto Lecuona, der als kubanischer Gershwin gilt. Sie sechssätzige Suite Andalucia eint kubanisches Lebensgefühl mit spanischer Attitüde und den Ambitionen einer großen klassischen Komposition. Yamilé Cruz Montero geht ebenso intensiv im organischen Leben der Musik auf wie bei Schumann oder Albéniz, spielt mit feingliedrigem Bewusstsein über Form und Struktur, vernachlässigt auch nicht das lyrische Moment und besticht mit unerhörter rhythmischer Prägnanz. Eine großartige Musikerin.

[Oliver Fraenzke, März 2017]

Virtuoses, nordisches Understatement beim MKO

Im Rahmen eines Nachtkonzerts fand am 11.03.2017 in der Pinakothek der Moderne mit dem Münchener Kammerorchester unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Clemens Schuldt ein ganz der anwesenden finnischen Komponistin Kaija Saariaho gewidmetes Konzert statt. Als Hauptsolisten hatte man den Violinisten John Storgårds eingeladen, der einmal mehr vollends zu überzeugen wusste.

Das 41. vom MKO veranstaltete Komponistenporträt ist erst zum zweiten Male einer weiblichen Protagonistin gewidmet. Zumindest in Europa darf man die Finnin Kaija Saariaho (*1952) zu den bedeutendsten Vertreterinnen ihres Berufsstandes zählen. Wichtige Grundlagen für die Herausbildung eines eigenen Stils waren die Berührung mit Vertretern einer streng seriellen Schreibweise (Brian Ferneyhough) wie die intensive Auseinandersetzung mit den Ideen der französischen Spektralisten (Gérard Grisey usw.). So verwundert es nicht, dass Frau Saariaho Ende der 1980er Jahre mehrere Stücke herausbrachte, die traditionelle Instrumentalensembles mit Elektronik verbanden. Dazu gehört Nymphéa (1987, für Streichquartett & Live-Elektronik). Mittlerweile bevorzugt es die Komponistin allerdings, Klangerfahrungen aus dem Umgang mit elektronischer Musik in direkten Instrumentalklang umzusetzen. Gerade beim Streichorchester verfügt Saariaho, alle nur erdenklichen Spieltechniken ausnutzend, über ein vielfältiges Spektrum auch ‚ungewohnter‘ Klänge, mit dem sie virtuos umgeht. Der erste Programmpunkt des Abends, Nymphéa reflections (2001), ist dann auch quasi eine Rekomposition besagten Quartetts für ein größeres Streicherensemble, das dann aber keiner Elektronik mehr bedarf. Geblieben ist die Einbeziehung von Sprache – durch die Spieler selbst, die im letzten Satz flüsternd aus einem Gedicht von Arseni Tarkowski rezitieren. Ich bin sofort beeindruckt von Clemens Schuldts präziser Zeichengebung und der offensichtlichen Fähigkeit, seine Musiker – alle quasi auf der Stuhlkante sitzend – zu höchster Anspannung und gegenseitigem Zuhören zu bringen. Das ‚Aufeinander-Hören‘ ist sowieso neben der gebotenen technischen Souveränität – allein die Vielzahl an verschiedensten Flageoletts ist unglaublich – die absolute Voraussetzung für eine adäquate Umsetzung von Saariahos Klangwelt. Das MKO ist völlig bei der Sache, reagiert aufeinander wie ein einziger Organismus und scheint wirklich Freude am gemeinsamen Spiel zu haben. Dies überträgt sich auch auf das gut besuchte Auditorium – trotz einiger Belanglosigkeiten, die die sechs kürzeren Sätze leider auch enthalten. Und mit der Akustik in der Pinakothek kommen die Streicher an diesem Abend deutlich besser zurecht als bei so manchem Konzert unter Alexander Liebreich.

Es folgen zwei Kammermusikwerke, die natürlich ohne Dirigenten vorgetragen werden. New Gates ist die Transkription eines Abschnitts aus dem Ballett Maa für Flöte, Viola und Harfe (1996) – schon die Besetzung weckt Assoziationen zu Debussy. Das Trio (Ivanna Ternay, Kevin Hawthorne u. Marlis Neumann) spielt mit Hingabe – ein angenehmer musikalischer Diskurs mit einigen intelligent gesetzten klanglichen Finessen, aber ohne jegliche Zielstrebigkeit oder gar Teleologie (auch das Ballett hat keinen ‚Plot‘). Häufig bei Kaija Saariaho wirkt dies wie ein Blick auf eine sich höchst differenziert verformende, plastische, aber opake Oberfläche, transformierte Räumlichkeit, ohne auch nur eine Idee davon zu erhaschen, was sich darunter noch verbergen mag. Das soll jetzt allerdings nicht als höfliche Umschreibung des Vorwurfs von ‚Oberflächlichkeit‘ missverstanden werden – es gehört durchaus zu einem gewissen Understatement Saariahos, wie es auch bei anderen nordischen Komponisten auszumachen ist.

Eher als Amuse-gueule zum eigentlichen Hauptwerk des Abends zu verstehen dann die Sept papillons (2000) für Violoncello solo, die die vier Cellisten des MKO – räumlich in die verschiedenen Himmelsrichtungen um die Rotunde verteilt – unter sich aufgeteilt haben. Schwierigste, ständig zweistimmige Klangstudien, die die Solisten faszinierend meistern. Im sehr aufschlussreichen und angenehm geführten Einführungsgespräch mit Clemens Schuldt berichtete Kaija Saariaho, dass sie diese Stücke jeweils nachts komponiert hat, um vom täglichen – für sie ungewohnten – Probenstress der Salzburger Uraufführung ihrer ersten Oper L’amour de loin herunter zu kommen.

Den Abschluss bildet dann das Violinkonzert Graal théâtre, 1994 für Gidon Kremer und großes Orchester geschrieben, hier in der alternativen Fassung (1997) für Kammerorchester – immer noch mit komplettem, einfachen Bläsersatz, Schlagwerk, Klavier und Harfe. Als Solist hat man John Storgårds gewinnen können. Ich war sehr gespannt, diesen mittlerweile als Dirigent international bekannten Musiker, der ja auch schon sehr erfolgreich das MKO leitete, auf der Violine zu hören. Bereits für die Erstfassung hatte er der Komponistin bei der Entwicklung des Soloparts mit Rat und Tat zur Seite gestanden, dann die zweite Version uraufgeführt und das Werk inzwischen – das verriet er nicht ohne Stolz – mehr als dreißig Mal gespielt. Dass Storgårds mit dieser Musik mittlerweile symbiotisch verwachsen zu sein scheint, alles konzentriert ‚einfach da‘ ist, zeigt sich von der ersten Sekunde an – bei völliger äußerlicher Gelassenheit. Eine durch und durch verinnerlichte Klangvorstellung, der die Hände bei immensen technischen Anforderungen geradezu mühelos folgen, und die sich darüber hinaus auch noch sensibelst in den augenblicklichen Gesamtklang des Ensembles zu integrieren vermag – das ist Weltklasse! Clemens Schuldt kann sich mit diesem Solisten wie in Abrahams Schoß fühlen, aber die nötige Aufmerksamkeit und Präzision ist dann auf den Punkt da, ebenso der Überblick für die Gesamtdisposition der beiden umfänglichen Sätze – zumindest der zweite ist auch konfliktgeladen. So vorgetragen gelingen Momente von Intimität, aber auch solche energischsten Zugriffs, die einfach überzeugen; eine Aufführung, wie man sie sich authentischer kaum vorstellen kann. Als Zugabe bedankt sich Storgårds noch mit einem Nocturne, selbstverständlich von Kaija Saariaho, die trotz Zeitdrucks – sie schreibt gerade an ihrer vierten Oper – wohl gerne nach München gekommen ist. Verdient großer Applaus für diese ‚Nachtmusik‘ geht an alle Beteiligten.

[Martin Blaumeiser, März 2017]

Fern ab der Trennung von Musikern und Publikum

Im Freien Musikzentrum München spielen Violeta Barrena und Ottavia Maria Maceratini am 19. Februar Werke von Schubert, Ravel, Chopin, Weinberg und Monti sowie Zugaben von Piazzolla und Chuquisengo.

Das Freie Musikzentrum München ist einem kleinen Hörerkreis schon lange als Wohnzimmer für erstklassige Klassikkonzerte bekannt, und gerade auch der heutige Abend sollte keine Ausnahme bilden. Schon des Öfteren spielte die italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini in diesem kleinen Saal, in dem auch heute wieder alle Zuhörer konzentriert und beinahe ins Geschehen involviert wirken; und für die in England lebende katalanisch-schweizerische Violinistin Violeta Barrena ist dies heute ihre Premiere im FMZ. Vor allem aber ist es die gemeinsame Premiere der beiden exzellenten Musikerinnen als Duo.

Das Programm beginnt mit Schuberts a-Moll-Sonatine D. 385, ein hinreißendes Werk, erfüllt von harmonischen Finessen und subtiler Gestaltung. Das Werk ist bekannt als beschauliches Stück Hausmusik, das nicht allzu tiefgreifend scheint. Aber weit gefehlt bei der heutigen Darbietung, unter den Fingern von Barrena und Maceratini entfaltet die viersätzige Sonatine ihr gewaltiges symphonisches Potential in aller Farbenpracht. Brausend begehrt der Kopfsatz auf, nach welchem im Andante tiefe Abgründe aufgerissen werden; In tänzerischer Beschwingtheit – nicht ohne Doppelbödigkeit – gibt sich das Scherzo-hafte Menuetto und auf eine zwiespältige Weise versöhnend schließt das Allegro-Finale. Es folgt die einsätzige postume Violinsonate Ravels, ein Werk aus Studienzeiten, das der Komponist anscheinend nicht für bedeutend genug für eine Veröffentlichung ansah: Ein grobes Fehlurteil. In diesem Frühwerk ist schon der unverkennbare Personalstil Ravels manifestiert, ein zwischen Traum und Realität changierender Fluss innigster Leidenschaft. In allen Farben schillert das Stück wie auch die Darbietung der beiden jungen Musikerinnen, die sich voll auf diese eigenartige Gefühlwelt einlassen. Ungehört griffig erklingt die Sonate, beide lassen sich nicht einfach treiben, sondern holen bewusst zentrale Elemente hervor und legen so die Struktur inmitten dieses feingliedrigen Geflechts frei.

Als Solistin darf Ottavia Maria Maceratini nach der Pause mit Chopins Polonaise Fantasie op. 61 glänzen, einem kolossalen Spätwerk in erstaunlicher Konzentration. Bereits die ersten Noten können bei Maceratini verzaubern, so himmlisch transzendental erheben sich die eröffnenden Linien. Die Pianistin legt ihre vollste Energie und emotionale Bandbreite in die einzelnen Passagen, erreicht kühne Höhepunkte, lässt sich als Ausgleich in träumerische Gefilde fallen. Anders als bei den restlichen Werken des Abends ist kein großer Bogen von der ersten bis zur letzten Note zu verspüren, viel eher verlagert sich Maceratini auf interne Höhepunkte und die Auskostung eines jeden Aufbaus. Expressive Töne, nun wieder von beiden Musikerinnen, sind in der Sonatine von Mieczysław Weinberg zu hören, die mit einem jüdisch-östlichen Flair und einer gewissen Robustheit versehen ist. Wie auch Schubert ist dies eigentlich keine übliche Sonatine, sondern enthält die gesamte Innenwelt eines großen Konzertwerks und ebenso erklingt sie auch. Das Finale bildet der unverwüstliche Csárdás von Vittorio Monti, bei welchem sich die Violinistin voll austoben darf und in spielerischer Freude über die Saiten huscht, dabei allerdings auch nicht die zarte Ausgestaltung der einzelnen Linien vernachlässigt. Als Zugabe gibt es noch zwei Werke aus Lateinamerika, Piazzollas Oblivion, der selten so introvertiert-mitreißend erklingt, und Juan José Chuquisengos Arrangement von Mariano Mores’ populärer Milonga ‚Taquito militar’ für Violine und Klavier, ein so belebter wie unentrinnbar mitreißender Tanz.

Den ganzen Abend herrscht eine ganz besondere Energie, die jeden Zuhörer im Raum gefangen nimmt und innerlich involviert. Kaum zu glauben, dass die beiden Musikerinnen heute das erste Mal gemeinsam aufgetreten sind, solch eine intensiv innige Bindung ist zwischen ihnen zu spüren und bis ins kleinste Atmen ist alles wunderbar aufeinander abgestimmt. Es ist eine Natürlichkeit der Bühnenpräsenz, fernab der allgegenwärtigen Trennung von Musikern und Publikum, die alles so intim werden lässt und die Musik noch unmittelbarer zur Entfaltung bringt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2017]

Konzert „Verzupft“ im Wildwuchs

Am Samstag den 4. Februar stellte das Gitarren-Ensemble „Verzupft“ seine Debut-CD im Rahmen eines Konzerts im „Café Wildwuchs“ in der Münchner Leonrodstrasse vor. In diesem kleinen – von Beginn an rauchfreien – Saal begannen die drei Musiker um  den „Primarius“ René Senn , die zweite Gitarre spielte Doris Leibold, und die dritte Gitarre war gut aufgehoben in den Händen von Thomas Kohl.

Die drei begannen mit sogenannter „Bauernmusik“. Wer aber nun allzu sehr an Wirtshaus und Krachlederne dachte, wurde sogleich eines Besseren belehrt. Was da von der Bühne kam, war alles andere als die übliche Bayerische Volksmusik. Wer – wie  René Senn – zu seinen Vorbildern den Bayerischen Musiker Joseph Eibl (den Eibl Sepp), aber andererseits auch Jimi Hendrix  zählt, von dem darf man auch in Punkto Volksmusik etwas Anderes erwarten. Und das hörte man auch vom ersten Stück an: Der Gitarren-Bayerische, eine Original-Komposition für drei Gitarren von Tobi Reiser sen. (1907-74), gemeinhin der Begründer jener klassischen „Stub’n-Musik“, wie sie heute so verbreitet ist – allerdings spielte „Verzupft“ laut Ansage dieses Stück heut zum letzten Mal, denn wie unlängst die Recherche von Doris Leibold ergeben hatte, spielte Tobi Reiser im Dritten Reich eine sehr unerquickliche Rolle, weshalb sich nicht nur das Ensemble, sondern sogar die Stadt Salzburg sich von ihm distanziert hat.

Es folgte eine ganze Reihe von Tänzen und Stücken aus einer Sammlung, die sich tatsächlich „Bauernmusi“ nennt, und die jeweils nach den Ansagen von Doris Leibold erklangen. Unterbrochen wurde diese Session von einem altenglischen Liebeslied „As I Was Awalking“ mit Doris Leibold als Sängerin, die mit ihrer hellklingenden Stimme von den beiden Gitarristen wunderbar untermalt wurde. Überhaupt ist – im Gegensatz zu sehr vielen klassischen Gitarristinnen und Gitarristen – das gesangliche Melodiespiel vor allem bei René Senn und Thomas Kohl ein ganz besonderes Merkmal. Wie wunderbar phrasiert diese Melodien daherkommen, kontrapunktiert von den Bassläufen auf der dritten Gitarre von Doris Leibold, ist beispielhaft. Aber ist es bekanntlich bei der Bayerischen Volksmusik sowieso zentraler Ausgangspunkt: Das Singen. Demzufolge können einiger der besten Volksmusik-Gitarristen – siehe der Eibl Sepp – Melodien so natürlich  spielen, wie „es sich gehört“, da sie es bereits mit der Muttermilch aufgesogen haben. (Wie auch Sergiu Celibidache darauf hinwies.) Und sowohl René Senn als auch Thomas Kohl gehören zu dieser „Gattung“ zweifellos dazu. Auch auf der CD ist das alles nachzuhören.

Aber der zweite Teil des Abends brachte noch andere Musik in unser Ohr: Und da ging dann einfach musikalisch die Post ab! Blues vom Feinsten, rhythmisch mit der Kontrabass-Gitarre von Doris Leibold zum schönsten grooven gebracht und von den beiden Herren in bester Spiellaune dem knallvollen Saal präsentiert. T-Bone Walker, Freddy Q und andere standen dann auf dem Programm, und die Tatsache, dass eben auch Jimi Hendrix zu den Vorbildern gehört, war genau wieder einmal der Beweis, dass es letztlich nur zwei Arten von Musik gibt: Gute – wie an diesem Abend – und schlechte, über die wir hier allerdings kein weiteres, überflüssiges Wort verlieren wollen.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

Authentizität eines ganzen Kontinents

Entre Mundos in der Münchner Unterfahrt

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Copyright Bruno Hilz

Am Samstag, den 21. Januar, gastierte das Quartett des Entre Mundos Projekts in der Unterfahrt, der tradierten Münchner Jazz-Location im Einstein Kulturzentrum, mit feinsinnigen und exzellent ausgeführten Arrangements von Folklore aus Chile, Peru, Brasilien, Argentinien, Cuba und Kolumbien – also einer Reise durch die vier Hauptströmungen der lateinamerikanischen Musik: brasilianisch, karibisch, Tango und Andenmusik.

Copyright: YCM

 

Unter den vielen lateinamerikanischen Bands in Deutschland, die einen authentischen Bezug zur heimischen Folklore haben, nehmen Entre Mundos seit einigen Jahren eine Sonderstellung ein, die sie nicht nur ihrem exquisiten Niveau verdanken, sondern auch der Vielseitigkeit der Stile, in denen sie zuhause sind. Bisher kannten wir Entre Mundos als Trio, bestehend aus der chilenischen Sängerin Cristina Gálvez, die in ihrer Heimat zu den führenden Jazzsängerinnen zählt und heute in Oberbayern lebt; dem peruanischen Pianisten Juan José Chuquisengo, der geradezu als Synonym für musikalische Grenzenlosigkeit gelten darf – Chuquisengo hat zwei legendäre CDs für Sony Classical aufgenommen (Ravel und ‚Transcendent Journey’), die ihn, in vieler Hinsicht Dinu Lipatti und Murray Perahia verwandt, als einen der großen einsamen Meister der Verinnerlichung ausweisen, und sein Stilspektrum in der Weltmusik reicht weit über Lateinamerika und Europa hinaus; und sein Landsmann Augusto Aguilar, ein vor Vitalität, Freude und Humor überbordender Allround-Musiker, der uns mit Oboe, Cajón, Saxophon, Gitarre und Gesang gleichermaßen zu fesseln versteht und bei Bedarf stets im Handumdrehen die Stimmung aus dem Meditativen auf den Siedepunkt zu treiben versteht. Nun ist in der Unterfahrt erstmals ein weiterer Musiker hinzugetreten: der Grieche Christos Asonitis, der sich in den letzten Jahren als einer der besten Münchner Jazz-Schlagzeuger etablieren konnte und auch immer nach stilistischer Erweiterung bestrebt ist.

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Asonitis hatte also einen erheblich vergrößerten Perkussions-Apparat um sich herum aufgebaut, ergänzt um das Latin-Spektrum, und es ist wirklich respekteinflößend, wie schnell er sich als einziger Europäer die für ihn teils neuen Tanzidiome angeeignet hat. Das Spektrum von Entre Mundos ist sehr weit, und ganz besonders faszinierend war es, als die afro-südamerikanische Welt von Aguilars narrativ pulsierendem Cajón-Spiel und das raffinierte Schlagzeugspiel von Asonitis gemeinsam ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten und sich gegenseitig befruchteten. Cristina Gálvez führte höchst charmant durch das Programm, mit Humor und Selbstironie, darin vortrefflich unvorhersehbar ergänzt von Augusto Aguilar, der immer die Lacher auf seiner Seite haben wird. Cristina Gálvez hat eine in der Höhe leuchtende, in der tiefen Mittellage ganz besonders kernig ausdrucksvolle Stimme, der man gerne ein Konzert lang folgt (zwei reine Instrumentalstücke sorgten zugleich für zusätzliche Abwechslung) und die in ihrer im schönen Sinne leicht herben und sehr ausdrucksstarken Art in Erinnerung bleibt. Juan José Chuquisengo ist zwar ein berühmter Solist, hier jedoch ein vollendeter Teamplayer, der sich über weite Stecken so vollendet einpasst, dass man seine Anwesenheit glatt übersehen könnte, würde er nicht in feinst abgestufter und abgetönter Gestaltung am laufenden Band subtile pianistische Wunder vollbringen. Augusto Aguilar verkörpert am unmittelbarsten den Typus des mit allen Wassern gewaschenen Routiniers im besten, spontanen Sinne, mit einer immer fesselnden physischen Präsenz und auf allen Instrumenten, mit denen er sich einbringt, bestens zuhause. Und Christos Asonitis verleiht dem Schlagzeugapparat eine Vielseitigkeit, wie man sie nicht oft hört. Mag im ersten Stück des Abends der eine oder andere noch ein bisschen ‚warming up’ gespürt haben, so war das Quartett schnell vollendet in Fahrt und wartete mit immer unwiderstehlicher mitreißendem Groove auf – in den flinken, unübertrefflich eleganten Stücken, wie sie fürs brasilianische Repertoire so bezeichnend, aber auch im kolumbianischen zu finden sind, ebenso wie in den innigen, wehmütigen Nummern aus Argentinien, Chile, Peru oder Cuba. Peruanische Walzer mögen in Lateinamerika populär sein – wir Europäer kennen so etwas meist noch gar nicht und dürfen es hier in zauberhaftester Weise kennenlernen. Die farbenprächtige Authentizität eines ganzen Kontinents, den die Demütigung durch die christlichen Kolonisatoren eint, kommt in ihrer unerschöpflichen Fülle zur Entfaltung. Was auch immer von den vieren angefasst wird, entfaltet suggestive Authentizität und lässt das Publikum nicht mehr los. Kein Wunder, dass dieses dann auch am Ende nicht mehr nach Hause gehen will.

Neben der musikalischen Seite ist die menschliche besonders bemerkenswert: so ernsthaft, freudig, feurig, brillant und souverän die vier Musiker agieren, so ist nicht ein Anflug von Prätention bei ihnen festzustellen, und auch keine oberflächliche Euphorie. Die Professionalität wurde nicht um den Preis der Spontaneität und Lebendigkeit errungen, und das Zuhören hat sowohl eine animierende als auch eine erfüllende, sowohl eine erdende als auch eine erhebende Wirkung auf das Publikum. Besseres lässt sich von einem Konzertabend nicht sagen.

[Ernst Richter, Januar 2017]

Alles von wild bis berückend zart

Konzert vom Sonntag, den 27. November 2016  19 Uhr; Herkulessaal der Münchner Residenz

Symphonieorchester Wilde Gungl München; Margarita Oganesjan, Klavier, Doren Dinglinger, Violine, Uladzimir Sinkevich, Violoncello; Michele Carulli, Dirigent

Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester (Tripelkonzert) C-Dur op. 56; Johannes Brahms: Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68

Photo Matthias Hallensleben
Photo Matthias Hallensleben

Die allererste Frage nach dem Tripelkonzert von Beethoven: Warum, unbegreiflicherweise, hört man diese wundervolle Musik nicht viel öfter im Konzertsaal?  Oder, etwas „cooler“ gefragt: Was ist besser als ein Solist? Eben deren drei, noch dazu von derart exquisitem Zuschnitt wie an diesem Abend. Dass Michele Carulli die Wilde Gungl und sich selbst hinter die drei Solisten postierte – übrigens auf seinen Wunsch, um dem Trio das bessere Zusammenspiel zu ermöglichen –, führte zwar an einigen Stellen zu leichten Irritationen, ist jedoch dennoch bemerkenswert. Und diese beeindruckende Musik unmittelbar beim Entstehen erleben zu können, ist jedesmal ein solches Erlebnis, damit kommt keine noch so gute und perfekte CD mit. Live is Life! Und die Musiker des Orchesters begleiteten die Solisten mit äußerster Intensität und bereiteten ihnen das wünschenswert obligate „Silbertablett“. Michele Carulli dirigierte wie immer mit Leib und Seele, befeuerte seine Instrumentalisten und brachte vor allem wieder einmal die Streichergruppen zum Blühen und zum Klingen. Besonders schön gelang der zweite Satz, das melodiöse Largo, in dem der Cellist zu Hochform auflief. Was allerdings nicht heißen soll, dass die anderen beiden Solisten es ihm nicht gleich getan hätten. Aber die dem Cello einkomponierte Kantilene ist eben besonders beeindruckend und war bei Uladzmir Sinkevich in allerbesten Händen. Margarita Oganesian, die in München schon des öfteren zu hören war, ist eine wunderbare Musikerin, die den Klavierpart nicht nur bravourös spielte, auch das Zusammenspiel der drei war großartig, wozu die Geigerin Doren Dinglinger ihre silberne Geige bestechend ins Spiel brachte. Intensiver Applaus und Blumen….

Nach der Pause stand ein Koloss auf dem ambitionierten Programm: Die erste Symphonie in c-moll op. 68 von Johannes Brahms. Im – im Ticketpreis inbegriffenen – Programmheft war über die vielen Skrupel des Komponisten zu lesen, mit denen die Entstehung seiner späten „Ersten“ befrachtet war. Nach der Aufführung wurde mir klar, warum Arnold Schönberg sich immer auch als Nachfolger und in der Tradition von Brahms stehen sah: So kühn und modern ist sie eben auch heute noch, diese Symphonie.

Nicht, weil sie ein wirklich großes Orchester verlangt mit Kontrafagott, vier Hörnern und drei Posaunen, wobei letztere bis zum letzten Satz warten müssen. Was  den Musikerinnen und Musikern da abverlangt wird, geht hart an die Grenze, da ist nicht mehr von Amateurorchester oder Laienspielern die Rede, da wird alles gefordert, auch vom Dirigenten – der „seine“ Wilde Gungl mit Feuereifer und vollem Körpereinsatz zum Entstehen dieses Werkes anleitete und anregte. Vom wilden Fortissimo bis zum sanftesten Pianissimo ist alles vertreten, bis hin zu den schönsten Klängen oder der berückenden, wohlbekannten Melodie im letzten Satz. Seine „kontrapunktischen Kunststücke“, wie sie Eduard Hanslick bemängelte, machten dessen Urteil nach der Wiener Erstaufführung nicht schlechter, im Gegenteil, er lobte sie als eines der „eigentümlichsten und großartigsten Werke der Sinfonieliteratur.“

Langanhaltender Beifall, wiederholtes Erscheinen des Dirigenten, der dann per Handschlag sich bei allen besonders geforderten Orchester-Solisten – Hörner, Bläser, Pauke usw. – bedankte und seiner Begeisterung mit einer Zugabe – einem Teil aus dem vierten Satz – freien Lauf ließ.

Ein Abend, der wieder einmal zeigte, zu welchem Niveau die Liebe zur Musik und die Arbeit an der Musik im Stande sind. Das Orchester „Wilde Gungl“ ist unter seinem neuen Dirigenten Michele Carulli wieder ein großes Stück gewachsen, was das zahlreich erschienene Publikum begeistert und dankend zu Kenntnis nahm und nimmt.

Ceterum censeo: Es wird Zeit, dass das verschlafene Münchner Zeitungsfeuilleton die „Wilde Gungl“ und ihre Konzerte endlich einmal zur Kenntnis nimmt. Auch das gehört zur Aufgabe einer Münchner Zeitung!

[Ulrich Hermann, November 2016]

Höher, schneller, weiter – Vier junge Pianisten beim Münchner Prokof’ev-Klaviersonaten-Marathon

Möglichst viel möglichst billig – das scheint beim Münchner Publikum nicht zu ziehen. Aus welchen Gründen auch immer, die Philharmonie im Gasteig war kaum zur Hälfte besetzt beim Prokof’ev-Klaviersonaten-Marathon im Rahmen des Festivals MPHIL 360°. Vielleicht ist ‚Marathon‘ nicht unbedingt die geschickteste Vokabel, um dem Publikum ein Konzertereignis schmackhaft zu machen. Ich habe die zwei Konzerte am Samstag Nachmittag, bei denen vier Pianisten das gesamte Klaviersonaten-Œuvre Prokof’evs spielten, jedenfalls nicht als Marathon empfunden. Das liegt an der Vielgestaltigkeit und dem Abwechslungsreichtum innerhalb des Prokof’evschen Sonatenschaffens, das zugleich seinen Autor nie verleugnet. Es zeichnet fast die gesamte Biographie des Komponisten nach und daneben auch ein gutes Stück Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist ein wahrer Kosmos, der in mehrerlei Hinsicht einzigartig dasteht und in pianistischer Schwierigkeit, kompositorischer Originalität und Konsequenz höchstens noch mit Skrjabins zehn Sonaten zu vergleichen ist.

Den sportlichen Aspekt brachten dann aber doch die Interpreten hinein: allesamt junge Männer der Marke No-Name, wenn man das Pianisten-Business global betrachtet, hungrig nach Profilierung im harten Geschäft, voller Enthusiasmus und sicher auch Testosteron, was die Veranstaltung in einen wahren Pianistenkrieg verwandelte. Und man vergleicht dann doch immer. ‚Höher, schneller, weiter‘ schien auch das Motto ihrer Interpretationen zu sein. Kein Satz, der nicht im Maximaltempo und mit maximalem Wumms genommen wurde, ein piano ohne Pathos gab es diesen Nachmittag einfach nicht.

Der erste Pianist des Nachmittags, Dmitry Masleev kam, sah und pedalisierte. Sobald er mit großer Zielsicherheit am Flügel platzgenommen hatte, stand sein Fuß schon auf dem rechten Pedal und blieb dort auch für den Rest seiner Darbietung. Die Sonaten eins bis drei waren dann auch wie aus einem Guss. Nach der nur einsätzigen Nummer eins vergisst das Publikum zu klatschen. Egal, weiter. Bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Da saß kein schlechter Pianist, ganz im Gegenteil. Stupende Fingertechnik verlor sich aber in einer Klangwolke, über die sich nur einzelne Sforzato-Spitzen vernehmbar zu erheben vermochten. Das liegt vielleicht auch daran, dass ausschließlich Fingertechnik zum Einsatz kam und all die Möglichkeiten, die der Pianistenkörper vom Handgelenk an sonst noch bietet, ungenutzt blieben. Seine Stärken spielte Masleev aus, wo es grotesk und abgründig wird, wie im Scherzo der zweiten Sonate und vor allem in deren Schlusssatz – da ist bereits alles da, was Prokof’ev ausmacht.

Sein Scarlatti schoss aber den Vogel ab. Man traute seinen Ohren kaum, dieser Scarlatti könnte Prokof’evs Bruder sein: keinerlei Unterschied, ungebremste Wucht. Man meinte nicht Domenico zu hören, sondern irgendeinen Herrn Scarlatti vom Roten Platz. Überhaupt, das ist auch so ein diskussionswürdiger Punkt: die Programmplanung, die den Prokof’ev-Nachmittag mit Scarlatti-Sonaten durchspickte, welche einst als Einspiel-Übung von Vladimir Horowitz geschmäht wurden. Es war wohl kaum so, dass vier Pianisten mit der Idee kamen, dass ein jeder Scarlatti als Zugabe spielen könnte. Vielmehr wird sich ein Heißsporn von einem Konzertdramaturgen gedacht haben: Hey, das wäre doch cool, wenn wir auch noch Scarlatti spielten. Wer bei Verstand ist, den wird die Frage nicht mehr loslassen, was das soll. Aufmerksamkeit um jeden Preis.

Nein, im Ernst: Die Prokof’evsche Wucht verlangt ja schon nach Abwechslung, wäre wahrscheinlich ohne sie viel schwerer zu ertragen. Und die Scarlatti-Sonaten waren auch ein Lackmustest, der die verschiedenen (oder auch ähnlichen) Temperamente der vier Pianisten offenbarte. Und doch wurde es mit jeder Scarlatti-Sonate langweiliger, im Schatten der Prokof’evschen Komplexität verblassten sie ziemlich schnell.

Die Sonaten eins bis sechs bilden einen unentrinnbaren Abwärtssog aus, unterbrochen höchstens von der fünften. Dem amerikanischen Pianisten George Li fiel die etwas unangenehme Aufgabe zu, zwei geradzahlige Sonaten aus dieser Gruppe zu interpretieren. Ich notiere meine nächste Frage an die Programm-Dramaturgie, die mich beschäftigt: wieso die zusammengehörende dritte und vierte Sonate auseinandergerissen wurden. Die merkwürdig zurückgenommene vierte ist leider die wohl am wenigsten eingängige der Sonaten Prokof’evs. Es folgte die sechste, eine der längsten und schwersten, wenn sich das überhaupt über eine im Prokof’ev-Kosmos sagen lässt. Der Pianist schuftete sich durch diese Herkulesaufgabe mit bravouröser Meisterschaft, die keinen Wunsch offen lässt. Anschließend kommt sein Scarlatti so perlend daher wie ein Mozart, so wie er eben sein soll, als hätte es die gerade erst verklungenen Monstrositäten nie gegeben. Das ist fast zu viel der Perfektion.

Lukas Geniušas gibt am Klavier ein imposantes Bild ab. Sein Spiel ist nicht unbeteiligt, doch ungemein geerdet. Mit der fünften Sonate kommt Prokof’ev dem am nächsten, was als Westliche Moderne angesehen wird, zu der man aber beispielsweise auch Karol Szymanowski zählen müsste. Sie ist von geradezu quälender, unerbittlicher Klarheit und Geniušas spielt sie nicht ohne die erforderliche Schärfe. Apropos Klarheit: seiner höchst ausdifferenzierten Pedaltechnik ist zu verdanken, dass kein einziger Ton unter den Tisch fällt, sondern dass ein jeder plastisch dasteht. Auch er begnügt sich für sein Spiel vorwiegend mit der Aktivität der Fingerspitzen, doch da wo es erforderlich wird, scheint er rhythmisch auf der Klavierbank auf und ab zu hopsen, mit seinem ganzen Gewicht in die Tasten gelehnt.

Der erste Satz der siebten Sonate, Mitten im Krieg entstanden, bringt Rhythmen einer verkehrten Welt. Selbst den berühmten Precipitato-Satz spielt Geniušas so locker-flockig, dass man sich irgendeinen Widerstand herbeiwünscht, nicht aus Gehässigkeit, sondern weil sich am Widerstand bekanntlich die Kräfte entfalten – man möchte nur zu gerne wissen, wohin die volle Entfaltung noch führen könnte. Der Jubel des Publikums entlockt ihm nur ein betont entspanntes Lächeln, so als möchte er uns sagen, dass er gleich mit den nächsten zwei Sonaten weitermachen könnte. Wie die meisten jungen Pianisten dieser Liga können sich unsere vier Kandidaten damit rühmen, renommierte Wettbewerbe wie den Čajkovskij-Wettbewerb – im Falle von Geniušas auch den Chopin-Wettbewerb –, aus der Nähe erlebt oder gewonnen zu haben. Geniušas erscheint mir noch in dieser Gesellschaft als Ausnahme-Talent, vor allem aufgrund der Präzision seines Spiels.

Mit der [für Emil Gilels komponierten] achten Sonate beginnt bereits eine Retrospektive: alles scheint irgendwie im Modus des Uneigentlichen ausgesprochen. Der polternde Schluss der achten Sonate wäre gar nicht nötig gewesen, er wirkt wie angenäht. Im ersten Satz hat Prokof’ev als Schluss ein Entschweben nach oben hin – hier noch augenzwinkernd – erprobt und dann im zweiten Satz der neunten erneut angewandt. Die neunte Sonate mit ihrem nach außen gekehrten Neoklassizismus ist weder als bewusster Schlusspunkt noch als ein Ausrufezeichen konzipiert. Sie führt den Weg fort, der mit den letzten drei Sonaten eröffnet wurde, nicht unbedingt zu noch mehr Virtuosität, sondern zu noch größerer Verinnerlichung – so das nicht paradox klingt –, zu einer schlafwandlerischen Sicherheit der weiten Bögen, kurz zu größerer kompositorischer Qualität. Der Interpret dieser Glanzlichter heißt Sergej Redkin, ein ganz anderes Temperament diesmal, er wirkt wie ein schlaksiger Junge. Noch den Scarlatti spielt er mit einer Art nervöser Feinheit als handele es sich um eine der traumartigen Offenbarungs-Musiken des fin de siècle.

Im direkten Vergleich braucht es eine besondere Individualität, um sich von den anderen Pianisten, die auch alle ganz hervorragend sind, abzuheben. Sicherlich ist ein solcher Vergleich ungerecht, denn wann teilt sich ein Pianist schon ein Solo-Programm in einem Konzert mit seinem Kollegen. In einem Soloprogramm allein wären vielleicht ganz andere Qualitäten aufgefallen. Würde die Qualität von Musik an der Anstrengung für alle Beteiligten gemessen, dann wäre es ein großartiges Konzertereignis gewesen. Nicht, dass man hätte Tiefe missen müssen, dass uns mit dieser großen Musik nicht große Fragen gestellt würden, aber letzten Endes war es mehr eine Pianisten-Show als alles andere, was auch am sportlichen Zugriff der jungen Männer auf die Werke liegt. Die Mitschnitte sind auf medici.tv online, sodass sich jeder selbst ein Bild (freilich abzüglich der live vorhandenen Konzertsaalatmosphäre) machen kann.

[David Vondráček, November 2016]